geht hier um nicht weniger als darum, wie Christinnen und Christen künftig ihre Wahrheit vertreten. Geschieht dies im Selbstbewusstsein eines Wahrheitsbesitzes, das schon in der Form, nämlich etwas zu besitzen, Gott verliert und zum Götzen macht? Vertritt man die Ideologie eines „Clash of religions“ (Krieg der Religionen), in dem es zur Herrschaftsfrage wird, welche Religion sich exklusiv gegenüber der anderen durchsetzt? Lässt sich das Christentum von solchen Bewegungen in seinem Inneren wie auch im Außen anderen Religionen gegenüber das Gesetz des Handelns aufzwingen? Wird damit die Chance verspielt, jene neue Daseinsform der eigenen Identität zu suchen und zu finden, die dem Christentum von Anfang an in sein eigenes Herz geschrieben ist und die auch in seiner Geschichte immer wieder Wirklichkeit war, nämlich den Glauben als Gnade zu erleben und Gott als Geheimnis unerschöpflicher Liebe zu preisen? Sich in Wahrheit für die kleinen und nichtsiegreichen Menschen und Völker und sich in Wahrheit für die Freiheit der Menschen mit, vor, ohne und gegen Gott einzusetzen, dies wäre das religionskritische Gegenkonzept zur Religionsgeschichte als Siegergeschichte.
2. Erste Spuren
1. Glaube, eine „Kettensäge“?
In der Tagespresse und in den Feuilletons insbesondere der letzten Jahre wird das Verhältnis von Glaube und Zwang immer wieder aufgegriffen. So schreibt Christian Nürnberger in der Süddeutschen Zeitung: „Dogmatische Abrüstung wäre daher angesagt, dieser noch unbeschrittene, nicht zu Pferd, sondern nur zu Fuß gangbare Weg des ‚geistlich Armen‘ ist die vermutlich letzte Chance beider Kirchen. Ihn zu gehen, hieße: vom Dogma schweigen, aber den Willen Gottes tun, also die Armut bekämpfen, Unterdrückten zur Freiheit verhelfen, der Wahrheit Geltung verschaffen, Frieden stiften, Kranke heilen, die Mächtigen kritisieren, falschen Göttern den Gehorsam kündigen und hoffen, dass sich dann erfüllt, was verheißen wurde: Wer den Willen Gottes tut, wird Gott schauen.“3 Den Glaubenden von heute trägt nichts anderes als „ein Balken, an den nichts geheftet, treibend auf dem Meere.“4 Auch wenn der Dogmenbegriff hier aus theologischer Perspektive korrekturbedürftig ist, trifft er in diesem Sprachgebrauch doch das Richtige: nämlich die Strategie, den Glauben an einen Zwangszusammenhang zu heften, wie dies, nach Ansicht des Autors, die Kirche jahrhundertelang immer wieder getan hat.
Katholischen Gläubigen wird darüber hinaus vorgeworfen, dass selbst noch ihr Einsatz gegen die Verbindung von Glaube und Zwang das damit verbundene Autoritätssystem nicht verlässt, auch in der Gegenabhängigkeit nicht. Dies zeigt die spöttische Bemerkung, von der der von der katholischen zur evangelischen Kirche konvertierte Arnd Brummer zu berichten weiß: „Einmal katholisch, immer katholisch. Ihr braucht doch den Papst! Die einen, um ihn zu verehren, die anderen, um sich gegen ihn zu wehren.“5
Ein wirklich erschreckendes Buch hat jüngst Andreas Altmann geschrieben, ein Wutbuch über seine brutale katholische Kindheit und Jugend in Altötting.6 In einem Interview in „DIE ZEIT“ spricht er von Religionslehrern, die „Götter der Scheinheiligkeit (waren). Keine Wärme, kein Verzeihen, keinen Funke Liebe für uns Kinder.“7 Altmann ist Devotionalienhändlersohn, „den aber kein Gott vor seinem sadistischen Vater und seinen brutalen Lehrern rettete, so dass er die Gnadenlosigkeit auskosten musste“8. Altmann selbst spricht von der „Kettensägenmonsterideologie des Glaubens“, die das Leben terrorisiert und Liebessehnsucht unerfüllt sein lässt. Und er bekommt zuhauf Zuschriften und E-Mails von Menschen, die Ähnliches erfahren haben.9 Die öffentlichen Fälle schlimmster Erfahrungen mit Kirche bzw. ihren Hauptamtlichen ist nur die Spitze vom Eisberg: bis in unsere Gemeinden hinein, vor allem auch hinsichtlich der Unterdrückung im Glauben selber, mit dem Überraschungswort, wenn dessen erlösende und liebevolle Aspekte zur Sprache kommen: „Warum hat uns das bisher niemand gesagt?!“
Dass es sich bei diesen bekannt gewordenen Fällen um Extremfälle auch ansonsten tiefsitzender Erfahrungen und Ängste bei Gläubigen selbst handelt, habe ich in der Seelsorge immer wieder erfahren. Vor allem seitdem ich mich um die Bedeutung des „Jüngsten Gerichts“ bemühe,10 werde ich gefragt, warum ich als praktischer Theologe dieses an sich bisher weitgehend in der Dogmatik erörterte Thema von den „Letzten Dingen“ bearbeite. Das Gerichtsthema reicht bis in meine Kaplanszeit hinein, wo ich die Ängste in Bezug auf den Tod und auf das, was danach kommt, auch vor der Hölle, nicht nur bei älteren Leuten unglaublich vital erlebt habe. Übrigens auch noch bei Menschen, die das alles anzweifeln oder ablehnen. Bis hin zur Angst auch jüngerer Eltern, dass Gott ihre Söhne und Töchter nicht mehr lieben könnte, weil sie, oft aufgrund von Enttäuschungserfahrungen, von der Kirche Abstand genommen haben.
