In den Bedingtheiten der Welt ist diese unendliche Bedingungslosigkeit nicht als solche erfahrbar. Unendliches bleibt im Jenseits des Endlichen. Es gibt nur einen Weg dorthin, und das ist der Tod, das schärfste Ereignis der gewalttätigen Verneinung von Leben und Hoffnung. Denn erst durch ihn hindurch ist es den Menschen geschenkt, die unendliche Unbedingtheit der Liebe Gottes unmittelbar und ungehindert zu schauen. So stemmt sich der Glaube bereits im Diesseits gegen die Endgültigkeit dieser Grenze im Ereignis eines Geliebtseins, das zumindest ansatzhaft keine Grenzen spürt.
Die biblischen Texte kommen, wie menschliches Leben und Begegnen überhaupt, ohne Wenn-Dann-Vorstellungen nicht aus. Aber sie werden überholt von anderen Texten, in denen sich das „Immer Mehr“, die immer größere Liebe Gottes, zeigt, die alle Bedingungen unter- und überschreitet. Es sind Geschichten, in denen Gott seine Liebe niemals, jedenfalls niemals endgültig, zurückzieht. Gott bleibt beweglich in der Treue des Übergangs vom Zorn zur Barmherzigkeit.35 Selbst wenn Israel abfällt, lässt Gott sein Volk nicht im Stich. Gott will die Umkehr, aber letztlich ist die Umkehr nicht die Bedingung seiner Liebe, sondern die nicht zurückgezogene Liebe ermöglicht die Umkehr. So gilt die Gnadenformel: „YHWH ist ein Gott, barmherzig und gnädig, langsam zum Zorn, reich an Güte und Zuverlässigkeit, bewahrend die Güte für Tausende, tragend Schuld und Frevel und Sünde …“ (Ex 34,6–7). So wandelt sich das Wenn-Dann in der Gottesvorstellung in ein Ohne-Wenn-und-Aber.
4. Heiligkeit als Entgrenzung
1. Beschmutzte Heiligkeit
Wo in einer Religion die inhaltliche Abgrenzung gegenüber anderen Religionen gerade darin liegt, dass das Heil gegenüber allen, auch den ganz anderen Menschen und Religionen, zu entgrenzen ist, sind das Leid und das Böse mit dem „guten“ Gott selbst, nämlich im Sinne der universalen, also alles umfassenden Unendlichkeit der Gottesvorstellung (einschließlich seiner Eigenschaften), auszuhandeln. Genau dies ist die biblische Spur. Wo Gott dagegen keinen Kontakt zu dem Schlimmen, was Menschen begegnet und sie einander zufügen, wo Gott keine gute Beziehung zu den Nichtglaubenden haben darf, sind beide auch von seinem Heil fernzuhalten. Wo das Schmutzige derart von Gott ausgeschlossen wird, muss es auch zwischenmenschlich ausgeschlossen werden. Wo Gott sauber gehalten wird, muss auch die eigene Religion rein gehalten werden. Mit immer wieder zerstörerischen Folgen für die Nichtdazugehörigen, verbunden mit dem guten Gewissen, Gottes Willen zu tun. Wobei es nochmals eine eigene Frage ist, worauf sich die Reinheitsvorstellung in den Religionen in besonderer Weise bezieht; im Katholizismus war und ist es oft genug vor allem die Sexualität im Horizont der Kultreinheit.
Joachim Kügler hat die jüdische und christliche Alternative zur Abtrennungsheiligkeit herausgestellt: „So realisiert sich die königliche Heiligkeit Gottes bei Jesus im Staub der galiläischen Landstraße.“36 Der Gottesdienst Jesu beinhaltet das heilsame Berühren der Kranken, die Gemeinschaft mit Menschen, „von denen er sich eigentlich hätte absondern müssen“37. Jesu Handeln ist also norm- und kultsprengend um einer möglichst wirksamen Solidarität mit den Menschen willen, verbunden mit den Konflikten, die man sich dabei einhandelt mit denen, die ein ausgrenzendes Heiligkeitskonzept vertreten. Bei Jesus begibt sich die Heiligkeit seiner Identität und Sendung in die Alltagswelt der Menschen hinein und erweitert dort so weit wie möglich die Räume der Gnade, der Barmherzigkeit, der Gerechtigkeit und der Freiheit.
Jesu Profil besteht darin, dass er die Grenzen zu den Ausgeschlossenen und den Sündern und Sünderinnen überschreitet und ihnen Heilung bzw. Versöhnung bringt. Indem er ein solches Handeln mit dem Glauben an Gott verbindet, grenzt er diesen Glauben praktisch von all jenen Glaubensformen ab, die den Gottesbegriff zur Legitimation von Ausgrenzung und Zerstörung der anderen gebrauchen. In dieser Hinsicht gibt es für ihn keine Kompromisse, bis hin zum Kreuz. Jesus stirbt nicht am Kreuz, weil er an Gott glaubt – das tun seine Gegner auch –, sondern weil er diesen Glauben mit einer ganz bestimmten, ganz anderen Praxis verbindet, bis hin zu seiner Vergebungsbitte für die Gegner und Täter, also ohne selbst diese auszugrenzen. Die Schärfe der paulinischen Rechtfertigungstheologie liegt ja darin, dass Gott auch für die anderen gestorben ist, auch für die aus unserer Perspektive Gottlosen.
