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stellen: die Dreieinigkeit, den Zusammenhang von Geburt, Territorium und Staat. Durch ihre Deterritorialisierung unterbrechen Flüchtlinge die Verbindung zwischen Abstammung und Nationalität, Mensch und Bürger (Agamben 2002, 140). Durch die nie dagewesene Zahl an Flüchtlingen weltweit gibt es nun allerdings immer mehr Menschen, die nicht länger in einer Nation repräsentiert sind und die somit die Prinzipien des Nationalstaates auf eine nie da gewesene Weise in Frage stellen. Angesichts dieser Bedrohung versuchen die territorial umgrenzten Staaten durch permanente Kontrolle der räumlichen Bewegung der Flüchtlinge den Souverän und seine Repräsentation, d.h. sich selbst zu retten.

      Judith Butler geht in ihrer Interpretation noch einen Schritt weiter: Ihrer Auffassung nach stellt sich eine Regierung durch solche Handlungsweisen in einen Gegensatz zum Staat, indem das Recht zurückgenommen und eine zeitgenössische Version der Souveränität erzeugt wird; bzw. wird durch einen performativen Akt der Aufhebung des Rechts Souveränität im Feld der Gouvernementalität neu belebt. Die Bestimmungen der gouvernementalen Macht wirken nicht aufgrund geltenden Rechts oder einer bestimmten Legitimationsweise, sondern allein aus dem Ermessen ihrer Vertreter, aus den Subjekten der Verwaltungsmacht heraus, die die Prärogative der Rechtsanwendung von der Judikative an sich gezogen haben (Butler 2005, 81, 83f. & 116).

      Über die Ermessensspielräume entstehen unzählige Souveräne innerhalb der Sphäre der Gouvernementalität, die außer der performativen Macht ihrer eigenen Entscheidungen niemandem verpflichtet sind. Die Gouvernementalität erzeugt eine gesetzlose Souveränität als Teil der Funktionsweise ihrer Macht. Menschen, auf die sich die Ermessensurteile beziehen, werden derealisiert.

      Recht wird in diesen Ermessensurteilen außerdem nur als Taktik eingesetzt; Wirksamkeit erhält einen größeren Stellenwert als Legitimität. Die Sprechakte der Gouvernementalität klingen formal und widersetzen sich dem Recht gleichzeitig, da es zu einem Instrumentarium des Staates degradiert oder im Interesse der Exekutivfunktion des Staates außer Kraft gesetzt wird. Recht wird zum bloßen Instrumentarium der Macht, das nach Belieben angewandt und aufgehoben werden kann (Kohl 2016, 202f.).

      Ein gutes Beispiel hierfür ist wiederum die Debatte um die Einrichtung von Transitzentren. Hier werden bilaterale Abkommen über Grenzregimes geschlossen, deren Rechtmäßigkeit unklar ist. Um diese geplanten Transitzentren zu rechtfertigen, hantiert man außerdem und vor allem mit dem rechtlichen Konstrukt der Fiktion bzw. der „fiktiven Nichteinreise“ – das ist zwar keine neue Regelung,6 auch wenn es jetzt so scheint, dennoch muss jetzt der Blick darauf gelenkt werden.

      Damit geflüchtete Menschen keinen Asylantrag in Deutschland stellen können, wird eine rechtliche Konstruktion genutzt: die Fiktion der Nichteinreise. Dabei handelt es sich um die normative Annahme eines Sachverhalts als wahr, der in Wirklichkeit nicht besteht.

      Konkret bedeutet das: Obwohl sich der jeweilige Asylbewerber auf deutschem Staatsgebiet befindet, wird die Einreise rechtlich nicht anerkannt. Grundlage dafür ist das Aufenthaltsgesetz. In Paragraf 13 Abschnitt 2 heißt es: „An einer zugelassenen Grenzübergangsstelle ist ein Ausländer erst eingereist, wenn er die Grenze überschritten und die Grenzübergangsstelle passiert hat. Lassen die mit der polizeilichen Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs beauftragten Behörden einen Ausländer vor der Entscheidung über die Zurückweisung (§ 15 dieses Gesetzes, §§ 18, 18a des Asylgesetzes) oder während der Vorbereitung, Sicherung oder Durchführung dieser Maßnahme die Grenzübergangsstelle zu einem bestimmten vorübergehenden Zweck passieren, so liegt keine Einreise im Sinne des Satzes 1 vor, solange ihnen eine Kontrolle des Aufenthalts des Ausländers möglich bleibt.“

      Konkret bedeutet das dann, dass geflüchtete Menschen, auch wenn sie sich auf deutschem Boden befinden, der rechtlichen Fiktion unterworfen werden, nicht nach Deutschland eingereist zu sein. So werden Menschen zu „Inkludierten Exkludierten“, eingeschlossen Ausgeschlossenen. Dadurch, dass sie der Aufsicht der Polizei, also der Exekutive, unterstellt werden, soll die Kontrolle von Bewegung erreicht werden. Damit werden Menschen, die kein Verbrechen begangen haben, vorsätzlich in ihrem Menschenrecht auf Freizügigkeit verletzt.7

