Maria Herrmann

Vom Wandern und Wundern


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alles irgendwann eins sein möge. Nicht mehr so strukturell gedacht. Nicht so sehr mit Blick auf das, was uns voneinander unterscheidet, sondern eher auf das, was uns eint. Wir wollen Traditionen weiterführen und schätzen lernen, was es schon gibt, aber ebenso Innovationen weiterdenken, damit es irgendwann noch mehr gibt. Wir wollen eine Haltung entwickeln, die einlädt zum Halt. Wie ein Stoppschild, um Gelegenheit zu haben, noch mal kurz nach rechts und links zu blicken und sich zu fragen, ob man noch der richtigen Spur folgt. Wir wollen das Evangelium auf unser Leben übertragen und unseren Alltag unterbrechen. Frohe Botschaften verbreiten. Nicht Erster sein, nicht Letzter, sondern Nächster. Wunden in Wunder verwandeln. Den Himmel auf die Erde holen. Neue Worte finden. Buchstabe für Buchstabe. Zeile für Zeile.

      Seitdem ich öffentlich schreibe, ist meine Sehnsucht nach Verortung in einem expliziten Kirchenraum etwas kleiner geworden. Weil längst andere Räume entstanden sind. Räume der Begegnung und des Austausches, des Schenkens und des Beschenktwerdens. Aus Fremden wurden Freunde. Das Fremdgefühl verbindet uns miteinander. Wir, die dazwischen sind, sind es nun gemeinsam. Wir, die gegen Schubladendenken sind, bauen zusammen Regalwände. Wir, aus der Familie der Christinnen und Christen, feiern Familienfeste, werden zu Wahlverwandten. Vielfach virtuell, aber wenn wir uns dann doch mal im echten Leben treffen, fühlen wir uns an wie Vertraute. Wir lesen uns in- und auswendig. Welch ein Glück. Welch eine Gnade.

      Und dann, ohne dass ich es drauf angelegt habe, gibt es auf einmal auch in bestehenden Kirchenräumen einen Platz für mich und mein Schreiben. Vielleicht, weil sich auch dort so viele dazwischen fühlen, so viele auf der Suche sind, nur haben wir bisher nie miteinander gesprochen, nichts voneinander geahnt. Ich werde eingeladen, meine Gedanken zu teilen, denjenigen meine Worte zu leihen, denen sie selbst so sehr fehlen. Mit einem Kopf in den Wolken, Fantasie bis zum Himmel und einer Liebe zum geschriebenen Wort. Das war ich auch als Zwölfjährige schon. Heute wird mir zugehört. So manches Mal war ich überrascht, wenn eine Anfrage in meinem Postfach landete: Ein Text, der vom Suchen erzählt, wurde gewünscht. Tröstend und trotzig. Liebevoll und leidenschaftlich. Ehrlich und erfinderisch. Für Katholikinnen, Evangelikale, Lutheraner und all die anderen. In jeder Kathedrale, Kirche und Kapelle scheint es sie zu geben, die Suchenden. Die vielleicht mit ihrem Latein am Ende sind, aber nicht mit ihrer Liebe. Ich suche Worte für sie, für mich, für uns.

      Verbunden sein und frei

      Glücksforscher sind sich einig: Am glücklichsten sind Menschen in Verbundenheit und Freiheit. Ich finde, diesen Satz könnte man wunderbar auch theologisch umformulieren in: „Am gläubigsten sind Menschen in Verbundenheit und Freiheit.“ Es ist wohl nur allzu menschlich, die Welt unterteilen zu wollen, sie in Schubladen zu quetschen und sorgsam zu etikettieren. Damit es keine bösen Überraschungen gibt, wenn man mal eine von ihnen öffnet. Wir suchen die Ähnlichkeit und die Verbundenheit. Auch ich tue das. Ich, die ich eine Suchende bin, geprägt vom katholischen Glauben, aber oft sehr viel weiter ausgerichtet, suche nach Menschen, denen es ähnlich geht wie mir. Mit denen ich mich verbunden fühle. Und sei es nur darin, dass wir gemeinsam nicht in andere Schubladen zu passen scheinen. Ich bin am gläubigsten, wenn ich darin ein großes Geschenk erkennen kann: gemeinsam mit anderen auf der Suche zu sein. Nach dem goldenen Kern, der unser aller Leben ausmacht, der uns eine Tiefe schenkt, uns segnet und begnadet. Nach einem Funken Gottes in jedem von uns. Nach dem, wovon die Väter und Mütter unserer Großfamilie aus Christinnen und Christen jahrtausendelang erzählt haben. Nach dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist. Nach der Quelle der Kunst, der Schönheit und der Liebe. Nach dem Angebot an die Menschheit, dem Angebot des ultimativ Guten. Nach Gott, der in den Worten wohnt und damit auch in meinen. Die Suche danach verbindet uns miteinander. Sie macht mich gläubig.

