Johannes Winkel

Der kommende Mensch


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      Und nun wird großer Wert darauf gelegt, zu berichten, was Jesus sah. Herabstürzende Dachteile, das mehr oder weniger gefährlich große Loch in der Decke, Bauart und Baujahr der sich herabsenkenden Trage, das entsetzte Gesicht der Eigentümer, denen das Haus beschädigt wurde, die Wirkung auf die Leute – all das scheint der Erwähnung nicht zu bedürfen. Auch eine Beschreibung der Art der Lähmung des Gelähmten unterbleibt. Jesus sieht, worum es geht, und vor allem, worauf es ankommt. Er sieht, wie jene Vier das Unmögliche möglich machen und ihrem gelähmten Freund trotz des Gedränges Zugang verschaffen, er sieht ihr unbeirrtes, erwartungsvolles Kommen mit ihm zu ihm. Er sieht ihren zwar nicht Berge versetzenden, aber immerhin Dächer abdeckenden Glauben. Dieser ihr Glaube lässt sich sehen, und Jesus sieht ihn. Es ist ihm nicht fremd, was er bei ihnen sieht. Es entspricht dem sogar ziemlich genau, was er selbst sagt und tut. Nachdem er gesehen hat, was es da zu sehen gab, wendet er sich – ohne dass jene vier Männer und Jesus ein Wort miteinander gewechselt hätten – dem Gelähmten zu: »Kind, deine Sünden werden erlassen!« Nicht irgendwann einmal, sondern jetzt. Sie werden jetzt erlassen.

      War schon erstaunlich, was Jesus sah und anerkannte, so ist es umso erstaunlicher, was er zu dem Kranken sagt: »Kind, deine Sünden werden erlassen!« Auf diese Zusage ist man nicht gefasst. Denn von seinen Sünden war bis jetzt keine Rede, und Jesus war von niemand um ihren Erlass gebeten worden, auch von dem auf der Trage vor ihm liegenden Gelähmten nicht. Aber auch auf seine Anrede ist man nicht gefasst. Sie will ja nicht sagen, dass es sich bei jenem Gelähmten um ein Kind gehandelt habe. Kind – das ist der Mensch im Blick auf seine Beziehung zu Gott, die jetzt in Ordnung gebracht wird.

      »Kind, deine Sünden werden erlassen!« Jesus sagt es von sich aus dem Gelähmten zu. Er ist der Künder als auch die Verkündigung dieser Zusage, die Erledigung seines Beziehungsproblems. Da werden nicht nur ein paar freundlich unverbindliche Worte gesprochen, sondern da wird das Leben eines Menschen auf eine neue Grundlage gestellt, auf die Grundlage erlassener Sünden. Wie könnte Gottes Herrschaft denn auch kommen, ohne dass Sünden erlassen und gestrichen würden? ›Kind, deine Sünden werden erlassen! Du bleibst nicht mit ihnen liegen, sie werden dich nicht länger niederstrecken und lähmen, du gehörst woanders hin!‹

      Nun könnte in jenem Haus jemand gesessen haben, der bei sich dachte: ›Was soll das? Das bringt doch nichts. Bei dem ist sowieso Hopfen und Malz verloren, der wird nicht wieder. Vergebung der Sünden, neue Lebensgrundlage – dass ich nicht lache!‹ Tatsächlich erwähnt werden einige Gelehrte, die sich in der Bibel auskennen und von Gott ein wenig Ahnung haben. Die nahmen Jesus beim Wort und dachten: ›Das geht zu weit! Wie kann der so reden? Was bildet er sich ein? Gott wird schon wissen, warum jener da gelähmt liegt. Es wird seine Richtigkeit damit haben. Im Übrigen ist es Gottes Sache allein, wann und wem er die Sünden erlassen will und wirksam erlassen kann. Wie kommt dieser Mensch dazu, Gottes Sache in die eigene Hand zu nehmen und hier und jetzt in seinem Namen Sündenerlass zuzusprechen? Das kann doch wohl nicht wahr sein! Anmaßung! Kompetenzüberschreitung! Gotteslästerung!‹

      So wie jene Bibelgelehrten kann man mit Jesus leider auch umgehen. Kein dringliches, kein erwartungsvolles, kein zugunsten eines gelähmten Freundes alle Hindernisse überwindendes Zutrauen in ihn, sondern ein grundlos distanziertes, lauter Hindernisse aufrichtendes Misstrauen ihm gegenüber. Zum Glück aber ändert das nichts daran, was Jesus dem Gelähmten zusprach. Aber musste es sein?

