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Verwundbar


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zur Mutter (Crittenden 1995; sowie im vorliegenden Band Thomas Müller: Familien zwischen Bindung, Verstrickung und Verrat). Bereits mit sieben Jahre wurde er nächtelang alleine gelassen („Ich hatte kaum Kontakt zu meiner Mutter, weil meine Mutter sich natürlich nur für ihren neuen Mann interessiert hat“) und seine Mutter wurde ihm gegenüber gewalttätig („Meine Mutter ist ausgeflippt und hat mich mit Brockhaus (sic!) den Kopf eingeschlagen“). In seiner Wahrnehmung gab es nach der Trennung seiner Eltern keine Liebe und Zuwendung mehr („Da gibts keine Liebe, also brauchte ich auch keine Liebe erwarten“). Er wurde bereits früh delinquent und erfuhr in der Reaktion darauf widersprüchliches Erziehungsverhalten:

       „Ich war klein, vier bis fünf. Hab unten bei Reichelt geklaut, Schokolade, dann gabs Ärger, nen Arschvoll und danach leckere Spaghetti Bolognese mit einem Salat, und ich konnte nicht essen, weil ich nicht sitzen konnte.“

      5.2 Straftat und Konversion in der Haft

      Im Alter von 18 Jahren wurde Max wegen versuchten Totschlags unter Drogeneinfluss zu knapp drei Jahren Haft verurteilt. Er hatte mit 17 Jahren dem neuen Freund seiner Freundin – mit der er ein Kind hatte und eine Familie gründen wollte – vor der Haustür aufgelauert und ihn krankenhausreif geprügelt. Im Gefängnis ist er auf der Suche nach Gemeinschaft, denn „das Schlimmste, das es in der Haft nämlich geben kann, ist alleine zu sein, ohne jeglichen Schutz“. Das Moment der kognitiven Öffnung war demnach die Suche nach Schutz in der Gruppe, deren Anziehungskraft er folgendermaßen beschreibt: „Wenn du reinkommst, scheint alles erst mal super zu sein. Hast direkt Freunde, hast jemanden, an den du dich wenden kannst und kannst reden. Das hast du dann alles und es wirkt erst mal schön. Alles wird dir schöngeredet. Dann gehörst du halt dazu.“

      Ein Zellennachbar brachte ihm den Islam nahe. Von ihm lernte er religiöse Rituale kennen, er führte in der Folgezeit die kleine und große Waschung durch, betete, aß kein Schweinefleisch mehr, fastete während des Ramadans. Er besuchte den muslimischen Gottesdienst mit dem Imam der Haftanstalt. Auch seine Sprache passte er der Gruppe an und sagte einfache Sätze auf Türkisch oder Arabisch.

      5.3 Radikalisierung der Gruppe

      Die Gruppe, die zunächst auch durch den in der JVA tätigen Imam betreut wurde, radikalisierte sich zusehends. Vermehrt wurde der militärische Kampf gegen die Ungläubigen propagiert. Max gab an, dass zu diesem Zeitpunkt dschihadistische Verbrechen noch nicht so in den Medien präsent waren wie heute:

      „Ja, die haben alle davon geredet, dass eines Tages erhebt sich der Islam und dann wirst du dein Schwert ziehen. Das steht auch richtig im Koran geschrieben. Dann wirst du dein Schwert ziehen und gegen alle Ungläubigen kämpfen. (…) Viele haben davon geredet, ich soll mich melden bei einem, wenn ich rauskomme. Ich muss an Allah glauben, mein Leben wird gut und so. Im Endeffekt wollen die nur einen dummen Deutschen finden, der sein Leben aufgegeben hat und der dann einfach in den Islamischen Staat geht. Die bezahlen dir den Flug und alles und dann musst du da kämpfen.“

      Nach etwa einem halben Jahr der Zugehörigkeit meldeten sich aber bereits während der Haftzeit auch Zweifel, zunächst aufgrund von Spannungen mit einer anderen Häftlingsgruppe:

      „War bestimmt ein halbes Jahr, in dem ich das sehr ernst genommen habe. Habe mich von allen anderen Gruppen sehr distanziert. Habe alle Bücher gelesen, die sie mir gegeben haben. Da hatte ich dann auch Stressmomente mit den Russen und so, weil die meinten, ich sei kein Deutscher mehr, ich verrate mein Land und so. Auf eine Art hatten die Recht und haben mich etwas wachgerüttelt.“

      Als er mit dem Gedanken spielte wieder auszusteigen, bestärkte ihn ein älterer gläubiger Muslim in der Haftanstalt. In der Folgezeit empfand Max eine kognitive Dissonanz in Bezug auf die islamistische Weltsicht: Er nahm wahr, dass die Aussagen seiner islamistischen Mithäftlinge und das, was er selbst im Koran gelesen hatte, sich widersprachen und fühlte sich zunehmend von seinen Mitgefangenen unterdrückt.

