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ihre eigenen Erfahrungen eine historische und gegenwärtige Analyse dessen, was einen zum „Flüchtling“ macht. Arendt bezieht sich auf jene Menschen, die im zweiten Weltkrieg zu Staatenlosen und/oder „Flüchtlingen“ geworden sind. Sie sind in einer anderen Situation, in der sich die „Flüchtlinge“ von heute befinden. Doch soll im Folgenden dafür argumentiert werden, dass Arendts Auseinandersetzung mit dem Zeitgeschehen dennoch zu einer „Erhellung und Transformation der Gegenwart“ beizutragen vermag.

      In ihrer Analyse verweist Arendt auf Veränderungen von dem seit der Antike gewährten Recht auf Asyl zum modernen „Flüchtling“. Wer flieht, verliert zunächst vor allem zwei Dinge: seine Heimat und den Schutz der Regierung des eigenen Landes. Beide Aspekte sind dabei keinesfalls neu, doch knüpfen an sie, in einer veränderten politischen Ordnung, neue Probleme an. So beschreibt Arendt: „Heimat verlieren, heißt die Umwelt verlieren, in die man hineingeboren ist und innerhalb derer man sich einen Platz in der Welt geschaffen hat, der einem sowohl Stand wie Raum gibt (…). Historisch beispiellos ist nicht der Verlust der Heimat, sondern die Unmöglichkeit, eine neue zu finden“ (Arendt 1951, 457).

      Letzteres ergibt sich nach Arendt daraus, dass die Verwirklichung einer politischen Ordnung, die die Menschheit als Familie von Nationen begreift, zwangsläufig dazu führt, dass diese Ordnung Menschen hervorbringt, die aus dieser Familie der Nationen und damit aus der Menschheit selbst ausgeschlossen sind (ebd. 458). Neben der Heimat verlieren die modernen „Flüchtlinge“ den Schutz ihrer Regierungen und damit erhöht sich ihre Vulnerabilität symbolisch ebenso wie ganz konkret. Auch dies ist durchaus kein neues Phänomen, doch, so hält Arendt fest: „Die neuen Flüchtlinge aber sind nicht verfolgt, weil sie dieses oder jenes getan oder gedacht hätten, sondern auf Grund dessen, was sie unabänderlicherweise sind, hineingeboren in die falsche Rasse, die falsche Klasse oder von der unrichtigen Regierung zu den Waffen geholt.“ (ebd. 459)

      Der Tatsache, dass „Flüchtlinge“ nicht auf Grund bestimmter Handlungen, sondern vielmehr aufgrund des Hineingeborenseins in eine globale Ordnung, die anknüpfend an bestimmte unabänderliche Merkmale Zugänge zu Ressourcen und Orten verwehrt oder gewährt, trägt heute die „Genfer Flüchtlingskonvention – GFK“ (1951/1967; 2019) Rechnung.

      In Folge der offenkundig gewordenen Unfähigkeit der Nationalstaaten, die Aufnahme von Schutzbedürftigen aus zwei Weltkriegen zu bewältigen, beschloss man, den Schutz der „Flüchtlinge“ auf internationaler Ebene zu regeln. Errungenschaft dieser Bestrebung sind das 1950 geschaffene Hohe Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) sowie die Genfer Flüchtlingskonvention und ihre Erweiterung durch Zusatzprotokolle. Das Recht auf Schutz wurde in Deutschland zudem im Grundgesetz verankert, wo es heute nach den Änderungen im Asylkompromiss 1992/93 vor allem noch symbolische Wirkung entfaltet.1

      Die gegenwärtige Verwendung des Begriffs „Flüchtling“ im medialen und gesamtgesellschaftlichen Diskurs ist diffus und verwischt dabei Grenzen verschiedener Phänomene und Disziplinen, die mit dem Begriff umgehen. Rechtlich gesehen ist nach der Definition der Genfer Flüchtlingskonvention eine Person Flüchtling, die „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will.“ (Art. 1 GFK)

      Somit kann die Genfer Flüchtlingskonvention als völkerrechtlich festgeschriebene Wertung von Bedrohungen, die an kategoriale Zuschreibungen wie Rasse, Religion oder Nationalität geknüpft sind, verstanden werden: Diese werden als illegitime Übergriffe auf den Menschen verstanden, die die Flucht über Landesgrenzen hinweg rechtfertigen.2 Auf der anderen Seite trägt die Konvention dem von Arendt als einzigem wirklichen Menschenrecht benannten Recht Rechnung: Dem Recht, Rechte zu haben und einem politischen Gemeinwesen anzugehören, da ohne dies kein anderes Recht realisierbar ist (Arendt 1951, 462).

