Maria Herrmann

Vom Wandern und Wundern


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deren Handlungen und Worten ich innerlich die Augen verdrehe. Für mich sind das die „Das war schon immer so!“-Sager und Finger-Erheber, die mahnen und wachen über dem, was ihnen heilig ist. Die aufpassen, dass alles mit rechten Dingen zugeht und auch der Beleg über die 32 Cent, der bei der letzten Kassenprüfung nach dem Gemeindefest gefehlt hat, noch auftaucht. Ich weiß um mehrere Situationen, in denen ich zum penetranten Schriftgelehrten wurde und nicht besonders rücksichtsvoll mit meiner Gemeinde umgegangen bin. Situationen, in denen ich den geistlichen Mittelfinger erhoben habe, um mit einer gewissen Selbstzufriedenheit zu zeigen, dass sich am Ende alle vor Gott beugen müssen. Diese Schriftgelehrten sind anstrengend. Aber sie müssen da sein. Denn hier in unserer Geschichte bringen sie Jesus dazu, sich noch klarer auszudrücken und den Gelähmten tatsächlich zu heilen. Sie sind nicht die Wächter über Zucht und Ordnung, auch wenn sie es gerne wären. Sie sind diejenigen, die Jesus hier weiterwirken lassen und erkennen dürfen, dass dieser Jesus tatsächlich Gottes Sohn ist.

      Jesus steht im Mittelpunkt der Handlung. In jeder Gemeinde, in jeder Gemeinschaft steht er in der Mitte und alles, was passiert, passiert mit ihm und durch ihn. Ganz oft erwischt er mich eiskalt, weil er anders handelt, als ich es eigentlich erwarte. So wie er die Schriftgelehrten davon überzeugt hat, dass er Gottes Sohn ist. Bisher habe ich dieses Bild von Gemeinde und diese beteiligten Rollen als sehr statisch beschrieben. Doch mir ist wichtig, dass es eben nicht statisch verstanden werden kann, vielleicht sogar darf. Jede Person, die in Gemeinschaft steht, kann gleichzeitig mehrere Rollen einnehmen. Oder auch innerhalb von Beziehungen die Rolle wechseln. Heute Gelähmter sein und morgen Schriftgelehrter und gestern noch Tragender gewesen sein. Dieses Bild ist für mich nicht mehr an Ort und Zeit gebunden.

      Dies war nicht immer so. Damals, als ich zum ersten Mal davon gehört habe, dass diese Wundergeschichte auch ein Bild für das Gemeindeleben sein kann, war mir das nicht bewusst. Ich dachte, dass man eine Rolle hat und mit dieser Rolle lebt. Eigentlich verrückt, das zu glauben, zeigt doch die Geschichte ganz deutlich, dass sich die einzelnen Personen durchaus verändern! Der Gelähmte steht auf und geht. Die Schriftgelehrten loben Gott. Niemand bleibt da, wo er angefangen hat. Damals war das für mich noch anders. Dann durfte ich erleben, dass sich Lebenssituationen massiv ändern können, Lebensentwürfe im Papierkorb landen, von Plänen maximal noch Skizzen übrigbleiben. Durch diese Veränderungen änderte sich auch meine Rolle. Denn auf einmal konnte ich sie nicht mehr ausfüllen, sie passte mir nicht mehr. Wie ein alter Pullover, der durch jahrelanges Tragen so dünn geworden war, dass er eben nicht mehr richtig wärmt. Er passt noch irgendwie. Aber er erfüllt seinen Zweck nicht mehr. Ich wurde mir fremd und fing an, aus meiner Rolle herauszuwandern. Wenn ich mich ändere, ändert sich die Gemeinde auch, obwohl da vielleicht immer noch dieselben Personen sind. Es ändern sich Beziehungen und Freundschaften, die vorher Gemeinde ausgemacht haben. Verhältnisse wurden nun anders gepflegt, als das jahrelang vorher der Brauch war. Ich lernte, dass Gemeinschaft nicht als Kuschelclub funktionieren kann, sondern dass man Jesus als Maßstab für Gemeinschaft sehen muss. Wo es immer nur friedlich und höflich zugeht, wird es bald friedhöflich … Im Internet kursiert ein Bild, auf dem geschrieben steht: „If anyone asks you, ‚what would Jesus do?‘, remind them that flipping over the tables and chasing people with a whip is within the realm of possibilities.“ (Wenn dich jemand danach fragt, was Jesus tun würde, dann erinnere daran, dass auch Tische umwerfen und Leute verjagen zu den Möglichkeiten zählt.) Jesus handelt – nicht immer vorhersehbar, aber immer verständlich, so auch in dieser Wundererzählung. Und ich? Ich erkannte langsam, dass ich Gelähmte, Tragende, Menschenmenge und Schriftgelehrte in Personalunion bin. Gott sei Dank ist Jesus der Mittelpunkt meiner Geschichte. Denn hier sind die ersten Worte, die er an den Gelähmten richtet: „Deine Sünden sind dir vergeben.“ Ein Schriftgelehrter kann hier natürlich einwerfen, dass diese Worte nur an den Gelähmten gerichtet sind. Stimmt, aber auch die anderen Personen hören diesen Zuspruch! Ich gehe sogar so weit zu sagen, dass alle beteiligten Personen diesen Zuspruch annehmen dürfen. Und ich glaube, dass Jesus darauf seine Gemeinde bauen will. Eine authentische Gemeinde, die weiß, dass sie aus Sündern besteht, dass Jesus Sündern gnädig ist und Wunder an ihnen tut. Mit diesem Wissen können wir Menschen Gemeinschaft bilden. „T’was grace that brought us safe thus far and grace will lead us home“, singen wir in dem alten Lied „Amazing grace“. Genau diese Gnade, die Sünden vergibt, ermöglicht Gemeinschaft.

