eine Frau.
Ich muss wohl ungefähr zwölf Jahre alt gewesen sein, als mir bewusst wurde: Ich bin zwar irgendwie willkommen in der Kirche, ja, ich werde sogar gebraucht, zwischen all den Silberschöpfen und Talarträgern, aber richtig was zu sagen habe ich nicht.
Dabei hätte ich wohl etwas zu sagen oder zu geben gehabt. Auch als Zwölfjährige schon. Mit einem Kopf in den Wolken, Fantasie bis zum Himmel und einer Liebe zum geschriebenen Wort. In einen Kindergottesdienst wollte das nicht so recht passen, dort regierten die Mitmach-Mamas, und die hatten ihre ganz eigenen Vorstellungen und vor allem ihre Verliebtheit in den Herrn Pastor. Und da kommt keiner so leicht dazwischen. Den großen Gläubigen, den treuen Schafen, die sich Sonntag für Sonntag auf den unbequemen Kirchenbänken niederließen, hätte ein zwölfjähriger Blick vielleicht mal ganz gutgetan, doch sie suchten die Stille, die Tradition und den Weihrauch. Auch dort kein Platz für die Gedanken einer Sechstklässlerin. Und so blieb ich irgendwo dazwischen. Ungesehen. Ein Lämmchen unter vielen.
Manchmal wundere ich mich im Rückblick, warum mir nicht längst die Puste ausgegangen ist. Hinter mir liegt ein langer Weg, dabei bin ich erst 24. Eine katholische Biographie, die ich wohl mit vielen anderen teile. Getauft im Alter von drei Monaten, aufgewachsen mit den Traditionen und Texten des Christentums. Mehr als einmal war ich die Maria im Krippenspiel, außerdem Erstkommunionkind, Messdienerin, Sternsingerin, Pfadfinderin, Firmling. Und dann auf einmal erwachsen, jedenfalls fühlte ich mich so, und damit irgendwie obdachlos. Meine Kirche kein schützendes Zelt mehr, von dem aus man, wenn man das Verdeck ein bisschen öffnet, die Sterne sehen kann. Stattdessen ein Raum, der mir zu eng erschien für meine Gedanken und für mein Gottesbild. Was mir all die Jahre Halt und Struktur gegeben hatte, fühlte sich auf einmal nicht mehr zu mir passend an. Zu viel hatte ich auf dem Weg bis hierhin erlebt. Zu viele Menschen hatten meinen Weg gekreuzt, die dieser Kirche mehr als skeptisch gegenüberstanden oder ablehnend. Zu oft hatte ich das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen für Dinge, die mit meinem Leben und vor allem mit meinem Glauben doch so wenig zu tun hatten: kein Sex vor der Ehe, Missbrauchsfälle in Klosterschulen, größenwahnsinnige und geldgierige Bischöfe. Zu oft konnte ich über die weltfremden Worte, die in der Predigt fielen, nur den Kopf schütteln oder wütend die Zähne aufeinanderbeißen, bis mein Kiefer schmerzte. Und auch mein Herz.
Den Kern suchen
Dieses Dazugehören und gleichzeitige Danebenstehen war oft ganz schön herausfordernd. Doch was mich am meisten störte, war die Tatsache, dass all die heiß diskutierten oder totgeschwiegenen Themen nichts mehr mit dem Kern zu tun hatten. Dem goldenen, der, wenn man ihn ins richtige Licht hält, glitzert und funkelt und mein Menschenleben überstrahlt.
Vielleicht ist der Glaube an diesen goldenen Kern das, was mir einen langen Atem geschenkt hat, sodass mir bis heute nicht die Puste ausgegangen ist, ich mich weiterentwickelt habe. Früher war ich Pfadfinderin, heute bin ich Pfadsucherin. Ich bin eine Suchende. Eine Sehnsuchende. Denn ich glaube noch daran. Daran, dass es eine große, schöpferische Kraft gibt, die es gut mit uns meint, die meinem Leben eine weite Perspektive schenkt und einen tieferen Sinn. Ein großes Geheimnis, das mich wandern und wundern lässt und das ich gerne Gott nenne. Eine Quelle der Kunst, der Schönheit, der Liebe, ein Angebot an die Menschheit, das Angebot des ultimativ Guten, nach dem ich sehnsüchtig bin und suche. Immer wieder.
Doch diese Suche findet nicht mehr allein im Rahmen der Kirche statt, in die ich hineingeboren und hineingetauft wurde. Mein Weg hat mich scheinbar von ihr fortgeführt, und doch begegnen wir uns immer wieder mal. Vor allem immer dann, wenn ich die Hoffnung habe, doch noch Anknüpfungspunkte zu finden, oder immer dann, wenn ich mich mal wieder über sie ärgere. Oder besser gesagt, über die Menschen, die sich die Kirche zu eigen machen, um sich selbst zu profilieren, sich von anderen abzugrenzen und dabei aus dem Blick zu verlieren scheinen, dass sie damit auch Menschen aus ihren eigenen Reihen ausgrenzen. Exkommunizierung eines Geschiedenen. Kündigung einer Kindergartenleiterin, weil sie es gewagt hat, sich in einen anderen Mann zu verlieben. Ablehnung eines homosexuellen Paares. Als sei die Kirche wirklich in der luxuriösen Lage, Leute, die aufrichtig glauben und vor allem aufrichtig lieben, ausschließen zu können.