      Aber genauso gläubig, glücklich und geliebt fühle ich mich, wenn ich merke, dass es eine Freiheit gibt. Dort, wo ich lebe, schreibe und bete. Wenn Fantasie und Glauben sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern beflügeln. Wenn die Vorstellung, dass Gott ein Angebot an die Menschheit ist, nicht gleich mit frommen Floskeln entlarvt wird, sondern gehört wird. Wenn es ein Bleiberecht gibt für jede und für jeden. Wenn „Willkommen“ zum Lieblingswort gekürt wird. Wenn alle eine Krone der Schöpfung tragen. Ich erwarte nicht, dass alle das Gleiche glauben oder hoffen oder beten. Kein bisschen erwarte ich das. Ich wünsche mir nur die Freiheit, dass all dieses Glauben, Hoffen und Beten sein darf. Dass es Ausdruck findet. Ganz so, wie es zu jeder und zu jedem eben passt.

      Wenn ich mir eine Kirche erschreiben könnte, würde sie vielleicht ein wenig einem Pfadfindersommer gleichen: Das Shirt unter dem Rucksack ist nass vor Schweiß und die Füße freuen sich, endlich nackt durch hohes Gras zu laufen. Flockiges Kartoffelpüree mit Paprikapulver, gekocht auf einem Camping-Kocher, ist ein echtes Festessen. Am Lagerfeuer werden Lieder geteilt, Geschichten und erste Küsse, Lebensmittel und Lebensmitte. Und oft auch das Fenistil-Gel. Die Handys liegen zu Hause, und trotzdem ist alles in uns auf Empfang gestellt. Wir erzählen von gestern, von heute und von morgen. Finden neue Worte für alte Geschichten, erinnern uns an unsere Wurzeln und träumen von Flügeln. Es gibt guten Kaffee und Fladenbrot und grüne Halstücher erinnern auch äußerlich an unsere Verbundenheit miteinander. Aber gleichzeitig herrscht die Freiheit, das Halstuch abzulegen, wenn es einem zu eng erscheint. Immer wieder begeben wir uns auf Zeltplatzsuche, suchen ein Dach für unsere Sehnsüchte. Denn es gibt zu viele schöne Orte auf der Welt, um allezeit am gleichen Platz zu bleiben, und außerdem sind wir gern miteinander unterwegs. Wir bauen Regalwände und immer mal wieder stoßen Menschen zu uns. „Willkommen“ ist unser Lieblingswort. An jedem Tag gibt es ein paar heilige Momente und Geschenke, die es auszupacken gilt. Wir sammeln sie und nehmen sie mit auf unseren Weg. Im Rucksack ist genug Platz für sie alle. Wir feiern Familienfeste und aus Fremden werden Freunde. Geschlafen wird im Tausend-Sterne-Hotel, denn wenn man das Zeltverdeck nur ein wenig öffnet, kann man den Himmel sehen und erahnen, dass es einen goldenen Kern gibt, der unser Menschenleben überstrahlt, es segnet und beseelt. Wir singen, bevor wir in unsere Schlafsäcke kriechen und das Lagerfeuer nur noch glimmt: „Der Himmel wölbt sich übers Land. Gut Nacht, auf Wiedersehen. Wir ruhen all in Gottes Hand. Gut Pfad, auf Wiedersehen“, und fühlen uns wunderbar geborgen. Wir brauchen nicht viel zum Glücklichsein. Weniges genügt uns. Wir genügen einander. So wie wir sind. Jetzt gerade. Morgen werden wir weitergehen. Warum nicht?

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