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Verwundbar


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viel Zeit mit dem Moment verbracht, in dem die Angstreaktion am größten war. So gelingt es – wie auch bei anderen Expositionen, beispielsweise bei Phobien – bereits während der ersten Exposition, eine Abnahme der Angstreaktion hervorzurufen. Eine dieser Logik folgenden und in Therapie entstandene Narration könnte wie folgt lauten:

      5. Traumatisches Ereignis, erlebt von Amer2

      „Ich war 17 Jahre alt. Es war drei Wochen vor Ostern. Seit sechs Monaten war ich schon unterwegs. Es war noch kalt in der Türkei. Wir sind nachts zu einem Strand gefahren; erst mit einem Bus, dann ging es weiter zu Fuß. Dort am Strand hat man das Geräusch vom Wasser gehört. Wir waren insgesamt dreizehn Leute. Die anderen waren auch aus Syrien. Jeder hatte eine Weste an. Als ich die orange Weste angezogen habe, hatte ich die Sorge ‚Wie werden wir das Wasser überqueren?‘ (…) Wir haben das Boot aufgepumpt und sind los. Bis 3.00 Uhr nachts sind wir einfach gerudert. Zuerst war alles ok. Aber dann kam Wind. Die Wellen waren immer stärker. Bei manchen Wellen ist auch Wasser ins Boot gekommen. Ich hatte große Angst. (…) Wir hatten vorher ordentlich im Takt gerudert, aber als die Wellen kamen, war alles ganz durcheinander. Am Anfang von dem Sturm haben wir noch gesagt; Wir müssen schneller rudern, dass wir schneller ankommen.‘ Einer von den anderen hat erbrochen. Von dem säuerlichen Geruch wurde mir schlecht. (…) Ich spürte, wie der Wind an meiner dünnen Jacke zerrte. Mir war kalt. Im Gesicht spürte ich das kalte Wasser. Mein Herz schlug schnell. Wir waren mitten im Meer und im Sturm, und es war keiner da, der uns helfen konnte. Wir haben oft geschrien ‚Was sollen wir tun?‘ Ich habe gedacht: ‚Jetzt ist alles vorbei.‘ Ich hatte Angst zu sterben. Die Angst habe ich im ganzen Körper gespürt. (…) In dem Sturm habe ich vor allem das Wasser gehört, aber auch die Stimmen der anderen. Jeder schrie vor Angst. Als die große Welle kam, ist meine Seite vom Boot hochgegangen. Es gab nichts, an dem ich mich festhalten konnte. Ich habe noch gedacht: ‚Jetzt werde ich ertrinken.‘ Dann war ich unter Wasser. Durch die Rettungsweste bin ich wieder hochgekommen, aber dann gleich wieder unter das Wasser gekommen. Ich habe viel Wasser geschluckt, und musste auch viel husten. Im Mund hatte ich den bitter-salzigen Geschmack vom Wasser. Ich habe gedacht: ‚Jetzt sterbe ich.‘ Ich hatte keine Kraft mehr und konnte mich nicht mehr bewegen. Meine Beine und meine Hände waren eiskalt. (…) Von den Wellen und der Strömung wurde ich in Richtung Land getrieben. Da standen Leute, und irgendwann haben sie mich gesehen. Sie haben geschrien, und als ich das gehört habe, war ich erleichtert. Ich habe gedacht: ‚Ich werde gerettet.‘ (…) Sie brachten mich an Land, und haben dort Feuer gemacht. Das Feuer war ganz nah an mir dran, das war ein gutes Gefühl. Allmählich konnte ich die Wärme spüren. Ganz langsam konnte ich auch meinen Körper wieder bewegen. Ich musste viel husten. Ich habe den Geruch von dem Holzfeuer gerochen. Die Angst war immer noch da in meinem Körper, aber weniger. Zwei bis drei Stunden war ich dort an dem Feuer. Allmählich konnte ich meine Hände und Beine wieder bewegen. Es wurden noch drei andere gerettet und auch zu mir ans Feuer gebracht. Als wir uns mit der Zeit wieder bewegen und sprechen konnten, haben wir gefragt: ‚Wo sind die anderen?‘ Keiner wusste es. (…) Dann wurden wir vom Roten Kreuz versorgt. “

      Die so entstandene Narration, eine Topographie des eigenen Lebens, wird von der Therapeutin/dem Therapeuten verschriftlicht und in der folgenden Sitzung vorgelesen. Das nochmalige Vorlesen dient vor allem der Habituation, einer in der Expositionstherapie regelmäßig genutzten Gewöhnungsreaktion an einen aversiven Stimulus: Bei der ersten Exposition hat der Patient/die Patientin bereits einmal erlebt, dass er/sie es schaffen kann, das traumatische Ereignis vollständig zu berichten, und dabei die Angst zwar zu spüren und wieder zu erleben, aber ihr nicht hilflos ausgeliefert sein und in ihr verhaftet zu bleiben. Darum ist es unabdingbar, eine Geschichte bis zu ihrem Ende, dem relativ sicheren Moment, erzählen zu lassen. Beim nochmaligen Vorlesen kommt es zur erneuten Habituation, d.h. die Angstreaktion auf den aversiven Stimulus, auf die eigene Geschichte, steigt nicht mehr so stark an wie beim ersten Mal. Anschließend an das Vorlesen wird das nächste traumatische Ereignis in gleicher Weise bearbeitet. So wird die Therapie fortgeführt, bis ein komplettes Dokument über die Biographie des Patienten/der Patientin entstanden ist. Die Erinnerung an die traumatischen Ereignisse wird also nicht gelöscht oder verdrängt – wie es von Patienten und Patientinnen oft gewünscht wird – sondern in den eigenen autobiographischen Kontext integriert. Die eigene Verwundbarkeit bleibt präsent, und die Erinnerungen bleiben – doch nun nicht mehr als schmerzende und eiternde Wunden, sondern als Narben, die bezeugen, was geschehen ist.