Ich selbst war bisher nie direkt von den Einstellungen der Kirche zu Liebe, Sex und Partnerschaft betroffen und dennoch machen sie mich betroffen. Weil ich mir mehr Offenheit wünsche und mehr Rückbesinnung auf die Kerngedanken unserer Religion. Die Liebe ist stärker als der Tod. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt. Ganz schön viel Liebe für eine Religion. In der Kirche spüre ich sie nur selten. Höchstens die Selbstliebe. Die vielleicht auch wichtig ist, aber eben nicht nur.
Den Horizont erweitern
Dennoch ist mir die katholische Kirche die vertrauteste Konfession. Wie eine alte Tante, die bei allen Familienfesten immer dabei ist, aber die nicht unbedingt die besten Geschenke macht. Auf die Wange geküsst werden will sie trotzdem.
Durch meinen Umzug von Essen nach Berlin vor fünf Jahren und mein Studium der Religionswissenschaften habe ich meinen Horizont erweitert und kennengelernt, was das Christentum außerdem noch so alles in sich vereint. Die Familie ist gewachsen. Durch Protestanten, Orthodoxe, Kopten und Freikirchler und dann noch einmal tausend verschiedene andere Ausprägungen. Vieles war mir erst fremd und ich musste das Gemeinsame und Verbindende zwischen uns allen ein wenig suchen. Nie zuvor habe ich erlebt, dass Menschen sich so in Ekstase bringen können, dass sie ohnmächtig werden und hinterher vom Heiligen Geist erzählen. Nie zuvor habe ich Menschen in Zungen reden gehört. Nie zuvor habe ich so viele junge Leute von ihrer unendlichen Liebe zu Jesus sprechen gehört. Hatte ich vorher geglaubt, meine katholische Kirche hätte ein paar befremdlich anmutende Riten, die auf Außenstehende gruselig wirken könnten, wurde ich bei einem Erweckungsgottesdienst einer Pfingstgemeinde zunehmend entspannter: Es geht noch viel krasser. Meins war das nicht. Ich suchte weiter.
Manchmal fühle ich mich heute wie eine Nomadin. Ich wandere, bleibe mal hier stehen und mal dort, betrachte hier ein Fleckchen Erde, lese dort einen klugen Gedanken, treffe Menschen, die mir mal vertraut sind und mal fremd. Wie damals bei den Pfadfindern begebe ich mich auf Zeltplatzsuche: Wo kann ich bleiben? Wo bin ich willkommen? Wo passe ich dazu? Im religionswissenschaftlichen Jargon würde man mich wohl als eine Synkretistin bezeichnen. Ich puzzle, sammle und leihe, tausche, verschenke und teile. Ich schöpfe aus dem großen Schatz der Religionen und suche nach dem, was meinem Leben mehr Tiefe gibt. Ich suche Antworten, ein Dach für meine Sehnsüchte, mit einem Fenster, von dem aus man in den Sternenhimmel blicken kann. Weit und großartig. Das Kennenlernen anderer Konfessionen hat viel Gutes. Ich weiß meine geistliche Herkunft inzwischen stärker zu schätzen und habe gleichzeitig einen anderen Blick für das große Ganze gewonnen. Und vor allem für die vielen Möglichkeiten, die in Kirche stecken können: Einen Gottesdienstraum mit einer richtig guten Kaffeemaschine ausstatten? Warum nicht. Die Lieder nicht Lieder nennen, sondern Worship-Musik: auch eine Möglichkeit. Der Predigt mehr Gewicht geben und Hostien durch Fladenbrot ersetzen. Das ist dann vielleicht nicht mehr ganz so feierlich, aber vielleicht ein wenig ehrlicher.
Sich entscheiden müssen
Und doch: Meine Suche ist nicht weniger sehnsüchtig geworden. Noch immer vermisse ich den Kern des Ganzen. Denn obwohl ich inzwischen so viel mehr kenne an christlichem Content oder vielleicht gerade deswegen, habe ich das Gefühl, mich ständig entscheiden zu müssen. Bin ich katholisch oder evangelisch? Konservativ oder liberal? Bibeltreu oder charismatisch? Sängerin im Kirchenchor oder Leiterin der Kinderkirche? Vieles erscheint mir dabei viel zu menschengemacht, als dass ich glauben könnte, dass da ein göttlicher Gedanke drinsteckt. Ich fühle mich fremd in einer Kirche, in der es Schubladen gibt, aber keine Regale. In der keine Offenheit herrscht, Regalbretter zu versetzen, bis eben genug Platz für den Inhalt ist. Fremd in einer Kirche, in der Regale als zu offen empfunden werden, zu einsehbar, nicht zum üblichen Mobiliar passend.
Ich habe verschiedene Gemeindeformen ausprobiert, um herauszufinden, wen wir hier eigentlich anbeten, warum und in welcher Form. Ich habe das ernst gemeint mit dem goldenen Kern, mit der Suche nach dem ultimativ Guten, das ich gerne Gott nenne. Und habe dennoch wieder gemerkt: Die meisten Kirchen drehen sich nur um sich selbst und darum, ihre Schubladen zu füllen, sie sorgsam zu verschließen und zu etikettieren – manche mit Masking Tape, andere in guter alter Excelmanier.