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Gastrecht laut, wo „Flüchtlinge“ gegen die Regeln des Rechtssystems des Aufnahmestaates verstoßen. Die Nichtschuld an der Verfolgung, die anknüpft an das, was er ist oder von wo er kommt, wird durch die Tatsache der Straffälligkeit überlagert. Wird ein „Flüchtling“ straffällig, wird nicht das rechtstaatliche Verfahren vor einem Gericht, mit gegebenenfalls anwaltschaftlicher Verteidigung und Verhängung einer Strafe, eingefordert, sondern es wird der Entzug des Rechts, vor drohender Gefahr flüchten zu dürfen, gefordert.

      Recht schöpft sich auch aus dem gesellschaftlichen Wertesysteme. Die Unterstellung eines abweichenden Wertesystems, die häufig pauschal gegenüber Musliminnen und Muslimen vorgebracht wird, kann diskursiv in die Nähe des Rechtsbruchs gerückt werden. Zugleich sind Ängste vor „Islamisierung“ auch Ausdruck dieser Nähe zum Rechtssystem, denn kommt es zur Verschiebung des Wertesystems, besteht die Furcht, das Recht könnte dem folgen. Die von Arendt analysierte enge Verwobenheit des Flüchtlings mit der Unschuld macht den Diskurs um den „Flüchtling“ als potentielle Gefahr für innere Sicherheit und das gesellschaftliche Wertesystem deshalb so wirkmächtig. Er ist geeignet, die Gesamtheit der „Flüchtlinge“ in Frage zu stellen, da sie ein Misstrauen gegenüber der Unschuld an den Fluchtgründen schafft. Auch für die gegenwärtige Gesellschaft ist die absolute Unschuld, auf deren Grundlage Menschen Opfer von Entrechtung werden, nur schwer erträglich. Der Sicherheitsdiskurs liefert ein entlastendes Misstrauen, mit dem es sich dieser sonst einzig irritierenden, kaum durchdringbaren Unschuld entgegentreten lässt. Dieses Misstrauen pervertiert sich dort zur Zuschreibung einer Kollektivschuld, wo kulturalistische und rassistische Argumentationen versuchen, die Schutzwürdigkeit bestimmter Gruppen grundsätzlich in Frage zu stellen. Damit ist die gegenwärtige Lage von „Flüchtlingen“ Resultat des in Handlung übersetzten Diskurses, der auf breite gesellschaftliche Zustimmung stößt. Die bereits zitierte hooks entlarvt aus dem, was sie als Afro-Amerikanerin als radikale Perspektive bezeichnet, den Diskurs über „das Andere“ wie folgt: „Oft ist dieses Sprechen über „das Andere“ auch eine Maske, ein tyrannisches Sprechen, das Lücken und Abwesenheiten verdeckt, den Raum, in dem unsere Worte wären, wenn wir sprechen würden, wenn es still wäre, wenn wir dort wären (…)“ (hooks 1996, 157).

      Noch machtvoller als der Diskurs, der trotz Anwesenheit zum Schweigen zwingt, ist der, der die Menschen gar nicht erst dort hinlässt, wo öffentliches Sprechen möglich ist. Dabei weitet sich die gegenwärtige Abschottungspolitik in zwei Richtungen immer weiter aus: Europäische Politik schafft zunehmend geschlossene Grenzen auch außerhalb des eigenen Kontinents, wo es früher keine gab, und steht damit in postkolonialer Tradition. Gleichzeitig wandert die Politik der Abschottung bis in das deutsche Staatsgebiet hinein, wenn mit Begriffen wie der „Fiktion der Nichteinreise“3 Nicht-Anwesenheit fingiert wird, um dem faktisch körperlich Anwesenden Rechte zu entziehen. Denn nur ihre faktische oder fiktive Abwesenheit von Menschen ist es, die es uns ermöglicht, ihr Leid nicht wahrzunehmen.

      Im Jahr 2018 ist mehr als 2100 Mal ein Menschenleben auf dem Mittelmeer zu Ende gegangen4 – ungezählt bleiben die vielen mehr, die auf dem Weg nach Europa zu Tode kommen. Wir müssen uns befragen, was diese Menschen, wenn wir in unserem Diskurs und an den Plätzen öffentlichen Sprechens Raum für sie ließen, uns über unsere Werte zu sagen hätten.

      1 Regelmäßig liegt die Quote derer, die nach Art. 16 a GG Asyl erhalten, unter 2 % (vgl. BAMF 2019, 11). Im Zuge des 1993 in Kraft getretene „Asylkompromiss“ wurde das Grundgesetz so geändert, dass sich nicht auf Art. 16 a berufen kann, wer über einen sicheren Drittstaat eingereist ist. Als sichere Drittstaaten zählen unter anderem alle an Deutschland angrenzenden Länder, womit also die Einreise auf dem Landweg Ausschlusskriterium für die Berufung auf Art. 16 a ist. Gleichzeitig gilt, dass in beinahe allen Fällen, in denen dennoch Schutz nach Art. 16 a GG gewährt wird, ebenfalls die in den Rechtsfolgen gleichwertige Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird.

