und nicht vielmehr nichts? Ich bin nicht weitergekommen, die Fragen sind nicht verschwunden, nur ihre Kraft hat abgenommen und die Dringlichkeit einer Antwort. Ich kann auch ohne leben. Im Nichtwissen kann man sich ein Leben einrichten, in dem der Schmerz über das Nichtwissen auszuhalten ist.“ Und: „Gott, Erlösung, Gnade, Sünde, Christus, Vergebung, Gericht, Heil, große alte Worte, die wie erratische Blöcke in der Welt stehen und Findlingen gleich noch an große Umwälzungen erinnern, an eine andere Welt, und doch Überbleibsel sind.“ Und so wird es schwer und schwerer, „anzuknüpfen an einer Welt, die so weit weg scheint, die in ihren Worten, Symbolen, Ritualen zwar noch immer Vibrationen erzeugt, aber nur schwache. … Ja, da lebt noch etwas, ganz weit weg, in den untersten Schichten des biographischen Sedimentes, und es ist noch da, es nährt nicht, es ist eher ein schmerzhaftes Ziehen, die Erinnerung, dass etwas war, wenn auch nur ein feuriger Wunsch, nun aber unaufhaltsam entgleitet. Tot ist es noch nicht, nicht solange es Lebenszeichen sendet, wenn auch ganz leise. … manch eine Pietà rührt mich noch immer zu Tränen und auch der Gekreuzigte mag ihn immer noch wieder hervorzuholen, den kindlichen Schmerz über die Grausamkeit der Welt, ein Schmerz, der geblieben ist und sich nicht mildern lässt und mit dem man dennoch leben lernt, ohne es sich je zu verzeihen.“
Und weiter: „Ich bin eine ungläubige Gläubige. Ich glaube nicht, was zu glauben ist, und bin doch in einem dauernden Gespräch mit ihm oder ihr. Ich lebe noch immer von religiösen Sätzen, Bildern und Musik, aber ich lebe nicht mit ihnen. Sie tauchen nur sporadisch auf und ich hole sie hervor und ich staune, wie viel Leben sie erzeugen und Begeisterung und Anregung. Aber ich lege sie wieder weg, und sie gehen vergessen wie Gegenstände, die man aufbewahrt, in Sichtweite, und doch nicht mehr sieht … Wenn alles in Bewegung ist, dann kann man nur noch den Kopf über Wasser halten, aber keine großen Visionen mehr entwickeln. Die Hoffnung reduziert sich darauf, nicht unterzugehen. Das klingt ein wenig erbärmlich. Und ist doch für eine wie mich nicht nichts, sondern der Angelhaken, der noch immer in dem steckt, wonach ich mich trotz allem sehne.“ Am Ende zitiert Strahm den Dichterphilosophen Emil M. Cioran: „Wie schade, dass man, um zu Gott zu gelangen, durch den Glauben hindurch muss.“12 Aus meiner Perspektive darf man demgegenüber auch sagen: Man muss gar nicht durch den Glauben hindurchgehen, um von Gott geliebt zu werden und zu Gott zu gelangen.
Hier wird deutlich: Die religiösen Symbole haben immer noch eine Wirkkraft in die Gegenwart hinein, und wenn es sich auch „nur“ um das symbolische Licht erloschener Sterne handelt. So gibt es viele Menschen, die dem kirchlichen Glauben fernstehen, bei denen aber die Rituale und Symbole noch eine Resterfahrung von dem bewahren, was der Glaube einst verheißen hat. Hier wird noch etwas von der Fülle der göttlichen Liebe, von seiner Geborgenheit gespürt: Die Symbole und Rituale lassen etwas von dem Überfluss erahnen, den die Gnade über das Wort und den Glauben hinaus bringt. Unsere Kirchen leben finanziell von den vielen Menschen, die ein Leben lang ihre Kirchensteuer zahlen und die Kirchen dafür nur einige Male beanspruchen, nämlich bei den Kasualien (Taufe, Kommunion, Firmung, Konfirmation, Trauung, Beerdigung u. a.):13 Sie lassen sich wenig viel kosten, weil sie darin den unverrechenbaren, weit über Tauschvorstellungen hinausgehenden „Überfluss“ der Gnade erahnen, wie er in diesen Symbolhandlungen zur Wirkung kommt. Die Fülle der künftigen Gnade „darf bereits vorweggenommen werden im sakramentalen Handeln der Kirche“14.
Denn es gibt ein Empfangen jenseits der überlegten Worte, „wie die gewaltige Wirkung eines Kunstwerkes, das bewegt, ohne dass der Rezipient jedes Detail zu verstehen in der Lage ist“15. Hier gilt allein der Vollzug der Sakramente („ex opere operato“), nämlich dass sie aus sich heraus, ohne Bedingungserfüllungen der Menschen, Gnade erfahren lassen. So rettet die Liturgie nicht nur die Erfahrung von Glaubensinhalten, die als solche entschwunden sind, sondern auch die Erfahrung von Glaubensinhalten, die als solche einmal offenbar werden. Die Liturgie hat also in diesem Sinn eine für Vergangenheit und Zukunft stellvertretende Eigenwirkung.
