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Geist & Leben 4/2017


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ihrem Wiener Freundeskreis gehörten Kardinal Innitzer, Domkapitular Karl Rudolf sowie Chorherr Pius Parsch, der vom Stift Klosterneuburg aus die Liturgische Bewegung antrieb. Die religiöse Lyrik der Dichterin bezog sich mehr und mehr auf liturgische Texte und kirchliche Festzeiten. Für eine liturgische Handreichung übersetzte sie die Hymnen der monastischen Laudes aus dem Lateinischen.5

      So lag es nahe, dass sie mit der Aufgabe betraut wurde, Zundels Liturgie-Buch zu übersetzen. Es erschien 1937 im Tyrolia-Verlag unter dem Titel Das Hohelied der Heiligen Messe. Das Erzbischöfliche Ordinariat Wien erteilte am 1. Juni 1937 die Druckerlaubnis. Mit Datum vom 14. Juni schrieb Zundel, zusätzlich zum bereits bestehenden Geleitwort der französischen Ausgabe, ein kurzes Vorwort. Darin betonte er sein Anliegen: Das Buch „soll dem Leser, so ungläubig er auch sein möge, diese Überzeugung nahebringen, dass Religion das Leben schlechthin ist, das Leben in all seinen natürlichen und übernatürlichen Entfaltungen. Deswegen wird so oft in diesen Seiten auf Kunst und Wissenschaft, auf Politik und Geschichte, auf Gewissen und Gefühl hingedeutet.“ [Herv. MZ]

      Die SA verbot 1938 die Produktion aller Tyrolia-Zeitungen und schränkte die Buchproduktion der Tyrolia ein.6 In der Folge wurden auch die Druckplatten des Zundel-Buches zerstört. Darum brachte der Rex-Verlag Luzern 1948 eine neugesetzte „autorisierte Lizenzausgabe“ heraus, mit anderer Paginierung. Beide Ausgaben sind längst vergriffen.

      Der Pattloch-Verlag publizierte 1995 Zundels Buch L’Évangile intérieur unter dem Titel Die Innenseite des Evangeliums auf Deutsch.7 Der Verlag stellte Zundel im Nachwort vor. Er sei „im deutschen Sprachraum bis heute weitgehend unbekannt geblieben“. Das Buch sei „die erste Schrift Zundels, die in deutscher Sprache vorliegt“8 (sic!). Er zeige „das zutiefst Menschengemäße der Botschaft Christi auf. Darum ist er nicht weniger Philosoph, als er Theologe ist. Entweder das Evangelium ist auch innerlich, seelisch wahr, oder es ist nicht wahr. Entweder ist es die spirituelle Selbstentfaltung des Menschen, oder es ist gar keine Entfaltung.“9 Grundlegend sei „die Begegnung der inneren mit der äußeren Offenbarung“.

      Das vierte Kapitel des Buches geht auf „Die Frage des Bösen“ ein.10 Zundel fragt nach der Gerechtigkeit und Güte Gottes angesichts des Übels in der Welt und vertritt dabei sein zentrales Anliegen: Gott trägt nicht die Verantwortung für das Übel. Er will nicht das Böse. Ce n’est pas Dieu qui a pu vouloir cet abîme. Gott hat gar nicht vermocht, diesen Abgrund zu wollen. Er ist gar nicht als Instanz denkbar, die das Böse will, ja auch nur zulässt. Die Übersetzung ändert diese Aussage: Gott hätte es schon vermocht, aber hat es sicher nicht gewollt. Für Zundel ist Gott geheimnishaft das erste Opfer des Bösen. Die Übersetzung gibt mystérieux mit „unerklärlicherweise“ wieder.11

       Nietzsche-Tänzer auf hohem Seil

      Seit Zundels Tod 1975 reißt der Strom an Publikationen nicht ab: Tagungsberichte, Neuauflagen einzelner Bücher, posthume Veröffentlichungen von Vorträgen und Predigten, Studien und Dissertationen, Blütenlesen sowie biographische Werke. Die Universitätsbibliothek seiner Geburtsstadt Neuenburg betreut die Privatbibliothek, die er ihr vermacht hat. Vier Zundel-Gesellschaften verbreiten sein Denken im Rahmen von Tagungen und Gesprächsgruppen: in Frankreich, Belgien, Kanada und in der Schweiz. Die internationale Maurice Zundel-Stiftung verwaltet die Urheberrechte und bereitet eine kritische Gesamtausgabe der Schriften vor.

      In der Rezeption tritt zunehmend klar der Anspruch zutage, der mit Zundels Denken verbunden ist: Atheismus und Theodizee entschlüsseln und das theistische Gottesverständnis entlarven, das seit je ein Grundmuster religiösen und gesellschaftlich-kulturellen Lebens war. Fragte ihn jemand: „Glaubst du an Gott?“, gab er zur Antwort: „Glaubst du an den Menschen?“ Oder: „Ich glaube nicht an Gott, ich durchlebe ihn. Wir entdecken ihn, wenn wir selber Mensch werden.“ Er hinterließ ein handschriftliches Credo. Die zitternde Hand weist es als einen seiner letzten Texte aus. Der erste Glaubenssatz lautet: „Ich glaube an den Menschen, Schöpfer des Menschseins.“ Zundel betonte in Vorträgen und Predigten immer wieder, Nietzsche habe zu Recht auf dem Markt der Menschheit den Tod dieses Gottes ausgerufen. In Kairo schmunzelte ihm ein Gymnasiallehrer freundschaftlich zu: „Sie erinnern mich an den Nietzsche-Tänzer auf hohem Seil.“12

