die Autorität hemmt und lähmt, soll verschwinden.»20
Etter war Antidemokrat, Antimodernist und Antisemit. Der machtbewusste, auch widersprüchliche Politiker sah in einem christlich-berufsständischen Ständestaat von vor 1848 sein Ideal. Die elitären und autoritären Vorstellungen des begnadeten Redners waren mit dem Schweizer Staatsverständnis schwer in Einklang zu bringen. Als die Frontenbewegung nach der Machtübertragung an Adolf Hitler im Aufwind war, warb Etter – ein Jahr vor seiner Wahl zum Bundesrat – offen um die Gunst der frontistischen Wähler: «Die neue Bewegung (des Frontismus) richtet sich in ihren gesunden Äusserungen gegen eine Geistesart, die unmöglich unserer Verteidigung anvertraut sein kann. Im Gegenteil! Ich vertrete die Auffassung, dass vieles (freilich nicht alles!) in der neuen Bewegung durchaus gut ist und dem Inhalt unseres konservativen Staats- und Gesellschaftsprogramms entspricht.»21 Auch forderte er in derselben Schrift von 1933, dass im Namen der «geistigen Gesundheit» die Freiheit von Presse, Literatur und Kunst einzuschränken sei. Als «starke Trägerin der staatlichen Autorität» sollte die Armee eine wichtige Rolle erhalten. Sie sei «die Schützerin der geistigen und kulturellen Werte gegen die Kräfte der Zersetzung und des Umsturzes».22 Mit diesen Kräften meinte er weniger den Faschismus als den Kommunismus. Während des Zweiten Weltkriegs verfolgte Etter einen vorsichtigen Anpassungskurs an Nazi-Deutschland, und er war es auch, der die berüchtigte Rede von Bundesrat Marcel Pilet-Golaz von 1940, die als Kniefall vor Nazi-Deutschland interpretiert werden konnte, redigierte und auf Deutsch hielt.23
«Antitotalitärer Kompromiss» und «helvetischer Totalitarismus»
Das kulturelle Programm der Geistigen Landesverteidigung war darauf ausgerichtet, Althergebrachtes und Traditionelles zu schätzen und zu würdigen, ohne dass aber ausländische Tendenzen, die oft unter dem Begriff «Kulturbolschewismus» angeschwärzt wurden, verurteilt worden wären. Die Botschaft einer schollenverbundenen, rückwärtsgewandten, alpinen und wehrhaften Bauernnation, die in gefährliche Nähe zur Blut-und-Boden-Ideologie der Nazis geriet, wurde gewissermassen in den Rang einer Staatsdoktrin erhoben, die ihre gewünschte Wirkung in der Kultur- und Bildungspolitik entfaltete. Hier bildete sich ein von rechtskonservativem Nationalismus durchdrungenes Gedankengut aus, das sich vorwiegend in der deutschen Schweiz breitmachte. Positiv lässt sich vermerken, dass sie die drei Landessprachen – später vier – fördern wollte.
Angesichts der Bedrohung am Vorabend des Zweiten Weltkriegs begrüssten Kulturschaffende von rechts bis links emphatisch die Grundlagen der Geistigen Landesverteidigung, die rasch grosse Verbreitung fanden. Weil das Konzept der Geistigen Landesverteidigung unverbindlich und nach allen Seiten offen war, die «Eigenarten der Schweiz» nicht konkretisiert wurden, bildeten sich je nach politischem Standpunkt unterschiedliche Spielarten heraus.
Die konservative bis rechte Definition der Geistigen Landesverteidigung strebte eine Umgestaltung der Schweiz in einem autoritären, antidemokratischen und ständestaatlichen Sinn an und sympathisierte teilweise mit der nazifreundlichen Frontenbewegung. Sie setzte sich für Föderalismus, die Rechte der Familie und die Freiheit der Kirchen ein. Sympathisanten dieser Richtung fanden sich auf höchster politischer Ebene, etwa die Bundesräte Giuseppe Motta, Philipp Etter, Marcel Pilet-Golaz und ihr ehemaliger Kollege Jean-Marie Musy. Diese Richtung beherrschte den Diskurs.24 Die bürgerlich-liberale Definition verteidigte den freiheitlich-demokratischen Bundesstaat von 1848, die Rechtsstaatlichkeit und die Menschenrechte sowie die Schweiz als Willensnation.25
Die linksliberal-sozialdemokratisch-gewerkschaftliche Spielart, die sich um die «Richtlinienbewegung» gruppierte, zeichnete sich durch Antifaschismus, Bekenntnis zur demokratischen Verfassung und Einstehen für sozialpolitische Reformen und soziale Gerechtigkeit aus. Die Bejahung von demokratischen Aushandlungsprozessen statt einer revolutionären Umgestaltung wurde auch gefördert durch die Erfahrung der Niederlage im Landesstreik 1918, den reaktionären Rückschlag in den 1920er-Jahren, aber auch durch parlamentarische Erfolge der Arbeiterschaft auf Kantons- und Gemeindeebene. Gemeinsam war allen Strömungen die Betonung der geistig-kulturellen Eigenständigkeit der Schweiz, der Rückgriff aufs Historische, die Wiederbelebung der demokratischen Staatsform sowie eine Abwehrhaltung gegen aussen und die Rückbesinnung auf gemeinsame Werte.26