      Zum Abschluss der Therapie wird die Lebenslinie erneut gelegt; anschließend wird die Narration von allen Anwesenden (Patient/Patientin, Therapeut/Therapeutin, ggf. Dolmetscher/Dolmetscherin) unterschrieben und – wenn gewünscht – übergeben.

      6. Wirksamkeit der Narrativen Expositionstherapie

      Randomisiert kontrolliert durchgeführte Studien haben von Beginn an die Anwendung und (Weiter-) Entwicklung der NET begleitet. Inzwischen liegen Daten für die Behandlung verschiedener Personengruppen mit NET vor, u.a. Opfer häuslicher Gewalt, Folterüberlebende, Geflüchtete, Überlebende des zweiten Weltkriegs, und ehemaligen Kindersoldaten. Für die Reduktion der Symptome einer PTBS zeigen sich durchgängig im Vergleich zu anderen Therapieverfahren und Wartegruppenbedingungen hohe Effektstärken (Robjant & Fazel 2010; Jacob et al. 2017; Lely et al. 2019). Neben der Reduktion der PTBS-Symptomatik wurden in manchen Studien auch Reduktionen komorbider Störungsbilder (Depression, Suizidalität, somatische Beschwerden) festgestellt (Jacob et al. 2017; Kaltenbach et al. 2018; Lely et al. 2019).

      7. Zusammenfassung und Ausblick

      „Trauma“ beschreibt im klinischen Sinne Ereignisse, in denen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit einer Person unmittelbar bedroht oder verletzt wurde; sie können selbst erlebt werden, direkt oder indirekt bezeugt werden, oder im beruflichen Kontext durch wiederholte und extreme Auseinandersetzung mit belastenden Details traumatischer Ereignisse auftreten. Die Genese und die Symptome einer PTBS sind vor dem Hintergrund des Building Block Effekts, des Furchtnetzwerks, und der Neurobiologie des autobiographischen Gedächtnisses erklärbar. Die Narrative Expositionstherapie ist ein interkulturell valides und evidenzbasiertes Kurzzeitverfahren für die Behandlung von Menschen, die multipel und sequenziell traumatisiert sind. Durch Expositionssitzungen und Habituationsreaktionen gelingt die Verarbeitung und Integration der traumatischen Ereignisse, sodass die eigene Lebensgeschichte wieder erzählt werden kann und der sprachlose Schrecken überwunden wird.

      Seit Menschengedenken erleben wir traumatische Ereignisse. Auch der Verlust der Heimat wurde bereits in den ältesten Schriften beschrieben. Immer wieder werden wir mit traumatischen Ereignissen und ihren Folgen konfrontiert – sei es als Opfer, als Zeuge/Zeugin, oder als Täter/Täterin. Und doch bemühen sich zahlreiche Menschen, die Konfrontation mit traumatisierten Menschen zu vermeiden. Durch Schweigen, durch Wegsehen, durch fragwürdige Praktiken im Grenzschutz… und durch Verfahren, die den Grundsatz der Seenotrettung in Frage stellen. Wenn die Wellen hochschlagen – wer wünscht sich nicht, und wem sei es nicht vergönnt, einen guten Ausgang des Sturmes zu erleben?

       „Und siehe, es erhob sich auf dem See ein gewaltiger Sturm, sodass das Boot von den Wellen überflutet wurde. Jesus aber schlief. Da traten die Jünger zu ihm und weckten ihn; sie riefen: Herr, rette uns, wir gehen zugrunde!“ (Matthäus 8, 24-25).

      1 Der vorliegende Beitrag ist in ähnlicher Form erschienen: Trauma, PTBS und Narrative Expositionstherapie – den sprachlosen Schrecken überwinden. Blickpunkt EFL-Beratung, 41 (modern times – Beziehung und Bindung heute), S. 58-67.

      2 Name geändert, Geflüchteter aus Syrien, erarbeitet in einer NET-Sitzung.

      Migration und Flucht – im Spannungsfeld von Trauma, Kreativität und Resilienz

      Wenn Menschen vor Krieg und Verfolgung, Hunger und Gewalt fliehen, sind sie bereits Verwundete. Doch ihre Vulnerabilität steigert sich nochmals erheblich durch die Gefahren, die auf ihren Fluchtwegen lauern. Die unzähligen Toten im Mittelmeer bezeugen dies. Welche Gefahr drohende Rechtlosigkeit birgt, beschreibt die Pädagogin Melissa Silva mit Rückgriff auf Hannah Arendt. Und der Moraltheologe Bernhard Kohl zeigt im Vergleich von Kanada und Deutschland, welche Bedeutung Narrative zur Migration in Staaten haben, die geflüchtete Menschen aufnehmen.