Schmerz, in einer Ethik der absoluten Gewaltlosigkeit einen wesentlichen Punkt, indem die Trauer zur Ressource für Politik wird: „Vielleicht würden wir dann die Bedingungen, unter denen bestimmte Menschenleben verletzbarer sind als andere und demzufolge auch betrauernswerter, kritischer beurteilen und ablehnen. Woher sonst sollte ein Grundsatz kommen, mit dem wir geloben, andere vor solcher Gewalt zu schützen, wie wir sie erlitten haben, wenn nicht aus dem Verständnis einer allen gemeinsamen Verletzbarkeit?“ (Butler 2005, 47). Somit stellt die Trauer eine motivationale Ressource für die Anerkennung des Anderen in seiner Verletzbarkeit dar. Eine gemeinsame Vorstellung vom Menschen kann also in seiner Verletzbarkeit liegen. Diese Verletzbarkeit entsteht nach Butler, obwohl ihre Quelle nicht auszumachen ist, mit dem Leben selbst, sie ist eine Bedingung und Voraussetzung des Lebens und geht der Ausbildung des Ichs voraus (Butler 2005, 48). Verletzungserfahrungen bieten die Gelegenheit, über Verletzungen, deren Mechanismen, deren Folgen und deren Abwendung nachzudenken und sich letztendlich eine Welt vorzustellen, in der solche Gewalt minimiert werden könnte und in der gleichzeitig „eine unausweichliche wechselseitige Abhängigkeit als Basis für die politische Weltgesellschaft anerkannt“ ist (Butler 2005, 8).
4. Verletzbarkeit als Chance zur Resignifikation
Verallgemeinert kann man sagen, dass allen Menschen die Erfahrung von Verlust gemeinsam ist, dass alle Menschen aufgrund der verwundbaren Verfasstheit ihrer Körper insofern politisch sind, als dass wir an andere gebunden sind, ihnen gegenüber ungeschützt und aufgrund dieser Ungeschütztheit durch Gewalt gefährdet sind (Butler 2005, 36f.). Hieraus resultiert bei Butler der Imperativ das Gefährdetsein, der quasi normative Impuls, die Verletzbarkeit des Menschlichen überhaupt wahrzunehmen (Lévinas 2011).
Unter dem Titel „Resignifizierung“ führt Butler nun einen performativen Prozess in ihre Konzeption ein, der eine Möglichkeit bietet, der Macht von verletzenden Akten und verletzenden sprachlichen Äußerungen mit Sprache selber entgegenzutreten. Die Veränderung von Ordnungen ist demnach nur aus dem Diskurssystem einer Gesellschaft selbst heraus möglich. Der Strukturzusammenhang des Diskurses birgt selber eine Dynamik, die eine identische Reproduktion eben dieses Strukturzusammenhangs verunmöglicht (Butler & Meißner 2012, 34f). Das bedeutet: Dadurch, dass verletzendes Sprechen in bestimmte Kontexte eingebunden ist, wird es im eigenen Diskurs zum Zitat und führt somit zum Bruch mit seinem früheren Kontext bzw. erhält einen neuen Kontext, für den es ursprünglich nicht bestimmt war. So kann bspw. rassistische Sprache als Teil eines Unterrichtscurriculums nur thematisiert werden, wenn dabei auch konkrete Beispiele verletzender, rassistischer Sprache angeführt werden – verbunden mit der Gefahr, dadurch auch schwierige Erregungen wachzurufen. Andererseits besteht aber durch diese Zitation bzw. Rezirkulation der verletzenden Rede in einem anderen Diskurs die Möglichkeit und Chance der Resignifizierung.
Zum Schluss ein kurzer Blick zurück zu den eingangs erwähnten Narrativen über geflüchtet Menschen. Keine Gesellschaft, kein Mensch kommt ohne Narrative, ohne Erzählungen aus. Es muss aber darum gehen, nicht fixierende, sondern öffnende bzw. offenhaltende Narrative zu entwickeln und zu erzählen.
1 So bspw. der kanadische Premierminister Justin Trudeau in einer Rede in London am 26.11.2015. https://pm.gc.ca/eng/news/2015/11/26/diversity-canadas-strength [letzter Aufruf: 07.04.2019].
2 Chris Cannon, Brian Calvert, America, but better: The Canada Party Manifesto, Vancouver, Toronto, Berkeley 2012.
3 Ganz zu schweigen von der systemischen und teils drastischen Diskriminierung der indigenen Bevölkerungsteile. Vgl. hierzu den Jahresbericht 2017/2018 von Amnesty International: https://www.amnesty.de/jahresbericht/2018/kanada#section-3517771 [letzter Aufruf: 07.04.2019].
4 Vgl. hierzu auch Michael Hardt, Antonio Negri, Assembly. Die neue demokratische Ordnung, Frankfurt/New York 2018, insbesondere Kapitel 1-3.