      2 Auf die weiterführende Problematik, die sich aus der Beschränkung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auf Menschen, die eine „begründete Angst vor Verfolgung“ darlegen, und dem damit verbundenen Problem, dass allgemeine, willkürliche Gewalt, desolate wirtschaftliche Bedingungen oder die zunehmende Bedrohung durch Klimaschäden nicht von der Definition der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) gedeckt sind, kann hier nicht näher eingegangen werden. Jedenfalls wäre eine umfassende Gewährung der Verpflichtungen aus der GFK bereits ein bedeutender Schritt zugunsten des Schutzes geflüchteter Menschen.

      3 Dieser Begriff wurde 2018 im Rahmen der vom damaligen Bundesminister des Inneren, Horst Seehofer, geforderten „Zurückweisung an der Grenze“, die sich nach herrschender Meinung jedoch nicht mit EU und völkerrechtlichen Vorgaben vereinen lässt, eingeführt (s.o. den Beitrag von Bernhard Kohl sowie Schmalz 2018).

      4 Stand 11. Dezember 2018; UNHCR (2018): Operational Portal. Mediterranean Situation: https://data2.unhcr.org/en/situations/mediterranean.

      Vulnerabilität in Terrorangst und Radikalisierungsprävention

      Bei einem Terroranschlag spüren Menschen besonders schmerzlich, wie sehr sie selbst und ihre Gemeinschaften (Familie, Gesellschaft, Religion, …) verwundbar sind. Die Vulneranz anderer Menschen und anderer Gruppen schlägt zu. Welche destruktiven, aber auch kreativen Auswirkungen hat ein solcher Machtzugriff auf eine Gesellschaft? Und was können Schulen tun, um eine Radikalisierung junger Menschen zu verhindern? Darüber denken die Psychologin Katharina Obens und die Fundamentaltheologin Hildegund Keul gemeinsam nach.

       Katharina Obens

      Wie wirken sich Terrorangst, die Furcht vor religiöser oder politischer Radikalisierung und „Homegrown Terrorists“ auf Intergruppenkonflikte aus? Wie kann sich aus Vulnerabilität Vulneranz (die Bereitschaft, andere zu verletzen) entwickeln? Und welche Vulnerabilitätsfaktoren auf psychosozialer Ebene sind für Radikalisierungsprozesse bedeutsam? Diesen Fragen geht das Forschungsprojekt „Radikalisierungsprävention in der sonderpädagogischen Lehrerbildung“ an der Humboldt-Universität zu Berlin nach. Im Rahmen des Projekts werden Studierende zum Thema Radikalisierung im Jugendalter ausgebildet. Zur Vorstellung des Projekts werden im Folgenden erstens Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Ängsten und Intergruppenkonflikten erläutert, die auf der Makroebene die Bedingungen für Radikalisierung darstellen. Zweitens werden individuelle Vulnerabilitätsfaktoren und psychosoziale Bedingungen von Radikalisierungsprozessen am Fall des heute 29-jährigen Max diskutiert, der sich in der Haft einer islamistischen Gruppe anschloss. Drittens wird die Frage diskutiert, was Lehrende in der Beratung von Eltern und im Unterricht tun können, um gegen eine Radikalisierung Heranwachsender vorzugehen.

      1. Radikale Gruppen und die Vulnerabilität der Demokratie

      Die Radikalisierung junger Menschen, die mit der Aneignung radikaler Ansichten wie der Ablehnung von Pluralismus, demokratischen Prinzipien und humanistischen Werten und Normen einhergeht, erfährt gegenwärtig viel Aufmerksamkeit. Diese Entwicklung kann vor dem Hintergrund gestiegener Anhängerzahlen islamistischer sowie rechtsextremistischer Gruppierungen nicht überraschen: Nach Einschätzung des Verfassungsschutzes zählen die islamistisch-dschihadistische Szene auf der einen sowie neue Bewegungen der extremen Rechten auf der anderen Seite zu den am stärksten wachsenden radikalen Gruppierungen in Deutschland (Verfassungsschutzbericht 2017, 23). Radikale Gruppen versuchen, an gesellschaftliche Ängste anzuknüpfen, negative Emotionen zu mobilisieren und ethnische, religiöse oder nationale Zugehörigkeiten festzuschreiben sowie Hass gegen Andere zu schüren. Sie setzen dabei bewusst auf die Mobilmachung vulnerabler junger Menschen und suchen gezielt – auch über das Internet – nach deprivierten Jugendlichen, denen sie einen vermeintlichen Ausweg aus ihren Problemlagen anbieten.

      Radikalisierungsprozesse entstehen so im Zusammenwirken von spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen (wie dem aktuellen Erstarken des Rechtspopulismus oder dem damaligen Ausruf des „Islamischen Staats“ im Juni 2014), Erfahrungen in der eigenen Biografie (u.a. Gelegenheitsstrukturen und Erfahrungen mit Peers), spezifischen Gruppenfaktoren und individuellen Auslösern (wie beispielsweise