Maria Herrmann

Vom Wandern und Wundern


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Christus“ e. V.) übernommen wurde – eine typische Kooperation. Mein Gemeindebild wurde in diesem Kontext stark geprägt von wöchentlich stattfindenden Kreisen für Jung und Alt, aktiven ehrenamtlichen Mitarbeitern und dem pietistisch verkündeten Evangelium, das all das zusammenhält. Und plötzlich soll eine Wundergeschichte auch ein Bild für Gemeinde sein? Bis zu diesem Zeitpunkt waren Wundergeschichten für mich nicht mehr als viel erzählte Geschichten über Wunder, die Jesus getan hat. Weder war es für mich denkbar, dass dasselbe heute noch mal passiert, noch verstand ich die Lebendigkeit dahinter, schließlich wurde in meinem Umfeld meistens sehr texttreu und nüchtern gepredigt.

      Jesus heilt einen Gelähmten, schön. Jesus ist also in Kapernaum, das Haus brechend voll mit Menschen, vier Männer bringen einen Gelähmten, decken das Dach ab, lassen den Gelähmten hinab und Jesus spricht ihm Vergebung seiner Sünden zu. Die anwesenden Schriftgelehrten finden das anmaßend – wie kann dieser irre Zimmermann aus Nazareth das tun? Jesus setzt eins drauf und heilt den Gelähmten auch noch, der daraufhin aufsteht und geht. Dieses Erlebnis muss für alle Anwesenden der finale Gottesbeweis gewesen sein, schließlich fingen dann alle an, Gott zu loben.

      Schauen wir uns mal die beteiligten Personen und Personengruppen an. Jesus ist der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. Alle sind und alles ist auf ihn ausgerichtet oder von ihm bestimmt. Zu ihm wird ein Gelähmter gebracht, der nicht mehr alleine gehen kann. Dessen körperliche Gebrechen für alle offensichtlich sind. Er braucht Hilfe und lässt sich von vier Männern tragen. Wir wissen nicht, ob der Gelähmte und die vier Männer Freunde sind, ob sie überhaupt in irgendeinem Verhältnis zueinander stehen. Aber die Bindung reicht so weit, dass die vier Männer einen Umweg in Kauf nehmen, um den Gelähmten zu Jesus zu bringen. Sie decken das Dach ab. Das ist keine Tätigkeit, die man schnell erledigt, und auch keine, die ohne Folgen bleiben würde. Wer weiß schon, wie der Hausbesitzer reagieren würde? Der Text verrät uns das leider nicht. Die vier Männer sehen aber keinen anderen Weg, zu Jesus zu kommen, denn eine große Menschenmenge versperrt den Weg. Es scheint, als wäre die Menschenmenge so sehr auf die Botschaft von Jesus konzentriert und damit beschäftigt, auch wirklich etwas von dem zu sehen, der sich für den Sohn Gottes hält, dass ihnen ihre Umwelt egal zu sein scheint. Die vier Männer werden übersehen oder nicht ernst genommen. Kein Durchkommen. In der Menschenmenge halten sich auch noch Schriftgelehrte auf. Diese Schriftgelehrten waren nicht da, weil sie sich von Jesus überzeugen lassen wollten. Ich würde ihnen sogar Sensationsgier und eine ordentliche Portion Skepsis unterstellen. Sie, die jahrelang studiert hatten, müssen sich doch mal davon überzeugen, dass dieser Jesus, dieser Zimmermann aus Nazareth, ihnen ganz sicher nicht das Wasser reichen kann. Sie kennen Jesus nur vom Hörensagen und es liegt ihnen fern, ihn näher kennenzulernen. Und Jesus? Jesus setzt seine Prioritäten anders, als man es von ihm erwartet. Anstatt den Gelähmten zu heilen, spricht er ihm zunächst die Vergebung seiner Sünden zu. „Deine Sünden sind dir vergeben.“ Für mich gibt es nur wenige Sätze in der Bibel, die mehr in meine Lebensrealität eingreifen.

