Ich bin fest davon überzeugt, dass dieser Vorwurf genauso alt ist wie Kirche an sich. Allerdings wird Gemeinde damit nicht zum offenen Miteinander. Auch wundere ich mich oft, wie so viele Menschen zusammenkommen konnten, um Jesus zu sehen. Natürlich war Jesus zu der Zeit schon bekannt und über ihn wurden Geschichten erzählt, die auf jeden Fall neugierig machten. Wenn er sich denn schon mal in Kapernaum niederlässt, dann kann man da ja auch mal vorbeischauen. Ein kleines Event in der Stadt, das schadet ja nie. Wieso eilen unseren Gemeinden solche Geschichten nicht voraus? Ich möchte an dieser Stelle nicht nur für meine Denomination und Konfession sprechen, sondern für den weltweiten Leib Christi. Das Letzte, was Jesus vor seiner Verhaftung getan hat, war, für die Einheit der Christen zu beten. Wahrscheinlich, weil er wusste, dass wir das zuerst an die Wand fahren würden. Man macht es sich nämlich zu leicht, wenn man Fragen, die gestellt werden, abwendet, indem man „Ja, das ist bei denen so, bei uns aber ist das ganz anders!“ antwortet. Die Botschaft an sich hat sich doch seit über 2000 Jahren nicht geändert. Und Gott ist derselbe, gestern, heute und in Ewigkeit. Fakt ist: Man muss sich in Bewegung setzen lassen, um ein Wunder zu sehen. Aber sind wir so sehr mit uns beschäftigt, dass wir vergessen, dass wir auch noch einen weltumfassenden Auftrag haben? „Jesus Christus spricht: Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“ Jesus richtet diesen Auftrag an gerade mal elf Jünger, wovon einige auch noch zweifelten. Es ist nicht so, dass Jesus mit diesen Jüngern seine Marketing-Abteilung zusammengestellt hat, die sich fortan um das Image Gottes kümmern soll. Hier finden wir aber den Zuspruch, dass Gott uns mit all seiner Autorität gebrauchen möchte, dass alle Menschen von ihm hören. Jesus möchte, dass wir Jünger machen. Solche, die rausgehen, Milieu, Heimat und Kirchengebäude verlassen und die Augen offenhalten und nach Menschen suchen, die noch nichts von Jesus gehört haben und ihr Hausdach abdecken lassen, damit Menschen in ihrer Mitte Wunder erleben. Solche, die unbequem werden können, weil sie Jesus herausfordern, oder diese, die einen Gelähmten vor Jesu Füße legen. Ich habe viel über mein eigenes Missionsverständnis und über das Missionsverständnis, mit dem ich im Glauben wachsen durfte, nachgedacht. Erstaunlich, wie sehr für mich der Begriff „Mission“ mit fremden Ländern, Ehepaaren mit drei oder mehr Kindern und Evangelisationsveranstaltungen verbunden war, bis ich mich persönlich mit dem Missionsbefehl auseinandergesetzt habe. Und bis heute ist nicht „Gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker“ der Teil, mit dem ich mich am meisten identifizieren kann, sondern der Teil danach: „Lehret sie zu halten alles, was ich euch befohlen habe.“ Das ist auch Mission. Und dieser Auftrag schickt mich nicht in fremde Länder, sondern fängt bei mir an. Wenn ich lehren will, brauche ich Wissen und die Fähigkeit, dieses zu vermitteln. Dieses Wissen habe ich lange aus meiner Gemeinde, geistlichen Vorbildern, meinem Milieu und meinen Erfahrungen dort gezogen. Jetzt, wo sich mein Leben in den letzten Jahren mehr und mehr verändert hat, hat sich auch mein Platz in dem Gefüge verschoben. Mir ist wichtig geworden, dass Mission auf Augenhöhe passieren muss. Für mich manifestierte sich immer mehr, was lange Zeit nur im Raum schwebte. Wenn es mir so schwerfällt, mein geistliches Leben nach alten Maßstäben zu füllen, bzw. das, was mein geistliches Leben erfüllt, nicht den Vorstellungen vieler meiner Gemeindegeschwister entspricht, dann bedeutet das nicht, dass ich nicht trotzdem (oder gerade deswegen) Teil des ganzen Geschehens sein kann. Egal, ob ich Menschenmenge, Schriftgelehrte, Gelähmte oder Tragende bin. Festgefahrene Strukturen schaden einer Gemeinschaft, und es ist erstaunlich, wie sehr man sich ihnen beugt, weil das immer schon so war. Erstaunlicherweise fällt auch kaum auf, wie sehr das anstrengt! Auf Augenhöhe begeben heißt für mich, jede Situation neu zu erfassen. Wo bin ich, wo steht mein Gegenüber, welche An- bzw. Verknüpfungspunkte finde ich, findet mein Gegenüber? Das wird meine persönliche Aufgabe, die ich daraus ziehe, denn „alles, was ich euch befohlen habe“, ist unendlich. Mein Unwohlsein in einer Situation darf sein, aber ich darf mich daran nicht aufhängen oder darin verharren, sondern darf wieder das suchen, was Heimat ausmacht. Ich muss meine Erwartungen beiseitelegen, um wirklich wahrnehmen zu können, was direkt vor meiner Nase passiert, „… denn siehe, er ist bei mir, alle Tage“. Oft muss ich dafür meine persönliche Antwort auf die Aufforderung von Jesu „Komm und folge mir nach!