Mich hat bis heute diese Fragestellung nach dem Verhältnis von Glaube, Unterdrückung und Angst nicht mehr losgelassen. Im Grunde ist es die Aufarbeitung eines kollektiven Traumas der Kirchengeschichte, dieser jahrhundertealten Angst vor einem gnadenlos strafenden Gott, weil die Menschen nicht gläubig und/oder nicht gut genug waren. Das steckt tief, auch bei den nicht zur Kirche dazugehörigen Menschen. Sie übertragen auf die Kirchen immer noch die religiöse Angst und rebellieren dagegen. Bestimmte Medienprodukte und Filme tun das ihrige, diese Projektionen aufrechtzuerhalten.
2. Glaubensschwund ohne Angst
Neben dieser Spur der Verbindung von Glaube und Zwang, von Kirche und Angst gibt es die Spuren, auf denen der Glaube ohne Angst schwächer wird, bis dahin, dass er abhandenkommt. Viele Menschen wären gerne gläubig und können es nicht sein.
Nach Beendigung des letzten Examens sagte ein Theologiestudent zum Abschied, und ich gebe hier seine Gedanken in meiner Sprache wieder: ‚Ich habe meinen Glauben verloren. Nicht wegen des Theologiestudiums, das mir bis zum Schluss Freude gemacht hat, sondern einfach so. Es ist passiert im Zusammenhang verschiedener Ereignisse in meinem Leben. Und ich fühle mich nicht unglücklich. Ich kann gut auch ohne diesen Glauben leben und weiterleben. Natürlich fehlt mir etwas, es fehlt mir vor allem die Hoffnung über den Tod hinaus. Aber da gibt es noch einen Rest: Gibt es den Gott, über den ich im Theologiestudium nachgedacht habe, dann doch über meinen Unglauben hinaus, nimmt er es mir auf keinen Fall übel, wenn ich nicht mehr an ihn glaube. Er ist vielleicht traurig darüber, wie ich traurig darüber bin, dass ich nicht mehr auf ihn bauen kann, aber wenn es ihn dann doch gibt, wird er seine Liebe von mir niemals zurückgezogen haben.
Ich kann ja auch gar nichts dafür, es ist mir sehr klar geworden, dass der Glaube wirklich ein Geschenk ist, eine Gabe, die man bekommt oder nicht bekommt, die letztlich an keine Bedingungen gebunden ist. Weder für den einen noch für den anderen Fall muss ich Angst haben. Ich kann mich immer noch über die Gottesphantasie der Gläubigen freuen, denn solche Glaubensvorstellung ist kein Wahn, sondern ein wunderbares Bild der Hoffnung. Und kann auch niemandem schaden, wenn niemand ausgegrenzt wird. Gegen den Glauben an eine unendliche Liebe ist nichts zu sagen, wenn man ihn geschenkt bekommen hat.’
Ich treffe zunehmend kirchennahe ältere Menschen, auch Theologen und Theologinnen, die sich irgendwie als solche erfahren, die auf den Glauben verzichten können, ohne viel Schmerz dabei zu empfinden, einfach weil er sich irgendwie erübrigt. Dabei geht es nicht darum, mutwillig dagegen anzugehen oder aktiv etwas nicht mehr glauben zu können oder zu wollen, sondern darum, dass die Bilder des Glaubens verblassen, ihre Kraft verlieren, eine Schwäche bekommen. Eine Schwäche allerdings, die darin stark ist, dass sie alle Hoffnung, ohne sie zu verneinen, über den Tod hinaus an die Macht abzugeben vermag, die alles auffängt oder alles versinken lässt. Und Letzteres vielleicht doch in die abgrundtiefe Liebe Gottes? Dieses „Vielleicht“ eines „schwachen“ Glaubens,11 dem unwahrscheinlichen „Vielleicht“ des Propheten Amos ähnlich („… vielleicht wird der Herr, der Gott Zebaoth, doch gnädig sein …“, Amos 5,15), nämlich dass Gott vielleicht doch noch retten wird, wird nicht einer großspurigen Verneinung geopfert, die immer über ihre Verhältnisse lebt und diesbezüglich ziemlich besserwisserisch erscheint.
Diese eigenartige Erfahrung, dass gläubigen Menschen der Glaube irgendwie fern erscheint,