Krankenhauses Santa Maria Nuova erforscht Leonardo da Vinci, verborgen vor den Augen von Kirche und Öffentlichkeit, die Anatomie des menschlichen Körpers. Der junge Mönch Luther interessiert sich wenig für die Wahrheitssuche des Künstlers, auch nicht für die Eroberung neuer Kontinente oder das Wunder des menschlichen Körpers. Luthers „Forschungsgebiet“ ist das Innere des Menschen, die Seele und die Frage, wie der Mensch vor Gott bestehen könne angesichts seiner Unfähigkeit zum Guten und der Unmöglichkeit, sein veräußerlichtes Leben vor Gott zu rechtfertigen. Hier forscht und fragt er mit ganzer Leidenschaft – und voller Angst: „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“ Allein die Wortwahl lässt die Verzweiflung erahnen, die ihn immer wieder umtreibt. Gottlob hat er einen weisen und erfahrenen Beichtvater und Geistlichen Begleiter: Johann von Staupitz, Professor und erster Dekan der theologischen Fakultät an der neuen Universität in Wittenberg. Staupitz habe „die doctrinam angefangen“, meint Luther später einmal. Durch ihn lernen Luther und die anderen Studierenden des Wittenberger Zirkels die Gedankenwelt der deutschen Mystiker kennen. Mit dem Werk Augustinus hatte sich Luther schon in seinen Erfurter Studienjahren intensiv beschäftigt und sich auch mit dem Zisterziensermönch Bernhard von Clairvaux befasst. Nun, in Wittenberg, erlangt mit der Lektüre Johannes Taulers auch die Gedankenwelt Meister Eckharts Einfluss auf die Gottsuchenden. Eines der zentralen Motive der deutschen Mystik ist die „Geburt Gottes im Menschen“. In einer Predigt zum Christfest schreibt Johannes Tauler: „In der Heiligen Schrift lesen wir: ‚Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt‘; das will sagen: er ist unser, und unser Eigen zumal, mehr denn alles, was eigen heißt, er wird zu aller Zeit, ohne Unterlass in uns geboren.“1 Tauler vertieft diesen Gedanken noch und schreibt weiter: „Dass wir nun alle dieser edlen Geburt eine Stätte in uns bereiten, so dass wir wahre geistliche Mütter werden, dazu verhelfe uns Gott. Amen.“2 Mit ganz ähnlichen Worten ermahnt Martin Luther in einer Weihnachtspredigt seine Zuhörer und Hörerinnen: „Glaube du, dass Christus empfangen ist vom Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, aber siehe zu, dass du aus der Geschichte dir eine Gabe machest, dass Christus dir empfangen und geboren (…) sei. Da übe deinen Glauben, dass er täglich fester werde und Lust und Freude dran bekomme (…) Christus ist die Quelle, in ihm ist alle Weisheit und Wahrheit.“3 Allein in diesen wenigen Worten erahnt man die Unabhängigkeit des glaubenden Subjekts gegenüber Institutionen und Lehrmeinungen. Auch, wenn Luther das Schöpfungsbild Michelangelos nicht gesehen hat, bringt er doch eine ganz ähnliche, innigliche Beziehung und Verbundenheit von Mensch und Gott zum Ausdruck. Was der Maler in Farben kleidet, formt Luther in Worte seiner eigenen, inneren Wirklichkeit: das Bild eines nackten Gottes, der uns Menschen näher ist als die eigene Halsschlagader. Martin Luther, der Weihnachtschrist! Das Kind im Schoß Mariens ist für ihn zugleich der, „den aller Welt Kreis nie beschloss“ und welcher „alle Ding erhält allein.“4
Über die kirchenpolitischen Wirren der Reformationszeit geriet das Wissen um den Einfluss der Gedankenwelt deutscher Mystiker auf den Reformator vielfach in Vergessenheit. Anlässlich des Reformationsjubiläums 2017 haben sich die Bemühungen um die spirituellen Grundlagen der Reformation intensiviert. So hat beispielsweise der Tübinger Kirchenhistoriker Volker Leppin in seinem neuen Buch Die fremde Reformation nachgewiesen, wie intensiv sich Luther mit den Gedanken der Deutschen Mystik beschäftigt hat und wie sehr diese ihn nachhaltig inspiriert haben.5 Vielen Menschen öffnet sich dadurch ein neuer Blick in die spirituelle Relevanz der geistlichen Tradition. Auch für die Ökumene birgt die Wiederentdeckung der mystischen Wurzeln der Reformation die Chance, sich in einer Ökumene der Spiritualität das gemeinsamen spirituellen Erbe von 1300 Jahren durch Reflexion, Aneignung und Einübung vertraut zu machen und es zu beleben.
