Arbeitsbeschaffungsprogramm begannen ab 1937 die Befestigungsarbeiten. Diese waren verzögert worden, weil in der Zwischenzeit viel Knowhow verloren gegangen war.
Es entstand eine Bunkerkette entlang der nördlichen und östlichen Landesgrenze zwischen Basel und St. Margrethen. Im Westen wurde sie von St-Croix nach Vallorbe fortgesetzt. Bis Mai 1940 wurden mehr als 250 Bunker erstellt, die als «Grenzbefestigung» ins kollektive Gedächtnis eingingen. 110 waren noch im Bau oder projektiert. Die letzten Lücken im Neuenburger und Waadtländer Jura wurden 1943/44 geschlossen. Der Bau dieser Befestigungen wurde oft unkoordiniert durchgeführt, es gab keine Typenpläne oder Baunormen. Alleine bei den Geländepanzerhindernissen gab es 40 verschiedene Typen.
Mit der Kapitulation Frankreichs im Frühling 1940 änderte sich die strategische Situation der Schweiz. Die schlecht gerüstete Schweiz war nun von den Achsenmächten umzingelt. Mit dem Rütli-Rapport vom 25. Juli 1940 schwor der Oberbefehlshaber der Schweizer Armee, General Henri Guisan, das Offizierskorps auf eine neue Strategie ein: Rückzug ins Reduit national, verbunden mit der Demobilisierung eines grossen Teils der Armee von 450 000 auf 150 000 Mann. Diese demobilisierten Soldaten hielten die Industrie- und Rüstungsproduktion aufrecht, deren Erzeugnisse im Gegenzug für Kohle und Eisen zu einem guten Teil nach Nazi-Deutschland exportiert wurden. Dieser strategisch heikle Schritt erfolgte im Wissen, dass die Befestigungen nur zum geringsten Teil gebaut waren. Der Rückzug ins Reduit wurde denn auch von Militärstrategen wie dem britischen Feldmarschall Bernard Law Montgomery als «undurchführbarer Unsinn» bezeichnet.40 Die Armee solle – so sagte er anlässlich eines Ferienaufenthalts in der Schweiz – der Verteidigung des Mittellands mehr Aufmerksamkeit schenken und sich nicht aufs Reduit verlassen. Doch auch wenn es seine Tauglichkeit nicht beweisen musste, festigte das Reduit doch den Willen zum Durchhalten und verankerte später den Reduit-Mythos in der Erinnerungskultur der Aktivdienstgeneration.
Als Verteidigungsstellung gegen einen Einfall italienischer Truppen und als Sperre der Gotthardachse wurden die Artilleriewerke «Foppa Grande» und «San Carlo» am Gotthard41 kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ausgebaut. Nach Kriegsende, im Herbst 1945, wurde das Werk vervollständigt und in den folgenden Jahrzehnten waffentechnisch erneuert. Ende 1992 wurden die letzten 38 Schüsse abgegeben, 1997 wurde es deklassifiziert und kann seither besichtigt werden. Auch die Festung «San Carlo» wurde mit dem Reduit-Beschluss sukzessive in Betrieb genommen und war 1944 voll ausgebaut.42
Einen Tag vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bewilligte der Bundesrat 36 Millionen Franken für den Bau der Festung Sargans, die ursprünglich zur Grenzsicherung vorgesehen war. Der Mangel an Arbeitern verzögerte den Bau vorerst, und auch im weiteren Verlauf führten die zu knappen Mittel immer wieder zu Diskussionen.43 Der endgültige Ausbau, der 83 Millionen Franken gekostet hatte, erfolgte Ende 1946, wobei noch 1993 wie bei den anderen Reduit-Werken St-Maurice und Gotthard BISON-Geschützbunker eingebaut wurden, die man sechs Jahre später wieder demontierte. 2003 wurden diese Festungen endgültig aufgehoben und zu den historischen Bunkern geschlagen. Bis Kriegsende übernahm das Festungswachtkorps Bauten im Gesamtwert von über einer Milliarde Franken. Wie schon der Bau der Grenzbefestigung erfolgte auch der Ausbau des Reduits nicht ohne Schwierigkeiten und Kompetenzgerangel, die von Koordinationsproblemen bis hin zu kriminellen Taten reichten.
