sich in Adoleszenzkrisen oder belasteten Familiensituationen sowie einem spezifischen makro-sozialen Kontext, radikalen Gruppen zuzuwenden. Vulnerabilitätssensible Pädagogik thematisiert demzufolge potentielle Verletzbarkeiten (Gefährdungen, die von radikalisierten Schülern und Schülerinnen ausgehen), will institutionelle Schwachstellen und Versäumnisse in der Radikalisierungsprävention reflektieren und entwickelt pädagogische Maßnahmen für betroffene Jugendliche/junge Erwachsene, die die Ausbildung einer manifesten radikalen Weltsicht verhindern sollen.
2. Unsicherheit, Terrorangst und ihre Auswirkungen auf Intergruppenkonflikte und gesellschaftliche Radikalisierung
Welche Gruppen können als besonders vulnerabel für gesellschaftliche Ängste und damit häufig verbundene Einstellungsveränderungen – wie der Zunahme von sozialer Intoleranz – identifiziert werden? Die Jugendstudie „Generation what?“ zeigt auf, dass Kinder und Jugendliche nach Terroranschlägen umso schneller ihre Meinung zur Befürwortung kultureller Vielfalt ändern, je jünger und weniger gebildet sie sind (Schwartz et al. 2016, 19, 33). Die R+V-Langzeitstudie „Die Ängste der Deutschen“ stellt dar, dass Erwachsene in Deutschland vermehrt Terrorangst und Angstgefühle in Zusammenhang mit der instabilen Weltlage empfinden: Im Herbst 2016 fürchteten sich 73 % der Deutschen vor einem Terroranschlag, ein Jahr später 71 %. Erst im Jahr 2018 sank der Terrorangst-Wert wieder auf 58 %, dicht gefolgt von der Angst vor politischem Extremismus mit 57 % („Die Ängste der Deutschen im Langzeitvergleich“). Wie die aktuelle World Vision Kinderstudie demonstriert, macht die Terrorangst aber auch nicht vor den Kleinsten halt: 58 % der befragten Sechs- bis Elfjährigen gaben die Angst vor Terror als ihre stärkste Angst an (4. World Vision Kinderstudie 2017, 11). Etwas weniger sind es in der Jugendstudie: Dort steht die Angst vor Terror mit 31 % auf dem zweiten Platz. Den ersten Platz nahm mit 35 % die Angst vor gesellschaftlichen Unruhen ein. Terrorangst und Ängste vor sozialen Unruhen können – so schlussfolgerten die Autoren – zum Motor der Angst vor Zuwanderung werden (Schwartz et al. 2016, 19, 33).
Internationale Forschungen zu langanhaltenden Intergruppenkonflikten machen auf die ernstzunehmenden Folgen dieser Ängste aufmerksam: Empfinden Kinder schon früh eine Bedrohung durch Terrorismus oder gewalttätige Intergruppenkonflikte, hat dies eine erhebliche Auswirkung auf die Ausbildung von Stereotypen, die ohne Intervention langfristig bestehen bleiben können (Bar-Tal et al. 2017, 421f). So werden israelische Schüler und Schülerinnen (die häufigerem Raketenbeschuss und terroristischen Anschlägen ausgesetzt sind und in deren Folge Traumafolgestörungen aufweisen) im Rahmen eines Resilienztrainings neben Übungen zur Reduktion traumatischer Symptome auch in Übungen zur Reduzierung sozialer Intoleranz unterwiesen (Berger et al. 2016). Denn nach sozialpsychologischen Studien kann Terrorangst zu einer Zunahme von ethnozentrischen, xenophoben und antidemokratischen Einstellungen führen: Verschiedene Studien wiesen unter Terrorbedrohung vermehrt Vorurteile von Nicht-Muslimen gegen Muslime nach (Fritsche et al. 2006) sowie eine erhöhte Zustimmung gegenüber rechtsgerichtetem Autoritarismus (Jugert & Hiemisch 2005, 157). Terrorangst wird so zum Movens für die Entwicklung sozialer Intoleranz.
3. Vulnerabilitätsfaktoren für Radikalisierung im Jugendalter
Aber wer sind diese Menschen, vor denen sich die Gesellschaft fürchtet? Internationale Studien gehen von einem länderübergreifenden Einstiegsalter in radikalen Gruppen bei männlichen Jugendlichen von 14 bis 35 Jahren aus (Bouhana & Wikström 2011, 24; nach Friedmann & Plha 2017, 222). Die Jugend als „Zeitalter der Radikalität“ wirkt hier wie ein Katalysator für bereits in der Gesellschaft vorhandene Konflikte. Für die Sonderpädagogik erweisen sich aktuelle Ergebnisse der psychologischen und sozialwissenschaftlichen Radikalisierungsforschung als relevant, die vermehrt Radikalisierungsfaktoren diskutieren, die eine heterogene Gruppe betreffen: Jugendliche und junge Erwachsene in Krisen (Venhaus 2010), mit psychischen Erkrankungen oder Suchterkrankungen (Friedmann, Phla 2017) und Diskriminierungserfahrungen (Kruglanski et al. 2014, 381). Hinzu kommen Jugendliche, die aus hoch belasteten Familien stammen oder delinquente Jugendliche, die sich unter den Bedingungen der Haft radikalisieren. Diese jungen Menschen stammen häufig aus autoritären oder vernachlässigenden Familien und haben früh traumatische Erfahrungen erlitten (Friedmann & Plha 2017, 229).