Die drei Lesarten der Geistigen Landesverteidigung waren weitgehend inkompatibel, wurden aber gleichwohl ins Gefäss einer nationalen Ideologie gegossen. Möglich wurde das, weil sich die politischen Differenzen angesichts der Bedrohung durch Nazi-Deutschland verwischt hatten. Mit der Betonung des Eidgenössisch-Nationalen, der Abgrenzung gegen aussen und der impliziten Verordnung eines kulturellen Mainstreams übernahm die Geistige Landesverteidigung Elemente einer Ideologie, die sie eigentlich bekämpfen wollte. Der «antitotalitäre Basiskompromiss» eines breiten politischen Bündnisses gemäss Kurt Imhof lässt sich deshalb auch nach Georg Kreis als «helvetischer Totalitarismus» lesen. Die heutige Deutung der Geistigen Landesverteidigung geht eher Richtung kultureller Offenheit. Das zeigt sich etwa darin, dass auch linke Künstler und Intellektuelle sich an der «Landi» 39, diesem symbolischen Höhepunkt der Geistigen Landesverteidigung, beteiligten. So gestaltete Hans Erni das monumentale Wandgemälde in realistischem Stil, womit er bekannt und von der Linken geschätzt wurde. Konzeptionell arbeitete an diesem Gemälde sein Freund Konrad Farner mit. Und am Bulletin zur Landesausstellung wirkte Theo Pinkus mit, später das Feindbild des Bürgertums schlechthin. Dass sich auch Linke mit der Geistigen Landesverteidigung identifizieren konnten, zeigt, wie vage, wie deutungsoffen und ambivalent sie war.
Viele Schweizer Schriftsteller stellten sich mit aufbauenden, positiven und lebensbejahenden Geschichten in den Dienst der Geistigen Landesverteidigung und merkten dabei nicht, «wie ähnlich ihre Produkte den in den Nachbarländern noch geduldeten waren».27 Sie stellten ihr Schaffen «in den Dienst einer schweizerischen Integrationsideologie, die Fremdes als unschweizerisch diffamierte».28 Das ging bis hin zu Antisemitismus, als Ferdinand Rieser, dem 1938 in die USA emigrierten jüdischen Direktor des Zürcher Schauspielhauses, vorgeworfen wurde, er vernachlässige die Schweizer Dramatik. Für die einheimischen Kulturschaffenden hatte die Geistige Landesverteidigung den angenehmen Nebeneffekt, dass in dieser wirtschaftlich schwierigen Zeit die ausländische Konkurrenz weitgehend ausgeschaltet wurde, nicht selten mithilfe der Fremdenpolizei.
Was genau die Geistige Landesverteidigung war, konnte wohl kaum jemand definieren; es gab weder Leitplanken noch Handlungsanweisungen, doch alle wussten, was gemeint war. Zensur und die Schere im Kopf, eine durch Sozialisation geprägte Vorstellung von «schweizerischen» Verhaltensnormen verhinderten, dass man sich gegen diese nebulöse Doktrin aufgelehnt hätte. Der Widerstand wäre nicht als ein Auflehnen gegen einen Diktator oder eine autoritäre Staatsmacht verstanden worden, sondern als Rebellion gegen die Gemeinschaft der Wohlmeinenden und Redlichen, gegen das «Schweizerische» an sich. Einer, der schon Jahre zuvor den Konformitätsdruck verspürt hatte, war der Schriftsteller Ludwig Hohl, der in seinen 1934–1936 entstandenen Notizen schrieb: «Schweiz. Die Starrheit ergreift nach und nach, ohne dass sie es merken, auch die Besten, und sie werden wie mit einer Glasur überzogen. Du siehst es mit Entsetzen und fürchtest, dass sie nach und nach ganz und gar zementiert werden.»29 Ein Kritiker war auch der Theologe Karl Barth, der die von etlichen Theologen verwendete Bezeichnung eines «Schweizerchristentums», die Vermischung von Religion und Glaube einerseits, Nationalismus, Rasse, Helden- und Ahnenverehrung andererseits, verurteilte. In einer Rede 1938 sagte er: «Man braucht kein Hellseher zu sein, wenn man in aller Ruhe konstatiert: der Nationalsozialismus hat schon nach uns gegriffen; er ist schon da, auch bei uns in der Schweiz. Ich denke dabei am allerwenigsten an die sogenannten Fronten. Ich denke an die zahlreichen Einbruchstellen in allen Kreisen, auch in den christlichen Kreisen unseres Volkes […] Ich denke an das unter dem Titel der ‹geistigen Landesverteidigung› ersonnene Spottgebilde eines neuen helvetischen Nationalismus mit dazugehörendem ‹bodenständigem Antisemitismus› – o ihr Kindsköpfe!»30
Bundesrat Etter forderte in seiner Botschaft eine Stiftung zur Förderung der geistigen Werte im Inland und zur Kulturwerbung im Ausland, die 1939 als «Pro Helvetia» gegründet wurde. Aus ihr ging aufgrund eines Truppenbefehls von General Henri Guisan die Sektion Heer und Haus hervor, deren Aufgabe vorerst war, die Truppen zu unterhalten und zu