1 Johannes Tauler, Predigten, Bd. 1. Einsiedeln 42007, 14 f.
2 Ebd., 19 f.
3 Martin Luther, Predigt zum Christfest, WA 46, 226.
4 Ders., Gelobet seist du Jesu Christ, in: Evangelisches Gesangbuch, Lied Nr. 23, Strophe 3.
5 V. Leppin, Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln. München 2016.
Alois Odermatt | Zug (CH)
geb. 1936, Dr. phil.,
Historiker und Diplomtheologe
mit Schwerpunkt Liturgiegeschichte
„Ich spreche nie von Gott“
Annäherung an Maurice Zundel (1897-1975)
Der Philosoph und Theologe, Dichter und Mystiker Maurice Zundel hielt regelmäßig Vorträge im Bildungshaus Cénacle der Jesuiten in Paris. Am 22. Januar 1966 ging er dabei auf das Zweite Vatikanische Konzil ein, das wenige Wochen vorher, im Dezember 1965, abgeschlossen worden war.1 Inmitten der nachkonziliaren Euphorie übte er Kritik. Beim Lesen der Konzilsberichte habe er sich oft gefragt, von welchem Gott und von welchem Menschen da gesprochen werde. Das Konzil sei nicht darauf eingegangen. „Im Grund hat es die wesentliche Botschaft nicht angeboten.“ Die Konzilstexte kreisten um einen „Gott der Vergangenheit“. Vielleicht werde sich das nächste Konzil der entscheidenden Frage stellen: Wie wird der Mensch zur Person? Von welchem Menschen reden wir, und von welchem Gott?
Maurice Zundel betrachtete die Klärung der Gottesfrage als derart zentral, dass er dafür gleichsam an ein nächstes Konzil appellierte. Der Theismus mit dem Denkbild eines allmächtigen Schöpfergottes sei dem modernen Denken nicht mehr zumutbar. „Der herkömmliche Gott wird gebraucht, um das Universum zu erklären, seine Entstehung, seine Evolution.“ Aber Schöpfung sei anders zu denken: als Universum, das auf zunehmende Vergeistigung angelegt ist – und wir mit ihm. Wir können dem Göttlichen „nur in jener Welt begegnen, die noch nicht besteht und die wir selber von Augenblick zu Augenblick zu erschaffen haben“.
Die Frage nach Zundels Denken taucht vermehrt auch im deutschen Sprachraum auf. Die folgende Annäherung orientiert sich am Stil Zundels: ein Anliegen essayhaft umkreisen und dabei überraschende Einsichten aufblitzen lassen. In diesem Sinn folgt ein Blick auf den Kern seines Denkens – und auf sein Leben. Innere spirituelle Erfahrungen und äußere Umstände waren bei ihm eng verknüpft. Rückblickend erkannte er: Das Leben selbst ist spirituelle Quelle, auch die Nacht des Lebens.
Prägende Erfahrungen in der Jugend
Maurice Zundel wurde stark durch seine Jugend im westschweizerischen Neuenburg geprägt, wo er am 21. Januar 1897 zur Welt gekommen war.2 Die Mutter stammte aus dem französischsprachigen Teil des Kantons Freiburg und oblag einem rituellen Katholizismus. Der Vater stammte aus dem deutschsprachigen Aargau, war leitender Postbeamter und bescherte der Familie mit vier Kindern einen bescheidenen Wohlstand. „Vater war aktiv freisinnig.“ Das war jener liberale katholische Freisinn, der in den 1840er Jahren die Aufhebung von Klöstern betrieb, nach dem I. Vaticanum (1869/70) die neuen Papstdogmen ablehnte und die Gründung altkatholischer Gemeinden begrüßte. – Wenn Zundel später auf das Papsttum zu sprechen kam, spielte er mit dem Begriffspaar mission – démission (Aufgabe – Aufgeben): Jegliches geistliche Machtgehabe sei „aufzugeben“.
Die protestantische Großmutter mütterlicherseits war antikatholisch eingestellt. „Von ihr kam der stärkste Einfluss auf mein Leben.“ Warum? „Sie trat für die Würde der Armen ein und lebte ständig im Bewusstsein, Gott sei anwesend. Sie war die christlichste Person in meiner Familie.“ Nur mit Widerwillen hatte sie ihre Kinder, als Frau eines Katholiken, „katholisch“ erzogen. Ein Cousin großmütterlicherseits wurde orthodoxer Mönch in Russland.
Sein Onkel Auguste war Mitglied des Ordens der christlichen Schulbrüder und Lehrer an der katholischen Diaspora-Schule Neuenburgs. Aber der Vater ließ Maurice nur zur täglichen Schulmesse und zum Frühstück dieser Schule