zwei andere Elemente gestellt: Das „O“ der Eröffnung und die Anrufung Jesu unter einem biblischen Symbolnamen. Das „O“ ist Ausruf reinen Staunens, es ist entzückte Wortlosigkeit und Sprache in einem. Es kommt aus tiefster Brust. Mit dem Halleluja hat es gemeinsam, dass es einen Ausdruckscharakter trägt und zugleich ein Lallwort ist. Das hebräische Lexem halal malt das orientalische Jubeltrillern aus, das im Wort hallelu-Jah nachklingt, und das „O“ gibt dem Staunen und der Bitte einen unmittelbaren Ausdruck.
Und dann wird der, der kommen soll, mit immer neuen Namen gerufen. Auch darin liegt eine besondere Zärtlichkeit und Intensität: Der, der da kommen soll, wird mit immer neuen (sieben!) Namen angerufen, die je und je ein Stück seines Wesens offenbaren.
Die Reihenfolge der „Strophen“ ist keineswegs willkürlich oder austauschbar. Aus ihr lässt sich eine Chronologie der Geschichte Gottes mit den Menschen von den Uranfängen bis hin zum Eschaton herauslesen. Alle Stationen von der Schöpfung über die Erwählung des Gottesvolkes bis hin zur Geschichte Israels mit seinem Gott werden durchlaufen.
Die erste Antiphon O sapientia rühmt die Weisheit, oder mehr noch: Gott als Weisheit, der in der Bibel Präexistenz zugesprochen wird (vgl. Sir 24,5). Die zweite Antiphon handelt vom Exodusgeschehen, sodann folgt die Wurzel Jesse als Ursprung der Davidsgenealogie, bevor mit dem Schlüssel Davids (Ant. 4) der große König Israels selbst in den Blick kommt. Die Zeit der Propheten wird durch die beiden Antiphonen O Oriens und O Rex Gentium vertreten. Den inneren Abschluss bildet die letzte Antiphon, die im Gegensatz zu den vorhergehenden volltönend mit der Gottesanrede Domine Deus noster schließt. Hier ist auch mit dem Jesustitel „Immanuel“ der einzige zarte Hinweis auf das Weihnachtsgeschehen gegeben (Mt 1,23).
O Adonai
Besonders auffällig ist wohl die zweite Antiphon, die hier in das Zentrum der Auslegung gestellt werden soll. In ihr lautet der Christustitel „Adonai“. Dieser Name ist in der christlichen Tradition eigentlich kaum gebräuchlich, und auch in der lateinischen Überlieferung der Bibel kommt er fast nicht vor (nur in Ex 6,2 f.; dazu in Judit 16,16). Umso wichtiger ist dieses Wort jedoch in der synagogalen Liturgie von hellenistischer Zeit über die Zeit Jesu ununterbrochen bis heute. Weil man im Judentum den kostbaren Gottesnamen nicht (unbedacht) ausspricht, wählt man ein Ersatzwort, das immer dann gesprochen wird, wenn in der Tora das Tetragramm JHWH steht. Die jüdische Tradition liest es dann als „Adonai“, was so viel heißt wie „mein Herr“. Daraus hat sich in der griechischen Bibeltradition (der Septuaginta und im Neuen Testament) die Übersetzung ins Griechische hergeleitet, so dass Gott mit Kyrios, deutsch: der Herr, wiedergegeben wird (und im Lateinischen entsprechend mit Dominus). Aber immer sind dies Ersatzformulierungen, um den kostbaren Gottesnamen zu gebrauchen und ihn zugleich ehrfürchtig zu schützen. Die revidierte Einheitsübersetzung steht in der Folge dieser Tradition. Sie verwendet ebenfalls das Platzhalterwort Adonai/Kyrios/Dominus in der deutschen Übersetzung, und zudem schreibt sie es in vier Großbuchstaben „HERR“, so dass angesichts des Textes den Lesenden augenfällig in Erscheinung tritt, dass hier das Tetragramm seinen Platz hat. So wird man beim Lesen an den kostbaren Gottesnamen erinnert. Die zweite O-Antiphon holt diesen großen Zusammenhang bibeltheologisch ein, denn sie spricht vom Gottesnamen im Kontext des Exodusgeschehens:
O ADONAI
und Führer des Hauses Israel,
der du dem Mose in der Feuerflamme des Dornbuschs erschienen bist und ihm auf dem Sinai das Gesetz gegeben hast:
Komm, um uns zu erlösen
mit ausgestrecktem Arm.
Am brennenden Dornbusch hat Gott dem Mose seinen Namen offenbart (Ex 3,14). Der Name Gottes bedeutet: Ich bin da, ich kenne euer Leid, ich höre euer Rufen, ich reiße euch heraus aus der Knechtschaft; so war ich, und so bin ich. Wesen und Wirksamkeit Gottes lassen sich nicht voneinander trennen. Mit der Kenntnis dieses Namens ausgerüstet, kann Mose vor das Volk treten und ihm den Auszug aus der Sklaverei verkünden. Unter diesem Namen kann und will Gott angerufen werden, weil dieser Name das Wesen Gottes selbst offenbart und anrührt. Ist der Name einmal dem Gottesvolk geschenkt, kann es ihn immer und immer wieder anrufen. Die ganze Bibel ist voll davon und auch der weihnachtliche Jesustitel „Immanuel“ kann als Variation dieses einen Gottesnamens verstanden werden.