3. Autonomie in gebrochener Vielfalt
Alexander Schimmel hat in seiner Untersuchung den sehr ausgeprägten Autonomieanspruch von Jugendlichen, verbunden mit der Abwehr von Vereinnahmung und Fremdbestimmung vor allem im Bereich des persönlichen Glaubens und der eigenen Religiosität, unterstrichen.16 Hier begegnen offensichtlich auch keine Ängste mehr gegenüber kirchlichen Autoritäten bzw. gegenüber Gott. Vielmehr zeigt sich ein nicht ausschließender und unideologischer Umgang mit religiösen Fragen, verwurzelt in den je persönlichen Biographien, die zwischen den Menschen und Gruppierungen zugleich als religiöse Pluralität erlebt und in Gleichwertigkeit zugestanden werden.
Längst gilt auch für ältere Menschen: „Die Verlagerung der kirchlichen Innen-Außen-Grenze in die Biographie des Individuums und die zunehmend wahrnehmbare Pluralität von Deutungsangeboten lassen die Rede von einem ‚festen Glauben‘ zu einer unrealisierbaren und letztlich unerreichbaren Option werden.“17
Renate Wieser hat hinsichtlich katholisch sozialisierter alter Frauen das Bild gründlich zerbrochen, dass diese glauben würden, was ihnen zu glauben vorgegeben wurde: Theologie und Kirche „haben nicht bemerkt, dass ihnen viele ältere und alte Frauen längst schon den Rücken gekehrt haben, und sich kaum darum gekümmert, was diejenigen, die so selbstverständlich noch da sind … wirklich brauchen würden.“ Theologie und Kirche „haben sich mit den alten Frauen gerade nicht auf die Suche nach einem pluralitätstauglichen Glauben gemacht, haben nicht nach ihrem Überlebensglauben gefragt und auch nicht nach ihren Erlösungshoffnungen“. Der kirchlich vermittelte Glaube wird als „leere“ Kommunikation erlebt, die im Ernstfall nicht trägt. Denn tatsächlich gilt: „Kontingent, mehrdeutig, unentschieden, plural, ungleichzeitig, ambivalent, jenseits von klaren und sauberen Grenzziehungen – mit Bezeichnungen wie diesen lässt sich die alltägliche Wirklichkeit von Frauen beschreiben, die in einem Jahrhundert älter und alt wurden, in dem sich so viel änderte, dass kaum mehr ein Stein auf dem anderen blieb.“18
Wo Menschen einen bedrückenden Glauben erleben, gilt das, was Tilman Moser schreibt: „Vor allem viele ältere Frauen hätten, im Glauben an eine solche christliche Botschaft, ihr Leben in Enge und Aufopferung verbracht, und da stieße der Pfarrer auf viel untergründigen, aufgestauten Zorn, berechtigte Bitterkeit und heftige Trauer um das unter solchen Imperativen versäumte Leben, das nun nicht mehr zurückzuholen sei.“19 So gibt es offensichtlich bei gar nicht wenigen älteren Menschen jenes Betrugsgefühl, dass sie auch im Bereich ihres Glaubens um wichtige Möglichkeiten ihres Lebens gebracht wurden.20 Was ist das für ein Glaube, der derart Leben stranguliert? Und wie müsste er sein, dass er dies nicht mehr tut? Wieser nennt dies in den Frauenbiographien den Topos des „ungelebten Lebens“, das viele Gründe hat, unter denen allerdings leider ein Grund seine verschärfende Dynamik entwickelt, nämlich die Kontexte von Glaube und Kirche.21 So stellen sich die Frauen „gegen eine Theologie und Kirche, die nicht mit der eigenen Einsamkeit, dem eigenen Scheitern, der eigenen Ohnmacht, der Nicht-Erfahrbarkeit Gottes rechnet und fordern … eine Karsamstags-Theologie, in der dem Tag der Tiefe, der Unterwelt und der Verlassenheit zwischen der Kreuzigung und der Auferstehung die ihm zustehende Bedeutung eingeräumt wird.“22
Alte katholisch sozialisierte Frauen erleben auch, dass der Glaube angesichts des Leidens in der Welt und des Leidens, das sie selbst wahrgenommen und erlebt haben, keinen Sinn stiftet und keine Antwort gibt. „Das Leid begegnet als die Durchkreuzung aller herrschenden sinnstiftenden Diskurse schlechthin – denn in der Sinnlosigkeit des Leidens offenbart sich die Grenze aller Erklärungsmuster.“23
Es gibt eben keine Erklärung für das Leiden der Menschen und auch die Vorstellung, dass Gott selber dieses Leiden in Christus erlitten hat, verkleinert nicht die Sinnlosigkeit des Leidens, sondern verschärft sie bis ins Unendliche, bis in die wohl nur in Gott aushaltbare Differenz zwischen dem am Kreuz klagenden Christus und jenem Anteil in Gott, der als „Gott Vater“ für alles verantwortlich ist.24
4. Bedeutung des Lebens?
Und dann gibt es viele Menschen, die