Jörg Seiler

Aussöhnung im Konflikt


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von nationalen Antagonismen und dient häufig als Muster, historisch belastete Beziehungen in einen Dialog zu überführen. Bereits die zentralen Protagonisten des Briefwechsels waren sich seiner historischen Tragweite bewusst. Der Initiator und Verfasser des polnischen Versöhnungsbriefes, Breslaus Oberhirte Erzbischof Bolesław Kominek, verstand den bischöflichen Briefwechsel als „eine geschichtliche und zugleich eine christl[iche] u[nd] mutige Tat“, die „die jahrhundertalte Mauer“ zwischen Deutschen und Polen „durchbrochen“ hatte.2 Ebenso sah der Erzbischof von München, Julius Kardinal Döpfner, darin eine gemeinsame geschichtliche Tat, die „sicherlich in der Vorsehung und Gnade Gottes für unsere beiden Völker“ stand.3

      Seit dem Austausch der bischöflichen Botschaften behauptet auch manch eine Nebenerzählung, die zum unverrückbaren und festen Bestandteil dieses geschichtsträchtigen Ereignisses zu zählen scheint, beharrlich ihr Dasein. Im Umfeld des Briefwechsels begegnet man beinahe zwangsläufig der Legende vom Missgeschick bei der Zustellung der Versöhnungsbotschaft des polnischen Episkopates. Der Erzählung nach soll der Brief der polnischen Bischöfe erst mit Verzögerung seinen Adressaten erreicht haben, weil er unbemerkt und ungeöffnet mehrere Tage in der römischen Residenz des Kölner Kardinals Joseph Frings liegen geblieben war. Beunruhigt durch das Ausbleiben jeglicher Reaktion auf die überbrachte Botschaft, erkundigte sich der Breslauer Erzbischof Bolesław Kominek, der Hauptinitiator des bischöflichen Briefwechsels, bei Kardinal Julius Döpfner nach der ausstehenden Antwort. Völlig überrascht und desorientiert beteuerte der Münchener Ordinarius, dass er bisher kein polnisches Schreiben empfangen habe. Es stellte sich nämlich heraus – so die Erzählung weiter –, dass der sog. Versöhnungsbrief der Polen dem damaligen (noch) Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz Kardinal Joseph Frings zugestellt worden war. Da Frings jedoch einige Tage zuvor aus gesundheitlichen Gründen Rom verließ und nach Köln zurückgekehrt war, soll das Couvert zunächst auf seinem Schreibtisch in der Villa Anima ungeöffnet dagelegen haben. Als nach mehreren Tagen dies bemerkt wurde, übergab Erzbischof Kominek zwei hastig angefertigte Abschriften des Dokuments an Kardinal Döpfner und an den Berliner Erzbischof Alfred Bengsch. Erst danach konnte der deutsche Episkopat sich mit der Botschaft ihrer polnischen Amtsbrüder vertraut machen und seinerseits eine Antwort, insbesondere auf die darin enthaltene Einladung zu den polnischen Millenniumsfeiern im Mai 1966, formulieren.

      Diese populäre Schilderung einer vermeintlichen Begebenheit, die auch Eingang in seriöse Forschungen fand, liegt inzwischen in mehreren Variationen und gelegentlich mit Ausschmückungen vor, wobei lediglich ihr Kern, der unbemerkte Verbleib des Briefes im Büro von Kardinal Frings, konstant bleibt.4 Doch so sehr bemüht und bisweilen amüsant diese Anekdote inzwischen auch sein mag, sie weicht letztlich beträchtlich von den Tatsachen und vom wahren Geschehen ab. Dennoch wird sie seither unkritisch und gern tradiert.

      Als einer der ersten berichtete der Journalist Hansjakob Stehle, dass der Brief etwa zwei Wochen lang zwischen München, Köln und Rom zirkulierte, weil währenddessen der Vorsitz der Deutschen Bischofskonferenz von Frings auf Döpfner übergegangen war.5 Im Januar 1966 soll Erzbischof Kominek ihm gegenüber bestätigt haben, dass die an Kardinal Frings adressierte Botschaft fast zu lange unterwegs war, so dass die polnischen Bischöfe schon befürchten mussten, ihr Brief bleibe unbeantwortet.6 Auch deutsche Würdenträger stellten den Ablauf sehr ähnlich dar, so z.B. der Bischof von Essen Franz Hengsbach im Interview mit dem Korrespondenten der Zeit, Werner Höfer, Mitte Dezember 1965: „Völlig korrekt wollten die Polen ihre Briefe [!] dem Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz übermitteln. Das war damals schon de facto der Münchener Kardinal Döpfner, de jure aber noch der Kölner Kardinal Frings. Der war jedoch inzwischen vorübergehend nach Hause gefahren. So wanderte der Brief – immer noch völlig korrekt – zuerst an den Rhein, um auf diesem Umweg nach Rom zurückzugelangen.“7 Damit erklärten die deutschen Bischöfe nicht nur die zeitliche Verzögerung bei der Abfassung ihrer Antwort, sondern suggerierten zugleich, dass sie ihr Schreiben nicht ausreichend vorbereiten konnten, da sie nicht in den Sog des Konzilsendes geraten wollten.8