      Auch hier sieht Jesus sofort, was los ist, obwohl es gar nichts zu sehen gibt. Er sieht, er durchschaut ihre Gedanken. Darum fragt er sie, was ihrer Meinung nach leichter wäre: »zu dem Gelähmten zu sagen, ›Deine Sünden werden erlassen‹, oder zu sagen, ›Steh auf, nimm auf deine Trage und wandle‹?« Jesus wartet ihre Antwort auf seine Frage nicht ab, sondern gebietet. Die ganze Unanschaulichkeit seines Wortes an den Gelähmten macht er nun anschaulich, mit dem scheinbar Schwereren das scheinbar Leichtere. Er macht die Kraft seines belebenden, des Menschen Beziehungsprobleme ausräumenden Wortes sichtbar. Er macht sichtbar, dass er Vollmacht hat, auf Erden Sünden zu erlassen und sie zur Vergangenheit zu machen. Sünden, die ein Kind Gottes behindern, beschweren, einsam machen, niederstrecken, lähmen. Nicht morgen oder übermorgen, sondern hier und jetzt! Es verhält sich mit seinem Zuspruch – »Kind, deine Sünden werden erlassen!« – so ähnlich, als wenn er sagen würde: »Steh auf, nimm auf deine Trage und geh in dein Haus!« Da geschieht es, dass ein Gelähmter loswird, was ihn lahm machte und niederstreckte. Da geschieht es, dass er aufstehen und als freier Mensch wandeln kann, weil Jesus sich ihm zusprach und ihn aufrichtete. Da vermag der Betreffende dasjenige, worauf er festgelegt und niedergestreckt war, zu schultern und vor aller Augen sogleich frei auszugehen. Und da kehrt er auch nicht in irgendeine Beziehungslosigkeit zurück, sondern in sein Haus zu den Seinen. Die Anwesenden aber, die zwei Augen im Kopf haben und von ihren eigenen Beziehungsproblemen nicht völlig in Anspruch genommen sind, werden sich entsetzen und Gott rühmen. Das wäre auch eine Möglichkeit und nicht die schlechteste.

      Wie gesagt, solche Vollmacht hat der Träger des göttlichen Geistes. Darum herrscht, man täusche sich nicht, wo er sich gerade aufhält, großer Andrang, dass nicht einmal vor der Tür des Hauses der Platz ausreicht, und man ihm womöglich aufs Dach steigen muss, um einen ganz bestimmten Menschen, einen armen Gelähmten, seinen Freund, unter nicht geringem Aufwand vor ihm abzusetzen und ihm ans Herz zu legen. Jener Gelähmte brauchte solche Freunde, und auch Jesus möchte offensichtlich solche Freunde haben, die ihn, ohne sich vom Gedränge der Menschen kopfscheu machen zu lassen, für jemand bitten. Er wird hinter ihnen nicht zurückstehen, sondern ihnen ihre Bitte, selbst wenn sie unausgesprochen blieb, herzlich gern erfüllen. Wie der Erlass der Sünden zum Kommen der Herrschaft Gottes gehört, so das Kommen solcher Freunde mit ihrem armen Freund zu ihm zur Erneuerung rechter Beziehungen.

      Die Heilung des Menschen mit

      der erstarrten Hand

       Markus 3,1–6.7–12

      7–12 Zweiter Bericht vom Andrang der Menschen

      Es war dort ein Mensch

      mit einer völlig erstarrten Hand.

      2 Da beobachteten sie ihn genau,

      ob er ihn am Sabbat heilen werde,

      damit sie ihn anklagen könnten.

      3 Und er sagt zu dem Menschen,

      dem, der die erstarrte Hand hat:

      »Steh auf (und komm) in die Mitte!«

      4 Und er sagt zu ihnen:

      »Ist es erlaubt,

      am Sabbat Gutes zu tun oder Böses zu tun,

      Leben zu retten oder zu töten?«

      Sie aber schwiegen.

      5 Und er sah sie ringsum an mit Zorn,

      aufgebracht über die Verhärtung ihrer Herzen,

      (und) sagt zu dem Menschen:

      »Strecke die Hand aus!«

      Und er streckte sie aus,

      und seine Hand wurde wiederhergestellt.

      6 Da gingen die Pharisäer hinaus

      (und) fassten zusammen mit den Herodianern

      sogleich einen Beschluss gegen ihn,

      dass sie ihn vernichten wollten.

      7 Und Jesus zog fort mit seinen Jüngern an den See,

      und eine große Menge [folgte nach] von Galiläa.

      8 Auch von Judäa / und von Jerusalem,

      auch von Idumäa und jenseits des Jordans

      sowie aus der Umgebung von Tyrus und Sidon

      kam eine große Menge zu ihm,

      hörend, wie großes er dauernd tat.

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