      Damit wird diese Fiktion der Nichteinreise auch im Widerspruch zur bisherigen Rechtstradition angewandt, da Fiktionen bisher die Aufgabe haben, die Position eines Schwächeren zu stärken. So bspw. im Erbrecht, wo ein ungeborenes Kind als bereits geboren gilt, wenn es gezeugt war. Durch diesen Ausschluss liegt eine beinahe unmögliche Situation vor: Die Menschen, die von diesen gouvernementalen Handlungen betroffen sind, werden in einem Status extremer Verletzbarkeit gefangen, da für sie das Recht außer Kraft gesetzt wird. Sie fallen durch das Muster der rechtlichen und sozialen Anerkennung und können somit nicht mehr als Subjekte bezeichnet werden. Vielmehr handelt es sich bei ihnen fortan um „nichtautorisierte Vor-Subjekte“ (Butler 1994, 46): Subjekte, die keine sind, die weder lebendig noch tot sind, deren Menschlichkeit verdeckt wird und die deswegen keinen Anspruch auf Rechte haben (Butler 2005, 154ff.).

      3. Kreativität und Resilienz: Trauer als politische Kraft

      Interessant ist, dass Judith Butler in diesem Status extremer Verletzbarkeit, in dieser extremen Missachtung von menschlichen Anerkennungsbedürfnissen bspw. gegenüber Geflüchteten gleichzeitig den Schlüssel für die Wiederherstellung von Menschlichkeit, für die Wiederherstellung von Anerkennung findet.

      Zunächst macht sie klar – und das kann hier nur skizzenhaft dargestellt werden –, dass Verletzbarkeit ein Kennzeichen allen Lebens ist. Butler fragt allerdings über diese Feststellung hinaus, wie diese Tatsache der theoretischen Verletzbarkeit aller Menschen, und viel wichtiger, der praktischen Verletzung von konkreten Menschen, ethisch wirksam gemacht werden kann, (Butler & Villa 2012, 131) wie also aus der Verletzungserfahrung so etwas wie ein kreativer Umgang und letztendlich Resilienz hervorgehen kann. Die Verletzbarkeit von Menschen, „[d]as Gefährdetsein sollte in der Tat als gemeinsame Bedingung menschlichen Lebens (ja, als gemeinsame Bedingung, der menschliche und nicht-menschliche Tiere gleichermaßen und gemeinsam unterliegen) erkannt werden, aber wir dürfen nicht davon ausgehen, dass mit dieser Einsicht das als gefährdet Erkannte schon gemeistert, erfasst oder auch nur vollständig wahrgenommen würde“ (Butler 2012, 20f.).

      Sie zieht daraus den Schluss, dass aus der beschriebenen verletzungsoffenen und verletzungsmächtigen Verfasstheit des Menschen eine Trauer folgt, die in der Akzeptanz der Tatsache besteht, dass Menschen durch Verletzungen und Verluste verändert werden, und zwar in einer Weise, deren Ergebnis man nicht im Voraus kennt. Wichtig ist hierbei ihre Unterscheidung zwischen Melancholie und Trauer. Melancholie entsteht dann, wenn eine psychisch wirksame Verletzung, oder ein psychisch wirksamer Verlust nicht gewusst wird und einer Person deshalb unbekannt bleibt. Somit bleibt dieser Verlust gleichzeitig, wenngleich psychisch gesperrt, virulent, da er nicht betrauert werden kann (Butler 2013, 125ff.; Emcke 2016, 102).

      Nur wenn Personen Andere als in gleichem Maße menschlich wie sich selbst erkennen und anerkennen, kann die Verletzung dieser Anderen als zu betrauerndes Geschehen begriffen und anerkannt werden. Dann wirkt sich die Trauer als Ergebnis einer Verletzungserfahrung nicht privatisierend aus, sondern im Gegenteil vergemeinschaftend, als politische Kraft, da sie dazu führt, dass Menschen ihre Beziehungsbande zum Vorschein bringen (Butler 2005, 39ff.). Hieraus resultiert für Butler die Frage, ob Menschen neben ihrer Autonomie nicht für etwas weiteres, anderes eintreten und kämpfen müssten, für eine Vorstellung ihrer selbst nämlich, „als unweigerlich in Gemeinschaft eingebunden, als von anderen beeinflusst und umgekehrt auch andere beeinflussend, und dies in Formen, die ich nicht vollständig steuern oder klar vorhersagen kann“ (Butler 2005, 44).

      Und das ist ja genau der Punkt, den wir in der Debatte um geflüchtete Menschen begreifen müssen. Wir sind in Europa eben nicht allein, sondern verursachen bspw. durch unser Verhalten, unseren Konsum die Fluchtgründe für Menschen in anderen Ländern. Und: Migration ist ein Risiko, da ich ihre Auswirkungen nicht vollständig absehen, steuern und vorhersagen kann. Migration in einem Ausmaß, wie sie momentan stattfindet, wird ganz sicher mein Leben verändern. Aber das ist kein Argument dafür, das Mobilitätsrecht anderer Menschen einzuschränken. Vielmehr werde ich mir dadurch eben meiner eigenen Verletzbarkeit bewusst, die ich nicht höher bewerten kann als die anderer Menschen, sprich der Geflüchteten.

      Es stellt sich die Frage, ob man dieser Verletzbarkeit und dem dadurch