Auch wenn letztlich Unsummen in den Bau der Grenzbefestigung und ins Reduit gesteckt wurden: Die Schweizer Armee hinkte dem Kriegsverlauf immer hinterher. «Die Landesbefestigung deckte die operativen Bedürfnisse der Aktivdienstzeit immer nur mit einiger Verspätung ab. […] Die schweizerische Verteidigungsstruktur, die tausende von unterirdischen Anlagen umfasst, wurde im Ausland als Emmentalerkäse versinnbildlicht, der ja ebenfalls zahlreiche Löcher aufweist.»44 So waren im Gefahrensommer 1940, als ein Einfall seitens Deutschlands drohte, weder die Grenzbefestigung noch die Limmatstellung fertig erstellt. Und im März 1943, als wieder Alarm ausgelöst wurde, war auch die Zentralraumstellung nicht voll in Betrieb. Selbst im Herbst 1944, als sich ein Ende des Kriegs abzeichnete, klafften noch «bedeutende Lücken in der Befestigung des westlichen Grenzgebiets».45 Taktisch sinnvoller wäre es gewesen, so der Historiker und Generalstabschef Hans Senn, wenn ein Teil der enormen Mittel statt in Beton und Eisen in Panzer und Panzerabwehrwaffen investiert worden wäre. Denn eine für diese Kampfführung geschulte Truppe hätte mehr erreicht «als wohlgeschützte, aber bis zu einem gewissen Grad dem ‹Maginotgeist› verfallene Werk- und Stellungsbesatzungen».46 Nichtsdestotrotz wurden nach dem Krieg nochmals 40 Millionen Franken aufgewendet, um die angefangenen Bauten zu komplettieren. Fertiggestellt und mit den fehlenden Waffen bestückt wurde das Reduit erst Anfang der 1950er-Jahre, obwohl es mit der Truppenordnung 51 (TO 51) offiziell aufgegeben wurde.47
Das Reduit festigte als Vermächtnis General Guisans den Mythos der Alpenfestung Schweiz. Dieser war so stark, dass man selbst dann noch in Ausbau und Unterhalt investierte, als das Reduit nach Meinung von Militärstrategen längst obsolet geworden war. «Mit dem Aufkommen der Atomwaffen war klar, dass die Tage der grossen Festungen gezählt sein würden.» Sie seien – so Hans Senn – zu aufwendig und zu verwundbar geworden.48 Dennoch vertraute man weiterhin auf die Feuerkraft der Artilleriegeschütze und ersetzte 1983 die alten Haubitzen durch neu entwickelte 15,5-cm-Geschütze. «Die Ideen General Guisans erlebten eine Renaissance.»49 Selbst der Fall der Mauer 1989 und der Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks konnten an der Alpenfestung nicht rütteln. Immerhin passte die Armeespitze mit der «Armee 95» das operative Dispositiv der Realität an und deklassierte 13 000 Artillerie- und Infanteriewerke, Waffenstellungen, Unterstände, Sperrstellungen, Panzersperren und Sprengobjekte.
Seine Tauglichkeit als Festung musste das Reduit nie unter Beweis stellen, was wohl auch nicht gelungen wäre, weil dessen Vollendung asynchron zum Kriegsgeschehen verlief, es also nie auf dem vorgesehenen Stand war. Aber die geheimnisumwitterten unterirdischen Anlagen der Alpenfestung trugen stark zur Produktion von Imagination bei. Das Reduit mit seinen gegen aussen gerichteten Stacheln der Kanonenrohre war uneinnehmbar, weil man daran glaubte. Diese imaginierte Unbesiegbarkeit festigte im Kalten Krieg den Reduit-Mythos.
Friedrich Dürrenmatt sagte 1986 in einem Interview über das Reduit: «Ich greife die Schweizer im Zweiten Weltkrieg überhaupt nicht an. Das war die einzig mögliche Politik, und der Gedanke des Reduits war ein genialer Gedanke, der darin besteht, dass die Armee sich selber schützt und das Volk im Stich lässt. Absolut absurd! Aber es war die einzige Möglichkeit vom militärischen Denken her – so eine Art Nibelungenstrategie. Aber die Schweiz bezieht sich auf einen Heldenkampf, der nie stattgefunden hat.»50
Parteiische Neutralität
Die Bedrohung durch Nazi-Deutschland vermochte die sozialen Gegensätze unter dem Schirm der Geistigen Landesverteidigung zu kaschieren. Doch diese brachen nach dem Krieg auf, es kam zu Streiks, aber auch zu sozialen Reformen. Ende der 1940er-Jahre endete diese Phase des Umbruchs; der Kampf gegen den Kommunismus wurde wichtiger als sozialer Fortschritt; es setzte eine Phase der politischen und sozialen Stagnation ein. Dieser Kampf fiel in der Anfangsphase in eine Zeit, als die Schweiz ratlos und desorientiert war. Man war vom Krieg verschont geblieben, hatte sich aber in vielerlei Hinsicht nicht gerade ehrenvoll verhalten, was die Alliierten unmissverständlich deutlich machten. Sie sahen die Schweiz als Zudienerin der Nazis und Profiteurin des Kriegs. Doch die offizielle Schweiz sah keinen Grund, das eigene Verhalten infrage zu stellen, sondern fühlte sich dank Armee und Vorsehung verschont und kultivierte den «Sonderfall». Beschäftigt mit der eigenen Nabelschau, registrierte sie nicht, dass sich die Welt verändert, sich in zwei Blöcke gespalten hatte. Je mehr sich der Ost-West-Gegensatz akzentuierte, desto grösser wurde der Gegensatz zwischen der Zugehörigkeit zur westlichen Werte- und Schicksalsgemeinschaft und ihrer Position als neutraler Sonderfall.51
Innenpolitisch verschaffte sich der Bundesrat Luft, indem er die 173 Namen der «Eingabe der Zweihundert», die eine Anpassung der Schweizer Politik und Presse an diejenige von Nazi-Deutschland gefordert hatten, 1946 veröffentlichte. Damit richtete sich die ganze Wut auf diese «Landesverräter» und lenkte davon ab, dass sehr viele «ehrenwerte» Persönlichkeiten höchst profitable Kontakte zum Nazi-Regime gehabt hatten. Auch die Prozesse gegen «Landesverräter», in denen teilweise Todesurteile gesprochen wurden,