      Das bedeutet allerdings auch, dass wir in unserem Miteinander tiefer blicken müssen als aneinander vorbei. Keiner der Beteiligten hat hier das Recht, dem anderen seine Daseinsberechtigung abzusprechen, sie sind gleichermaßen am Geschehen beteiligt. Eine Gemeinschaft, wie sie hier bildlich dargestellt wird, gibt den Freiraum, so zu sein, wie man sich gerade fühlt. Egal ob ich getragen werden will oder ob ich selbst tragen möchte. Mich erwarten keine erhobenen Zeigefinger, wenn ich mich einbringen will, weil ich das Dach abdecke und einen Umweg gehe für jemanden, der selbst nicht mehr gehen kann. Ich darf meine Skepsis und meine kritischen Fragen äußern, wie es die Schriftgelehrten getan haben, und ich darf mich auch einfach mal berieseln lassen oder mal schauen, was denn da in diesem Haus passiert, so wie es die Menschenmenge gemacht hat. Die Grundvoraussetzung für all das ist einfach: Ich komme zu Jesus und er spricht mir zu, dass meine Sünden vergeben sind. Dass all das, was war, für jetzt nicht mehr wichtig ist, sondern er wirken möchte. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass diese Grundvoraussetzung sehr leicht gesagt ist, aber nicht ganz so leicht angenommen werden kann. Zum einen gibt es vieles, was mich dabei bremst, zu Jesus zu kommen. Bei dem Gelähmten war das offensichtlich schon der Weg, er alleine hätte nie zu Jesus kommen können. Für mich sind das oft persönliche Sachen, die ich zuerst in Ordnung bringen möchte, bevor ich zu Jesus komme. Zum anderen setze ich meine Prioritäten falsch. „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit …“ – eine ganz klare Anweisung zur Priorisierung. Mir ist selten bewusst, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, zu Jesus zu kommen. Dieses zu Jesus kommen hat ja auch ungefähr sieben Milliarden Gesichter. Jeder von uns hat seine eigenen Methoden, mit Jesus in Kontakt zu treten, und meistens vergessen wir dabei, dass Jesus auch in unseren Mitmenschen steckt. Dieser Gedanke meint nicht, dass es in Gemeinden nur noch Glaubenshelden und Profichristen geben soll, die treu die Bibel lesen, beten und ihrem Gemeindedienst nachkommen. Denn dieser Anspruch wird hier zunichtegemacht. Jeder hat und macht Fehler, kann nicht Glaubensheld werden, wenn nicht Jesu Zuspruch „Deine Sünden sind vergeben!“ angenommen wird. Manchmal spricht Jesus auch sehr direkt: „Nimm deine Matte und gehe.“ Ich glaube, das war diese eine Art der Aufforderung, die keinen Widerspruch und kein „Ja, aber …“ duldet. Der Gelähmte steht auf und geht. So schnell passieren Wunder!

      Dem Leser dürfte aufgefallen sein, dass diese Geschichte nicht endet, als der Gelähmte die illustre Runde verlässt. Sie endet, indem alle Beteiligten Gott loben und erkannt haben, dass Jesus Gottes Sohn ist. Begeisterung für Jesus entsteht hier aus vollkommen unterschiedlichen Situationen heraus. Ich frage mich, ob das wirklich das Ziel von perfekt gelebter Gemeinschaft ist: nach Hause gehen und Gott loben. Es ist eine schöne Vorstellung, keine Frage. Selbstverständlich wünsche ich mir Gemeinden und Gemeinschaften, die ihr Miteinander so authentisch leben, dass Leute das Geschehen verlassen und Gott loben, weil Jesus in ihrer Mitte steht und Wunder tut. Aber ich kann doch von meinem allmächtigen und gnädigen Gott nicht erwarten, dass das alles war. Darf ich überhaupt etwas von Gott erwarten?

      Erwartungshaltung. Damit habe ich mir schon viel kaputt gemacht. Man schließt von sich selbst auf andere und wird enttäuscht, weil die Erwartungen nicht erfüllt wurden. Ich bin mir sicher, dass jeder schon einmal diese Erfahrung machen durfte. Oft habe ich mir gewünscht, dass der Text weitergeht. Was passiert mit dem Gelähmten? Er nimmt seine Matte, steht auf und geht. Wo geht er hin? Vielleicht hat er ja Freunde und Familie, mit denen er seine Heilung feiern will. Möglicherweise ist er auch so durch den Wind, dass er gar nicht weiß, was er nun mit seinem Leben anfangen will, und setzt sich draußen erst mal wieder auf seine Matte. Es könnte auch sein, dass er fortan (wie es in dem Film „Life of Brian“ gezeigt wird) „Spenden für einen Ex-Gelähmten“ sammelt. Wir wissen nicht, wovon der Gelähmte vor seiner Heilung gelebt hat, ob er über Einkommen und Unterstützung verfügte. Die Wahrscheinlichkeit ist aber groß, dass er zu den Ausgestoßenen der Gesellschaft gehörte. Möglicherweise muss er nun wieder eingegliedert werden. War er je eingegliedert? All das wissen wir nicht, das gibt der Text nicht her. Auch von der Menschenmenge und den Schriftgelehrten wissen wir nicht