Rüssmann et al. wiesen zudem nach, dass eine Vulnerabilität für radikale Einstellungen mit einem ängstlich-vermeidenden Bindungsstil1 einhergeht (Rüssmann et al. 2010, 295f). Persönliche Krisen (beispielsweise ausgelöst durch den Tod von Angehörigen) können dann als Momente der kognitiven Öffnung wirken, in der Angebote radikaler Gruppen als neue Identitätsangebote genutzt werden (Kruglanski et al., 2014, 385). Hinzu kommen Identitätsprobleme, wie die Empfindung einer „doppelte[n] Nichtzugehörigkeit“ (El-Mafaalani & Toprak 2011, 18). In der neo-salafistischen oder rechtsradikalen Gemeinschaft erfahren jene Jugendlichen dann Aufwertung und Anerkennung und fühlen sich als Teil einer Avantgarde (Kiefer 2015, 42). Nach dem französischer Politikwissenschaftler Olivier Roy haben in vielen Radikalisierungsprozessen ideologische Aspekte eher sekundären Charakter. Er spricht – im Hinblick auf „Homegrown Terrorists“ – vielmehr von einer „Islamisierung der Radikalität“. Individuelles Verhalten und psychologische Aspekte (bspw. Gewaltfantasien) spielen demzufolge eventuell eine stärkere Rolle als Religion bzw. Ideologie in Radikalisierungsprozessen (Roy 2017, 20). Zur Darstellung der Bedingungsfaktoren für Radikalisierungen fehlt aber noch weitere empirische Forschung, u.a. Analysen der Radikalisierungsverläufe von Kadern.
4. Radikalisierungsprävention in der sonderpädagogischen Lehrerbildung
Was können wir in der Lehrerbildung tun, um pädagogisch gegen die Identitätsangebote radikaler Akteure vorzugehen? Vor dem geschilderten Hintergrund widmet sich das Berliner Forschungsprojekt der Entwicklung und Evaluation von Projekten der phänomenübergreifenden Primärprävention2 für Schüler und Schülerinnen in psychosozialen Problemlagen. Es sollen Konzepte und Praxiswissen aus der Pädagogik bei psychosozialen Beeinträchtigungen/ Pädagogik bei Verhaltensstörungen für diese heterogene Gruppe von Schülerinnen und Schülern nutzbar gemacht werden, die spezifische Vulnerabilitätsfaktoren analysieren und Bindungsverhalten oder psychische Störungen mitberücksichtigen. Dazu werden Seminare angeboten, die angehende Lehrende für diese Thematik sensibilisieren sollen. In diesen Seminaren nehmen die Studierenden eigene Praxisforschung vor und interviewen beispielsweise Experten aus Beratungsstellen oder ehemalige Salafisten/ Mitglieder der radikalen Rechten. Ziel ist die wissensbasierte Entwicklung schulischer Radikalisierungsprävention.
Das im Folgenden vorgestellte Fallbeispiel von Eileen Wachholz, Sebastian Knoll und Jantje Mundt entstand so auf Basis eines Interviews mit einem ehemaligen Häftling einer Berliner Justizvollzugsanstalt.
Delinquentes, dissoziales und aggressives Verhalten von Kindern und Jugendlichen sind Problemkonstellationen, die in das Arbeitsfeld der Pädagogik bei psychosozialen Beeinträchtigungen fallen. Die Erziehung im Jugendstrafvollzug gestaltet sich folglich als sonderpädagogische Herausforderung (Tulke 2018, 51). Mittels eines biografisch-narrativen Interviews (Rosenthal 2002) wurde versucht, Bedingungs- und Vulnerabilitätsfaktoren für eine islamistische Radikalisierung des heute 29-jährigen Max (Name geändert) in der Haft nachzugehen. Die an die strukturierende Inhaltsanalyse nach Mayring (2010) angelehnte Interviewauswertung der Studierenden wurde im Folgenden von der Autorin zusammenfassend reformuliert und ergänzt.
5. „Ja, ich war so einer, keine Familie, jeder wusste, ich hab’ nichts, wenn ich rauskomme“ – Fallbeispiel zur Radikalisierung in Haft
5.1 Bindungserfahrungen in der Kindheit
Max, im Berliner Stadtteil Kreuzberg als Kind deutscher Eltern aufgewachsen, erlebte nach der Trennung seiner Eltern die stationäre Unterbringung seiner Mutter in der Psychiatrie. Im Rahmen der Sorgerechtsverhandlung musste er im Alter von fünf Jahren eigenständig entscheiden, bei welchem Elternteil er leben wollte, und erlebte die Folgezeit mit seiner psychisch kranken Mutter: „War alleine mit meiner Mutter, die am Rad gedreht ist. Natürlich hab´ ich alles mit in die Schule genommen. Ich saß hinten, habe Faxen gemacht. Ich bin in der ersten Klasse rausgeflogen, musste die Schule wechseln.“
Max' Schwester, bis zur Trennung seine engste Bezugsperson, verblieb beim Vater. Es folgte eine problematische Schulkarriere mit sechs Schulwechseln und dem Besuch eines lerntherapeutischen