      Wie wurde aus den handelnden Personen hier dann für mich ein Bild für Gemeinde, das mein bisher dagewesenes sprengte? Ich kann heute nicht mehr sagen, wie ich Gemeinde definieren würde, denn keiner meiner neuen Definitionsversuche erreicht die alte Funktionalität. Die alte Funktionalität kann aber auch gar nicht mehr erreicht werden, denn ich habe mich zu sehr verändert. Ich möchte niemandem absprechen, sich Gruppen, Gemeinschaften oder Konfessionen zugehörig zu fühlen. Aber letztendlich sind wir alle Individuen und als Ebenbilder Gottes wunderbar einzigartig gemacht. Gemeinde entsteht durch Gemeinschaft. Aber diese Gemeinschaft ist nicht von einer Ortsgemeinde abhängig, die als lokal gebundener Ableger der weltweiten Gemeinde Gottes gesehen werden kann, nicht an Zeit und Raum, nicht an Konfessionen, nicht an die Teppichbodenfarbe im Gemeindehaus, nicht an einzelne Personen, nicht an Haupt- oder Ehrenamt. Die hier aufgezählten Merkmale können einer Gemeinde zugeordnet sein, aber diese Merkmale machen sie nicht zu einer Gemeinde. Für mich beginnt Gemeinde immer dann, wo zwei oder drei in Jesu Namen versammelt sind. Es ist simpel, aber für mich das einzige Merkmal, das immer bestehen bleibt. Nur lässt sich für mich daraus keine Definition formulieren, mit der ich zufrieden bin. Gemeinde ist für mich auch immer dynamisch, ständig in Bewegung. Wenn ich mich bewege, bewegt sich die Gemeinde automatisch mit. Ich kann in einer Gemeinde ein Teil der Menschenmenge sein, wie sie in der Wundererzählung von Jesus und dem Gelähmten beschrieben ist. Manchmal tut es gut, sich das Geschehen einfach nur anzuschauen. Irgendwo hinzugehen, weil man gehört hat, dass Jesus da sein wird, und wer weiß, vielleicht passiert ja etwas. Ich bin ein Teil des Ganzen, und es ist egal, ob ich wirklich aufmerksam zuschaue, ob ich während der Predigt Gummibärchen esse, mir währenddessen einfällt, dass die Steuererklärung noch nicht fertig ist, oder ob ich einfach wieder nach Hause gehe. Es ist auch nicht wichtig, ob ich nächste Woche tatsächlich der Einladung der Pfarrerin folge und zum Kirchenkaffee gehe, weil ich das letzte Mal schon dort war. Es zählt, dass ich jetzt dabei bin. Denn um mich herum passiert etwas. Etwas, das ich vielleicht auch erst dann wahrnehme, wenn man mich direkt daraufstößt. Gott wirkt. Mein Gottesbild verändert sich nicht unbedingt, weil Jesus den Gelähmten geheilt hat, aber er hat es damit in irgendeiner Weise bekräftigt. Ja, mein Gott heilt zerbrochene Herzen und verbindet Wunden. Ob mir aufgefallen wäre, dass die vier Männer das Dach abdecken? Ich bin mir sicher, dass es in jeder Gemeinde tragende Personen gibt. Solche, die das Gemeindeleben und Miteinander aufrechterhalten, weil sie Gelähmte, also Menschen, die nicht mehr alleine gehen können, zu Jesus bringen. Damit meine ich nicht nur den streng missionarischen Ansatz. Natürlich gibt es unter ihnen die „missionarisch Begabten“, diejenigen, die Menschen aktiv zu Jesus bringen, um im Bild zu bleiben. Aber es geht mir hier vor allem auch um die Personen, die mich in meinem eigenen, vielleicht eher metaphorischen Gelähmtsein weiter-tragen können. Für mich zählen dazu offene Ohren, die sich anhören, was ich erlebt habe. Es sind auch die Menschen gemeint, die meine Augen für Neues öffnen. Diese Brüder und Schwestern, die aufgrund ihrer Erfahrungen meine Sichtweise und meinen Standpunkt in Frage stellen können, mir ein Aufstehen ermöglichen und mir einen neuen Weg zu Jesus offenbaren. Wege, die mir vielleicht nie gezeigt wurden, oder Blickwinkel, die ich ohne diese Menschen nie hätte einnehmen können. Ob der Gelähmte vorher wohl schon mal von einem Dach herunterblicken konnte? Diese vier Männer haben es ihm ermöglicht. Ich habe mich oft gefragt, ob die vier Männer gemeinsam den Entschluss gefasst haben, diesen Mann auf das Dach zu tragen und ihn vor Jesus zu bringen, oder ob einer der Männer sich Helfer gesucht hat, weil er gemerkt hat, dass er alleine das nicht schaffen wird, ihm aber die Notwendigkeit seines Handelns klar war. Im Laufe der Zeit wurde mir auch bewusst, dass es viele (Orts-)Gemeinden gibt, in denen Hauptamtliche die Tragenden sind. Oder noch schlimmer, alleine die Hauptamtlichen als Tragende gesehen werden. Für mich ist das bis heute fremd. Meine Ursprungsgemeinde basierte zu größten Teilen auf ehrenamtlicher Arbeit. Für mich steht fest, dass „Tragender sein“ nicht an ein Amt oder eine Rolle, die ich in einer Gemeinde einnehme, gebunden ist. Ebenfalls ist auch „Gelähmt sein“ keine Eigenschaft, die von Dauer ist. Jesus fordert dich auf zu gehen. Nimm deine Matte und gehe. Tragen und sich tragen lassen. Um tragen zu können, muss ich mich selbst tragen lassen. Es gibt vieles, was einen Menschen lähmen kann. Ob das nun Erfahrungen und Erlebnisse sind, die man machen musste, der Verlust von nahen Menschen oder andere Dinge, die einen vorübergehend aus der Bahn werfen. Für mich ist dieses Gelähmtsein aber auch ein Mangel. Es mangelt an der Fähigkeit, gehen zu können. In vielen Situationen war ich gelähmt, weil mir etwas fehlte. Mut, Weitsicht, Wissen, Verständnis, Vertrauen, Interesse, Kraft …, um nur einiges davon zu erwähnen. Oft fehlt auch die Einsicht, dass man gelähmt ist und Hilfe braucht. Hier kommen wieder die tragenden Personen ins Spiel. Sie erkennen mich und meinen Mangel. Sich tragen zu lassen bedeutet auch, kein Einzelkämpfer zu sein. Die Notwendigkeit des Miteinanders ist auch ein Geschenk, das Gott seiner Schöpfung gemacht hat.

      Allerdings gibt es auch Arten des Miteinanders, auf die man gerne verzichtet. Für mich werden diese hier verkörpert durch die Schriftgelehrten. Sie sind nur da, weil diesem Jesus ein Ruf vorauseilt, den sie dringend überprüfen müssen. Was ist an dem dran, was so erzählt wird? Sie sind skeptisch, wollen Jesus nicht als Gottes Sohn anerkennen und versuchen natürlich, seine Autorität in Frage zu stellen. Sie glauben an Gott, keine Frage. Das wissen auch alle Anwesenden. Sie sind ein Teil der ganzen Geschichte, der nicht fehlen darf. Genauso wie es die heutigen Schriftgelehrten in einer Gemeinde geben muss. Damit meine ich