Heiligkeit ist der gesamte Vorgang, in dem sich das Erlösende mit dem Unerlösten berührt. Das innerste Prinzip dieser Heiligkeit ist nicht die Ausgrenzung, sondern die Überbrückung und Verbindung zwischen ausgrenzendem und ausgegrenztem Bereich. Das Heilige ist also in diesem Sinn nicht mit dem Sakralen identisch, welches das Profane entweder ausgrenzt oder in sich auflöst, sondern stellt das Profane selbst in den Raum Gottes, in dem es profan bleibt.38
Dies gilt übrigens nicht nur für den Alltag, sondern auch für die Liturgie: Gerade aus gnadentheologischen Gründen sind die Sakramente jener Ort, wo im Symbolhandeln Gottes unbedingte Liebe in bestimmten Situationen in besonderer Weise erfahrbar ist. Sakramente also nicht nur für den inneren Kern der Kirche gedacht sind, sondern auch für ihre Außenbeziehung. Denn sie eröffnen für die Ausgegrenzten und Ausgrenzbaren Zugänge, die an sie keine anderen Zugangsbedingungen stellt als nur solche, die das Zustandekommen der sakramentalen Symbolhandlung selber ausmachen.39
So kann und darf das Grundsakrament der Taufe niemandem verweigert werden.40 Denn die Taufe verbindet die Geburt in dieses Leben mit der Geburt in die Liebe Gottes hinein. Und wie die Geburt das Leben umsonst, also ohne Vorleistungen, schenkt, so schenkt auch die Taufe Gottes Liebe ohne Vorleistung und unverdient, also umsonst.
2. Gottes Herunterkommen
Die unglaublichste Entgrenzung Gottes in die Welt und der Welt in Gott hinein geschieht aus christlicher Perspektive in der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus. Für mich persönlich, für meinen Glauben und meine Theologie, wird immer mehr klar: Genau das, was Judentum und Islam niemals akzeptieren können, nämlich dass Gott Mensch wird, ist angesichts dieser so leidvollen und gewaltvollen Welt überhaupt noch die einzige Möglichkeit, an einen Gott zu glauben, ihm zu vertrauen und ihm überhaupt ein Wort abzunehmen. Wenn Gott uns schon keine Antworten gibt, dann doch wenigstens jene Solidarität, die Gott auch die Erfahrung leidvoller Leiblichkeit und des Todes selbst zufügt. Ein Gott, der über dem Sternenzelt bliebe, hätte alle Glaubwürdigkeit verloren und könnte mir gestohlen bleiben, mag es ihn geben oder nicht.
Gott hat sich in Christus selber in die Pflicht genommen, uns auf dem Niveau unseres Leidens, auch des Bösen zu begegnen. Gott begegnet uns nicht von oben nach unten. Gott ist nicht nur in seiner unerschöpflichen Geheimnishaftigkeit, sondern auch in seiner menschgewordenen Selbsthingabe unendlich unübertreffbar. Der radikalste Beweis seiner Liebe ist also die Menschwerdung Gottes in Jesus von Nazareth. Hier steht Gott mit seinem Leben und mit seinem eigenen Leib für eine solche Barmherzigkeit ein. In seiner Verkündigung ist es ihm wichtig, dass Gott den Menschen zugewandt ist. Obgleich Jesus die Absicht hat, dass alle das Reich Gottes annehmen und gerettet werden, muss er das Scheitern dieser Verkündigung erleben. Am Kreuz hält die Welt den Atem an: Wird nun Gott die Welt, da sie seine Barmherzigkeit nicht angenommen hat, endgültig in den Abgrund stürzen lassen, oder ist seine Barmherzigkeit so groß, dass sie auch diesen Abgrund des menschlichen Neins zu Gott überwindet? Hierin liegt die Heilsbedeutung des Kreuzes, denn vom Kreuz her betet Jesus zum Vater, dass er den Gegnern vergeben möge.
Hier begegnet ein Mensch, der gegenüber der Gewalt keine Gegengewalt setzt und ihr, in einer bestimmten Situation, auch nicht mehr entflieht, sondern sich ihr stellt und standhält. Der Gewalt wird etwas tatsächlich ganz anderes entgegengesetzt: der eigene schutzlose Leib, an dem sie sich austobt; aber damit nicht genug: Die Gewalt wird nicht nur erlitten, sondern als unerschöpflich verstärkte Liebe zurückgegeben:41 „Sie kamen zur Schädelhöhe; dort kreuzigten sie ihn und die Verbrecher, den einen rechts von ihm, den anderen links. Jesus aber betete: ‚Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun‘“ (Lk 23,33–34). „Als der Hauptmann, der Jesus gegenüberstand, ihn auf diese Weise sterben sah, sagte er: Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn“ (Mk 15,39).
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