      Die Aussagen der Bischöfe und ihre Publizität trugen wesentlich zur Popularisierung eines scheinbar authentischen Geschehens bei, welches kaum zu hinterfragen sich lohnte. Nur wenige Autoren verweisen kritisch darauf, dass infolge begleitender Konsultationen in der ‚kleinen‘ deutsch-polnischen bischöflichen Kommission, die Anfang Oktober 1965 gebildet worden war, um den Briefwechsel vorzubereiten, die deutsche Seite vorzeitig über den Inhalt des polnischen Briefes hätte genaue Kenntnis haben und wissen müssen, was sie zu erwarten hatte.9 Darüber hinaus gibt Edith Heller zu bedenken, dass bei einem Austausch von offiziellen Dokumenten auf so hoher Ebene die deutsche Antwort zum Zeitpunkt der Übergabe bereits fertig oder zumindest in wesentlichen Zügen ausgearbeitet hätte vorliegen müssen.10

      Im Folgenden interessiert, welche Beweggründe die deutschen Bischöfe sowie Erzbischof Kominek gegenüber der Presse veranlassten, die „Story“ vom Malheur bei der Briefübergabe zu exponieren, um anschließend zu hinterfragen, ob sich dahinter womöglich mehr verbarg als nur ein alltägliches technisches Missgeschick.

       1. Indiskretionen im Vorfeld der Zustellung des Briefes an die deutschen Bischöfe

      Einen interessanten Einblick hinter die konziliaren Kulissen der letzten Novembertage des Jahres 1965 gewähren die täglichen Aufzeichnungen des Meißener Bischofs Otto Spülbeck. Bekanntlich gehörte Spülbeck neben den Bischöfen Franz Hengsbach und Joseph Schröffer zu den deutschen Vertretern der gemeinsamen deutsch-polnischen Kontaktgruppe und war direkt an den vorausgegangenen Besprechungen über den Briefwechsel beteiligt. „Überrascht und entsetzt“ sei er gewesen, notierte Spülbeck in seinem Konzilstagebuch, als er erfuhr, dass der polnische Brief an einige in Rom anwesende Journalisten und so an die Presse gelangte, noch bevor er den deutschen Bischöfen übergeben worden war.11 Sein Entsetzten dürfte weiter gewachsen sein, als bekannt wurde, dass inzwischen mehrere Pressevertreter im Besitz des polnischen Bischofsbriefes an den deutschen Episkopat waren.12 Einen Text erhielt u.a. der Korrespondent der parteinahen Trybuna Ludu in Rom, Ignacy Krasicki.13 Komineks Sekretär, Zdzisław Seremek, übergab Krasicki die Endfassung des Briefes mit der Empfehlung, ihn an den Parteichef Gomułka weiterzuleiten.14 Etwa zeitgleich erhielt auch die Deutsche Presse-Agentur Kenntnis vom Brief der polnischen Bischöfe.15 Bekannt ist auch, dass Erzbischof Kominek bei seinen Überlegungen, auch in schriftlicher Form, Personen seines Vertrauens konsultierte, darunter Alfred Sabisch und den Herausgeber und Publizisten Walter Dirks. Mit beiden besprach Kominek während ihrer gleichzeitigen Aufenthalte in Rom auch Fragen der deutsch-polnischen Beziehungen und gewährte ihnen Einblick in den vorbereiteten Versöhnungsbrief.16 Dirks berichtete Bischof Spülbeck über den polnischen Briefentwurf, was den Meißener Ordinarius offenbar massiv verärgert hatte, was er auch gegenüber Kominek zum Ausdruck brachte:

      „Es liegt ein ziemliches Geschwätz vor von Seiten der Polen. Erzbischof Kominek wollte zuerst gar nichts davon wissen, daß er diesen Brief Walter Dirks gegeben habe, mußte aber schließlich zugeben, er hätte nur einen Entwurf ihm gegeben; im übrigen seien nur noch einige Formalitäten zu bereinigen, weil dieser oder jener Bischof nicht da sei, aber wir dürfen fest damit rechnen, daß der Brief komme.“17

      Am Abend des 25. November 1965 informierte Spülbeck Kardinal Döpfner über diese Vorgänge. „Aufgeregt“ eilten daraufhin Hengsbach, Döpfner und Spülbeck zum Telefon, um „bei den Polen“ anzurufen.18 Wie aus der anschließenden Korrespondenz zwischen Kominek und Döpfner hervorgeht, warfen die Deutschen Kominek indirekt kalkulierte Indiskretion vor.19 Dies führte zu einer spürbaren Verstimmung, da nicht nur gegen das ungeschriebene Vorrecht des Empfängers zur Veröffentlichung, sondern vor allem gegen die bis dahin gewahrte Vertraulichkeit der Gespräche verstoßen wurde, denn die äußerst verschwiegen durchgeführte Vorbereitung der Botschaft wurde bis dato „wie ein Staatsgeheimnis gehütet“20. Daraufhin verabredeten die deutschen Bischöfe zu dieser Angelegenheit vorerst zu schweigen, solange das offizielle polnische Schreiben ihnen nicht vorlag.21

      Mit dem Vorwurf einer bewussten Lancierung der Botschaft an die Presse konfrontiert, versuchte Erzbischof Kominek, diesem Sachverhalt nachzugehen