“ neu finden, ich muss wissen, wo ich gerade stehe, um den Weg weitergehen zu können. Ich möchte mit dieser Aufforderung nicht plakativ werden. Natürlich sagt Jesus selbst, dass Nachfolge nicht einfach ist. Aber ich bin mir sicher, dass jeder Mensch auf sich aufpassen muss und nicht einfach losziehen kann. Wenn man nach außen aktiv ist, muss man nach innen genug Möglichkeiten haben, aufzutanken, sich zu erholen und passiv zu sein. Leider geht das in Gemeinden, in denen viel ehrenamtlich gemacht wird, häufig unter. Aber auch Hauptamtlichen fehlt das Getragensein. Es fehlt am achtsamen Miteinander. Wie großartig ist es hier, von Jesus zugesprochen zu bekommen, dass meine Sünden vergeben sind! Diese Geschichte aber zeigt mir deutlich, dass Begeisterung für Jesus aus vollkommen unterschiedlichen Situationen heraus entstehen kann. Egal in welcher Rolle ich komme und egal in welcher ich gehe. Vielleicht gehört es auch zum Leben eines Christen, sich immer wieder neu auszurichten. Möglicherweise ist es auch genau das, was Augustinus gemeint hat, als er in seinem Bekenntnis schrieb: „Ruhelos ist unser Herz, bis es ruht in dir.“ Mir wurde auch klar, dass es nicht nötig ist, dass alle Jesus so schnell wie möglich kennenlernen. Wer weiß, wie oft die Anwesenden in Kapernaum vorher schon Jesus erlebt haben, und wer weiß, wie es bei ihnen nach diesem Wundererlebnis weitergehen wird. Aber jetzt, für den Moment, wissen alle Beteiligten, dass Jesus der Sohn Gottes ist.
Hanna Buiting
Worte statt Orte oder: Wie ich anfing, meine Kirche neu zu buchstabieren
Das Shirt unter dem Rucksack ist nass vor Schweiß, die Füße freuen sich, endlich nackt durch hohes Gras zu laufen, und flockiges Kartoffelpüree mit Paprikapulver, gekocht auf einem Camping-Kocher, ist ein echtes Festessen. Es ist ein Sommer vor einigen Jahren. Wir sind gemeinsam unterwegs. Mit Rucksäcken, in denen sich unser Hab und Gut für zwei Sommerferienwochen befindet. Mit klobigen Schuhen an den Füßen, die wir in der Innenstadt niemals tragen würden, die im Gebirge aber ganz okay sind. Mit einem grünen Halstuch um den Hals, das anzeigt, dass wir Pfadis sind und zusammengehören. Außerdem teilen wir Mückenstiche. Auch sie verbinden uns. Das Fenistil-Gel wandert zwischen uns hin und her. Eins für alle und alle für eins. Wir sind eine kleine Gemeinde. Pfadfinderinnen und Pfadfinder auf dem Weg durch Frankreich. Und ich bin eine von ihnen.
Wenn ich heute überlege, wie ich mir Kirche wünsche und wie ich sie in der Wirklichkeit erlebe, dann denke ich manchmal an unseren Pfadfinder-Hike durch Frankreich zurück. Zwölf Jugendliche und drei Erwachsene. Wir reisen mit leichtem Gepäck und schlafen doch im Tausend-Sterne-Hotel. Unsere Handys liegen zu Hause, und doch ist alles in uns auf Empfang gestellt. Wir teilen. Lebensmittel und Lebensmitte. Wir singen, bevor wir in unsere Schlafsäcke kriechen und das Lagerfeuer nur noch glimmt: „Der Himmel wölbt sich übers Land. Gut Nacht, auf Wiedersehen. Wir ruhen all in Gottes Hand. Gut Pfad, auf Wiedersehen“, und fühlen uns wunderbar geborgen. Wir brauchen nicht viel zum Glücklichsein. Weniges genügt uns. Wir genügen einander. So wie wir sind. Jetzt gerade.
Nach zwei wunder-vollen Wochen kehren wir nach Hause zurück in den Schatten des Kirchturms, von dem aus wir losgelaufen sind. Der Sommer hat uns verändert. Innerlich und äußerlich. Wir kehren zurück mit Sommersprossen im Gesicht, Lagerfeuerliedern im Ohr und ein paar Aufnähern mehr an der Kluft. Unsere grünen Halstücher tragen wir mit Stolz. Im Sonntagsgottesdienst erwähnt der Priester kurz, dass wir wieder da seien. Alle wohlbehalten zurück im Schoße der Gemeinde. Diese Worte wählt er tatsächlich. Der Rest des Gottesdienstes zieht an uns vorüber, hat nichts mehr zu tun mit Zeltplatzsuche, Blasen an den Füßen und ersten Küssen am Lagerfeuer. Hat nichts mehr zu tun mit uns. So jedenfalls fühlt es sich an. In den darauffolgenden Wochen gehe ich nicht mehr in die Kirche.
Keinen Platz haben
So war es schon oft in meinem Leben. Ich hatte das Gefühl, größte Gotteserlebnisse zu machen, habe gestaunt und gebetet, gezweifelt und geweint. Nur in meiner Kirche schien kein Platz dafür zu sein. Immer war da eine Grenze, oft unsichtbar, manchmal mehr als sichtbar. Du bist „eingeladen zum Fest des Glaubens“, aber sei bitte nicht so laut, nicht so forsch, nicht so fragend. Fürbitten vorlesen, okay,