5 So der CSU-Politiker und Parlamentarische Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Stephan Mayer. https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-07/asylpolitik-cdu-csu-verteidigentransitzentren [letzter Aufruf: 07.04.2019].
6 Vgl. Aufenthaltsgesetz § 13 Abs. 2 Satz 2.
7 Art. 13 AEMR: (1) Jeder hat das Recht, sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen. (2) Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.
Melissa Silva
Flucht als Folge menschlicher Vulnerabilität – was Hannah Arendts „Flüchtlings-Begriff“ in aktuellen Migrationsdebatten zu sagen hat
Der aufmerksame Blick in die Vergangenheit zeigt, dass die von bestimmten Parteien als originär, als Ausdruck der Meinungsfreiheit, des Enthüllens von Wahrheiten und des man-wird-doch-noch-sagen-dürfens bemühten Argumente alle schon gesagt sind. Immer schon wurde mit Rassismus, Kulturalismus und der Konstruktion von „minderwertigen Anderen“ Politik gemacht. Dabei sind nicht mal Wortwahl, Argumente oder der Umgang mit der „Zurückweisung an den Grenzen“ originelle, neue Lösungen. Denn wenn heute von „Asyltourismus“ (Joachim Herrmann & Markus Söder) und „Shuttle-Service“ (Stephan Mayer) gesprochen wird, wo Menschen unter menschenunwürdigsten Bedingungen fliehen, oder von „Menschenfleisch“ (Matteo Salvini), wo es um Väter, Söhne, Mütter, Töchter also schlicht Menschen geht, die um ihr Überleben kämpfen, dann stehen diese Politiker und Politikerinnen in einer langen Tradition der Instrumentalisierung des Sprechens über Flüchtlinge, für ihre Herrschaftsansprüche.
Im Folgenden werde ich den Begriff „Flüchtling“ verwenden, obgleich ich es sonst in Bezug auf bestimmte Personengruppen für geboten halte den, wenn auch gleichfalls nicht problemlosen Begriff, Geflüchtete zu verwenden. Hier soll aber mit der Figur „des Flüchtlings“ eben gerade nicht eine reale Person oder Personengruppe benannt werden. Es soll vielmehr um das soziale Konstrukt gehen, auf das der Begriff „Flüchtling“ verweist, sowie um den wirkmächtigen rechtlichen und gesellschaftlichen Diskurs, der sich an diesen Begriff knüpft. Die Differenz zwischen Diskurs und den von ihm benannten Personen verweist dabei auf die Macht, die vom Diskurs ausgeht: Er gibt den Rahmen vor, in und zu dem die Subjekte, die von ihm betroffen sind, sich verhalten müssen oder den es zu überwinden gilt.
Ich möchte also an dieser Stelle – als Mensch ohne eigene Fluchterfahrung – nicht im Sinne einer Anmaßung oder Essentialisierung, irgendetwas über den gemeinsamen Nenner der Fluchterfahrung, der die Gruppe der Flüchtlinge konstituiert, aussagen. Ich möchte nicht in aneignender Weise über die sprechen, die hier nicht anwesend sind, sondern über den Rahmen, der über den genannten Diskurs und die rechtliche Situation vorgegeben wird. Dafür beziehe ich mich auf den rechtlichen Status, der sich aus dem Flüchtling-sein ergibt, und auf das politische und mediale Reden über „Flüchtlinge“. Wo sich Politik und Gesellschaft handelnd auf den Begriff „Flüchtling“ in seiner gegenwärtigen Konnotation beziehen, wird er für die damit Bezeichneten wirksam.
Flucht als eine menschliche Praxis entspringt der Tatsache, dass wir als Menschen in Gesellschaft Situationen ausgesetzt sein können, denen wir uns entziehen wollen, um einem Schaden oder weiterem Schaden zu entgehen. Dieses Bedürfnis, sich an Orten aufzuhalten, die Sicherheit bieten und Partizipation an einer gesellschaftlichen Ordnung zulassen, scheint trivial, dennoch steht es heute grundsätzlich in Frage. Dagegen kann der völker- und europarechtlich sowie im Grundgesetzt verankerte Flüchtlingsschutz als Ausdruck der Anerkennung menschlicher Vulnerabilität im Angesicht konkreter gesellschaftlicher Missverhältnisse gelesen werden. Interessant scheint dabei der zeitgeschichtliche Kontext, in den diese Anerkennung fällt.
Der Autorin bell hooks zufolge lohnt sich der Blick in die Geschichte, wenn aus ihr ein Erinnern hervorgeht, das geeignet ist, „die Gegenwart zu erhellen und zu transformieren“ (hooks 1996, 148). Neben dem Anspruch, aus Geschichte heraus Gegenwart zu verstehen, stellt hooks damit auch die Forderung auf, dass auf dieses Verstehen