      Der Nietzsche-Tänzer erntete widersprüchlichen Beifall. Georges Marie Cottier (1922–2016), Schweizer Kardinal und päpstlicher Haustheologe unter Johannes Paul II., verurteilte Zundels Gottesrede als unvereinbar mit der kirchlichen Glaubenslehre.13 Bernard de Boissière (1921–2016) verstand seine Biographie als Beitrag zur Seligsprechung, nach der „viele rufen, die bereits zu ihm beten“14. In Brasilien verschreit ihn die Kulturvereinigung Montfort als „empörenden und unverschämten Ketzer“15. Der italienische Essayist Claudio Dalla Costa preist ihn als „einen der ungewöhnlichsten Mystiker des 20. Jahrhunderts“16. Der libanesische Philosoph und Dichter René Habachi fragt, ob sein Gottdenken nicht zu den wichtigsten Einsichten des 20. Jhs. zähle: „Sein Denken hat heute am ehesten Geltung für alle Weltkulturen“17.

       Erfahrung und Denkbild „Gott“ jenseits des Theismus

      Der Theologe Marc Donzé erarbeitete Ende der 1970er Jahre eine Studie über das „theologische Denken von Maurice Zundel“, die von der Päpstlichen Universität Gregoriana als Doktorarbeit angenommen wurde, 1980/81 als Buch erschien und die Auseinandersetzung mit dem „Meister aus Lausanne“ eröffnete. Sein Fazit: Zundels denkerischer Beitrag lässt sich bestimmen „als Neudeutung der gesamten christlichen Dogmenlehre in einer Mystik der Liebe“, die eine Mystik des Loslassens und der schöpferischen Leere sei.18

      Das erste wissenschaftliche Zundel-Kolloquium 1986 in Paris umschrieb das Denken Zundels als „mystischen Realismus“. Die Akten erschienen 1987. Sie fanden Echo im deutschen Sprachraum durch die Rezension, die ihnen Klaus Müller widmete, der spätere Münsteraner Professor für Fundamentaltheologie und Religionsphilosophie. Es sei ein erster Versuch gewesen, dieses Denken „in seinen Herkunftskontexten zu situieren und in seiner möglichen Relevanz für gegenwärtige Fragestellungen zu bestimmen“. Zumindest für den deutschsprachigen Raum falle „dieser Publikation zunächst die noch bescheidenere Rolle zu, mit einem nahezu vollständig unbekannt Gebliebenen ersten Kontakt zu stiften“. Müller schloss mit der Vermutung: „Im Rahmen der Bemühung, die Leistungen ‚Christlicher Philosophie‘ von katholisch geprägten Denkern des 19. und 20. Jhs. zu erhellen und (wieder) zu erschließen, dürfte auch Maurice Zundel in absehbarer Zeit der ihm gebührende Platz zuerkannt werden.“19

      Es wird sich zeigen, was aus dieser „absehbaren Zeit“ auf wissenschaftlicher Ebene wird. Tatsache ist, dass Zundels Denken auf spiritueller Ebene um sich greift. Aber dies darzustellen ist nicht leicht, weil Maurice Zundel eine säkulare Sprache forderte. So sagte er 1959, als gerade die Vorarbeiten für das Konzil anliefen, in einer Ansprache an Sozialarbeiter(innen): „Wir tragen in uns ein heimliches Geschehen, unendlich geheim, und jede lebendige Religion muss darin wurzeln. Ich spreche nie von Gott, nie von Gott, niemals, niemals, außer zu jenen, die das verstehen können. Denn es ist hochheilig, und wir zerschleißen das Wort ‚Gott‘, wenn wir es vor den Ohren jener aussprechen, die nicht im Vertrauen sind, die das Heimliche nicht verstehen können. Tragt Gott in euch, in eurer Nächstenliebe, in eurer Ehrfurcht, in eurem Dienen. Aber sprecht nicht darüber. Ihr würdet ihn zerschleißen.“20

      In dieser Erfahrung kommt das Göttliche als pauvreté, als „Loslassen“ oder „Leere“ aus der „auf uns zukommenden“ Welt entgegen. Wir entdecken es, wenn wir selber Mensch werden: auf der Klaviatur der Triebkräfte und Leidenschaften, mit denen wir in dieses kosmische Drama der Evolution hineingeworfen wurden. In diesem Denken kommt uns das Menschsein nicht kraft unserer Geburt zu. Wir haben unsere „Existenz“ als Person erst zu erschaffen. Für diese „zweite Geburt“ erfahren wir die „schöpferische Leere“ als Sog des Geistes über uns hinaus, als Ruf zur Freiheit. Die Erfahrung des Göttlichen deckt sich mit Selbsterfahrung. Wir sind die Schöpfer von uns selbst und unserer Welt. Das führt zur Kurzformel: „Gott ist in uns der schweigende Raum, in dem unsere Freiheit zu sich selber kommt.“ So spricht Zundel auch, wie Meister Eckhart im Mittelalter,