Erstaunlich bleibt nur die Tatsache, dass die in lateinischer Sprache verfassten O-Antiphonen dann gerade nicht den Normalgebrauch der Schrift, sprich der Vulgata, übernehmen, sondern das im Christentum kaum gebräuchliche, synagogale „Adonai“ verwenden. Als Lösung erscheint wahrscheinlich, dass man dezidiert die biblisch-jüdische Tradition, nicht allein in ihrer Bedeutung, sondern auch in ihrer Klanggestalt einholen wollte. Man wusste, unter welchem Namen Gott in der jüdischen Liturgie angerufen wird. Und so ist in Gestalt dieser Antiphon die jüdische Sprach- und Gottestradition als kostbares „Fremdwort“ zu einem „Eigenwort“ der christlich-lateinischen Tradition geworden.
Israel-Gebet der Kirche
Hierin liegt eine tiefe Bedeutung. Den O-Antiphonen ist klar, dass es der Gott Israels ist, der von Juden und Christen gemeinsam, wenn auch in unterschiedlichen Sprachen, angerufen wird. Und sie bekennen, dass es der Gott Israels ist, der sein Heilshandeln in Jesus Christus zugunsten aller Völker der Welt fortsetzt.
Dabei ist bemerkenswert, dass die christliche Sprachtradition die synagogale Praxis nicht nur ehrfürchtig zitiert, sondern sich zu eigen macht – und in den Kontext der eigenen Erwartung stellt. Es findet sich keinerlei Spur eines Schemas von „Verheißung – Erfüllung“, dessen Verständnis als dichotomer Struktur eine verheerende Spur durch die christliche Theologie gezogen hat. Vielmehr wird das in der Geschichte geschehene Heil zugleich als für die Gegenwart noch Ausstehendes erfleht.
In der Theologie der Antiphon sind somit zwei Glaubenserfahrungen enthalten. Zum einen ist ausgedrückt, dass die Vollendung der Erlösung noch aussteht; zum anderen ist gesagt, dass Gottes Taten keine reinen Vergangenheitstaten sind. Das ist die Überzeugung auch des christlichen Glaubens. Was Gott im Exodus gehandelt hat, muss er noch in die Vollendungsgestalt führen und in Gegenwart und Zukunft wirksam machen. Darin ist implizite Israeltheologie enthalten: Weil auch wir auf Vollendung hoffen, stehen wir Seite an Seite mit Israel, beten wir mit Israel und mit den Worten Israels; nicht nur mit dem biblischen Israel, auch mit dem heute existierenden. Was hier beispielhaft anhand der zweiten Antiphon gezeigt wurde, gilt für den gesamten Duktus der sieben Antiphonen.
Die in ihnen enthaltene implizite Israeltheologie ist gleichzeitig die Stärke und Schwäche dieser Texte. Stärke, weil dieses Israel in den Antiphonen durchaus existent ist und damit nicht nur zum abstrakten Glaubensgut gehört, sondern in der Liturgie doxologisch zum Klingen kommt. Schwäche, weil diese Israeltheologie sich nur dem geschärften Blick und dem geöffneten Ohr erschließt und dadurch im Laufe der Jahrhunderte trotz jährlich-zyklischen Gebrauchs der Antiphonen unbeachtet bleiben konnte. Es ist wohl anzunehmen, dass der Dichter der Antiphonen bei seiner impliziten Israeltheologie nur das biblische, das vorchristliche Israel im Blick hatte. Welchen heilsgeschichtlichen Stellenwert er dem zu seiner eigenen Zeit existierenden Israel gab, lässt sich nicht ermitteln. Aber dies ist wiederum auch ein Vorteil der Antiphonen: Sie sind in dieser Hinsicht ein offener Text, der eine Leseweise auch in Richtung auf das heutige Israel zulässt, ja in gewisser Weise sogar erfordert; denn wenn die diese Antiphonen singende Kirche sich als in eschatologischer Erwartung lebend begreift, umso mehr weiß sie sich an die Seite des biblischen und des jüdischen Gottesvolks gestellt. Von der gemeinsamen Erwartungshaltung her lassen sich keine Grenzen zwischen biblischem und heutigem Israel und der Kirche ziehen.
Was der jüdisch-christliche Dialog erst mühsam in den letzten Jahrzehnten in reflektierter Form eingeholt hat, ist in den O-Antiphonen schon Glaubensgut der lateinischen Kirche seit ältester Zeit. Aus ihnen ist ein Stück sensibler Israeltheologie zu lernen: Die Texte kreisen um Jesus Christus, aber sie müssen seinen Namen nicht nennen. Wohl aber gebrauchen und benötigen sie die ganze Erfahrungs- und Bildsprache des Alten Testaments, um überhaupt über Jesus Christus sprechen zu können. Dabei wird die Erwartung des Heils nicht einfach christologisch „aufgelöst“. Der Christus, der gekommen ist, ist zugleich derjenige, der noch kommen muss.