      „Da hab’ ich mich dann geknechtet gefühlt. Sie haben mir vorgeschrieben was ich machen soll: ‚Eines Tages, wir ziehen zusammen unser Schwert und köpfen die Ungläubigen. Wir werden alle Ungläubige töten’. Wo es mir dann auch klargeworden ist. O.k., auf eine Art sagt ihr im Koran, jeder Mensch soll leben, jeder Gott soll leben. () Aber irgendwann habich alles hinterfragt (). Also warum soll ich alle töten, die nicht dem Islam folgen?“

      Der nach seiner Haftentlassung vollzogene Ausstieg gestaltete sich – ganz auf sich allein gestellt, ohne professionelle Beratung oder Begleitung – nicht unproblematisch: Nach der Entlassung erhielt Max ein Mobiltelefon, mit welchem er sich jeden Tag bei seinen Glaubensbrüdern melden sollte. Nach seinen Angaben fand er nur mit der Unterstützung eines Mitbewohners die Kraft, sich dieser Anweisung zu widersetzen. In der Folge thematisiert er die gewalttätige Antwort auf seinen Ausstieg von der Gruppe: „Zwei Jahre später, hab’ ich die auf der Straße getroffen, die waren zu viert und haben mies auf mich eingeprügelt.“ Er selbst fasst seinen Kontakt mit der islamistischen Gruppierung folgendermaßen zusammen:

       „Ein halbes Jahr hab’ ich alles mitgemacht, dann hatte ich keinen Bock mehr. Ja, ich war ja so einer, keine Familie, jeder wusste, ich hab’ nichts, wenn ich rauskomme. Also er ist ganz, ganz alleine. Ohne Perspektive und Aussichten. Also lullen die einen ein und man glaubt alles, was die sagen. Und so einer geht dann in den IS. Und ich gehe davon aus, dass eine Menge, die in >JVA anonymisiert< waren, in den Krieg gezogen sind. Weil es war einfach. Du konntest dich schwer entziehen.“

      5.4 Primäre Bindungserfahrungen als Vulnerabilitätsfaktor bei Radikalisierung

      An Max ’Fall lässt sich das multifaktorielle Zusammenspiel zwischen Bindungserfahrungen, Jugenddelinquenz und der Suche nach Religiosität, Schutz und Geborgenheit in der Haft als sich bedingende Radikalisierungsfaktoren nachzeichnen. Aufgrund der unsicheren Bindung zu seinen familiären Bezugspersonen fiel es Max schwer, Bindungen zu anderen einzugehen und Anschluss zu finden. Seine soziale Isolation und der Kontaktabbruch zu seiner Familie in der Haftzeit sowie die Sehnsucht nach einer (religiösen) Gemeinschaft machte aus ihm eine leichte Beute für die Islamisten. Politische, ideologische und religiöse Gesichtspunkte traten dagegen zurück. Er macht zwar eine Offenheit für religiöse Ideenwelten deutlich. Den Prozess der Konversion, den er unter den Bedingungen der Haft begann, setzte er in Freiheit aber nicht fort. In Max’ Fall wurden durch die unsichere/ desorganisierte Bindung zu seinen Eltern keine reifen Abwehrmechanismen und nur unzureichend psychosoziale Kompetenzen aufgebaut. Seine durch Vernachlässigung und traumatische Beziehungserfahrungen ausgelöste Affektregulationsstörung wurde in seiner Kindheit schlicht mit der Vergabe von Ritalin „gelöst“. Die von ihm begangene Straftat kann so auch als radikale Antwort auf das Nicht-Aushaltenkönnen eines erneuten Verlassenwerdens durch die Mutter seines Kindes betrachtet werden. In der Haft fand er zunächst Sicherheit und Wertschätzung in der sich radikalisierenden Gruppe und konnte sein Selbstwertgefühl vorübergehend stärken.

      Heute hat Max eine abgeschlossene Ausbildung, einen geregelten Tagesablauf und einen festen Arbeitsplatz. Er arbeitet daran, nicht rückfällig zu werden, und hat alle Verbindungen zu alten Bekanntschaften abgebrochen. Er berichtet in seinem Interview aber nicht von helfenden Angeboten von Lehrenden oder JVA-Bediensteten. Wie bereits in seiner frühen Kindheit, begegnete er seinen Problemen auf sich allein gestellt, ihm zur Seite stand kein „aufmerksamer Dritter“ (Werner 2005, 12). Die lebensgeschichtliche Analyse seines Falls ist so auch eine Dokumentation des Versagens von Justizvollzugsanstalten Anfang der 2010er-Jahre und bestätigt die Notwendigkeit einer sorgfältigen Reflexion der institutionellen Schwachstellen bezüglich der Radikalisierungsprävention.

      6. Was können Lehrende tun?

      Wie könnte der Beitrag der Sonderpädagogik zur Präventionsarbeit im Feld der Reflexion dieser neuen gesellschaftlichen Risiken und Ängste, der Resilienzförderung und Vulnerabilitätsanalyse aussehen? Was kann man in der Lehrerbildung tun, um den Identitätsangeboten radikaler Akteure an vulnerable junge Menschen wie Max etwas entgegenzusetzen? Zur Beantwortung dieser Fragen gilt es zunächst, die Parameter schulischer Primärprävention abzustecken: Die Wichtigkeit der schulischen Prävention gilt unter Experten als unbestritten (Ceylan &