      So wird bei Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Konvention der fehlende Schutz des Heimatlandes durch einen rechtlichen Schutz in einem Aufnahmeland ersetzt. Dem zugrunde liegt ein neues Verständnis von einer nötigen Ent-naturalisierung gesellschaftlicher Ungleichverhältnisse. Demnach zeugt die Konvention von einer Anerkennung der Tatsache, dass Menschen schuldlos in eine bestimmte gesellschaftliche Ordnung hineingeboren oder hineingeraten können, die sie der Verfolgung durch andere Akteure derselben Gesellschaft aussetzt. Diese Verfolgungssituation aus nicht selbstverschuldeten Gründen widerspricht grundsätzlich dem westlichen Selbstverständnis der Menschen als freien Subjekten. Freiheit ist gerade eine Distanzleistung des Menschen zu seiner Umwelt, der vorgefundenen gesellschaftlichen Ordnung und nicht zuletzt seinem Körper. Verfolgung auf Grund der Zuschreibung Rasse etwa legt den Menschen jedoch gerade auf seinen Körper fest. Der freie Mensch trägt Verantwortung für sein Handeln und kann auch nur deshalb für es verantwortlich gemacht werden. Die im Sinne der Genfer Konvention anerkannte Verfolgung des Flüchtlings jedoch ergibt sich daraus, dass er verantwortlich gemacht wird für etwas, für das er selbst keine Verantwortung trägt, etwa den Ort seiner Geburt oder die Farbe von Haut und Haaren. Kurz: „Er ist unschuldig selbst im Sinne der ihn verfolgenden Mächte“ (Arendt 1949, 459). Diese auf der absoluten Unschuld gründende absolute Verantwortungslosigkeit ist dem modernen Subjekt unerträglich (ebd.). Im Angesicht begründeter, konkreter und individueller Verfolgung solcher Art, nimmt die Genfer Konvention Mobilität, als ein Sich-entziehen-Können, als wirksamen und legitimen Gegenmechanismus an. Mobilität, im Sinne von Fluchtbewegungen, wird damit zugleich als anthropologische Grundkonstante betont, der keineswegs eine spektakuläre, momentane Einzigartigkeit zukommt.

      Und nun der Blick in die Gegenwart: Wie aus der bereits genannten Definition hervorgeht ist, um in den Schutzbereich der Genfer Konvention zu fallen, die Grenzverletzung meist unumgehbar. Nur wenigen gelingt die Ausreise mit eigenen Papieren und Visa. Erst wer die Grenzen zu einem der Staaten, der die Genfer Flüchtlingskonvention ratifiziert hat, überquert, kann sich auf Flüchtlingsschutz berufen.

      Im Jahr 2017 befanden sich 68,5 Millionen Menschen weltweit außerhalb oder als Binnenflüchtlinge innerhalb ihrer Länder auf der Flucht. Auf der Flucht befinden sie sich, da der Staat, dessen Staatsbürgerschaft sie haben, als Verfolger auftritt oder weil dem Staat, der diese Menschen vor Verfolgern schützen sollte, dies nicht gelingt, oder er nicht Willens ist dies zu tun. Nur ein Bruchteil dieser Menschen kann sich jedoch auf den internationalen Schutz berufen. Dies ist nicht zuletzt Folge einer Politik, die dazu führt, dass „Flüchtlinge“ in Transitländern wie der Türkei oder Libyen feststecken und den nötigen Grenzübertritt in ein Land, in dem die Genfer Konvention und ihr Zusatzprotokoll ratifiziert wurden, gar nicht erst verwirklichen können (Amnesty International 2018).

      Der Verlust der Menschenrechte, den Arendt von der Verletzung der Menschenrechte unterscheidet, tritt nicht ein, wenn ein einzelnes Menschenrecht verletzt wird, „sondern erst, wenn der Mensch den Standort in der Welt verliert, durch den allein er überhaupt Rechte haben kann und der die Bedingung dafür bildet, daß seine Meinungen Gewicht haben und seine Handlungen von Belang sind“ (Arendt 1951, 461f.). Die daran anschließende und bereits genannte Forderung Arendts, jedem Menschen das Recht, Rechte zu haben und die Zugehörigkeit zu einem politischen Gemeinwesen zu gewähren, ist gegenwärtig damit nicht verwirklicht.

      Vielmehr leben weltweit mehrere Millionen Menschen aus den genannten Gründen in den Hauptaufnahme- und Transitländern überwiegend in prekärem Status ohne rechtliche Aufenthaltstitel. Dies ist Ergebnis einer Politik, die auf Grenzschutz zielt, da der vollzogene Grenzübertritt dazu führt, dass Menschen sich auf bestimmte Rechte berufen können. Im Folgenden nehme ich nun vor allem die Staaten der EU in den Blick, obwohl sich ähnliche Phänomene auch in anderen Teilen, vor allem der westlichen Welt ausmachen lassen. In Bezug auf Arendts Analyse, die den neuen „Flüchtling“ aus seiner Unschuld heraus begreift, vertrete ich die These, dass dieser Aspekt Aufschluss gibt über die wirksame Verknüpfung des Begriffs „Flüchtling“ mit Diskursen um innere Sicherheit und die Unvereinbarkeit von Wertesystemen, die eine Abschottungspolitik begründbar machen. Es geht dabei um ein breites Verständnis von dem, was „der Flüchtling“ ist, eine „Analyse der gewöhnlichen gesellschaftlichen Verhältnisse, die das Extreme tragen“ (Castro Varela