„Die Durchsichtigkeit der Dinge, das ist mein Beten“
Zundels denkerische Pfade rütteln auf: Wir bitten nicht einen Pharao-Gott um dies und jenes, sondern wir „erhören“ die rufende Sehnsucht, die wir in uns und in der Welt wahrnehmen. Nicht „Gott“ erhört uns – wir erhören ihn, indem wir auf das Geheimnis des Lebens und der Welt hören. Zundel empfahl drei Wege, diesem „heimlichen Geschehen in uns“ Raum und Kraft zu geben: die Betrachtung des Schönen in der Begegnung mit der Kunst, die Suche nach dem Wahren in der Wissenschaft, die Erfahrung des Guten in den mitmenschlichen Beziehungen. Schöpfung geschieht. In einem Vortrag aus dem Jahr 1963 zeigt er anschaulich, wie dieser Weg, Gott zu erfahren, für jede und jeden zugänglich ist. Man kann diese Aussage als Zusammenfassung seiner Theologie und Spiritualität lesen. Es ist mystischer Realismus: „Wir sollten uns täglich die Muße schenken, Freuden des Menschseins, des Denkens, der Zärtlichkeit und der Freundschaft zu pflücken. Regelmäßig dieses schweigende Innewerden pflegen, dann beginnt unsere innere Landschaft fast wie von selbst wieder zu blühen (…) Jede und jeder erreicht das auf eigene Weise: der Physiker, indem er im Labor ins Staunen kommt; der Musiker, indem er sein Instrument spielt; der Kunstmaler, indem er seine Schöpfung auf Leinwand bannt; die Mutter, indem sie beim Strahlen ihres Babys in Entzückung gerät; die Verliebten, indem sie im Andern sich selbst entdecken; der Bergsteiger, indem er Gipfel erobert; wir selber, indem wir etwa eine Schallplatte auflegen und innerlich mit der Musik übereinklingen. Oder ganz einfach, indem wir beim Blumenladen vorbeigehen und das Licht wahrnehmen, das uns ein Blumenstrauß zuwirft. Wir nehmen unsere Vorlieben, Neigungen und Bedürfnisse ernst und gehen still darauf ein, wie es gerade geht. Das Geschaffene wird auf das Unendliche hin durchsichtig. Die Durchsichtigkeit der Dinge, das ist mein Beten.“21
1 M. Zundel, Quel Dieu et quel homme?, in: Présence de Maurice Zundel. N° 57. Supplément. Paris 2007. Die folgenden Zitate aus diesem Text. – Alle Übersetzungen aus dem Französischen stammen von Alois Odermatt.
2 Die biographischen Auskünfte und entsprechende Zitate allgemein nach B. De Boissière / F.-M. Chauvelot, Maurice Zundel. Nouvelle édition revue et augmentée. Paris 2009 (ohne Seitenangabe in einzelnen Fällen).
3 A.-M. Carré, La Sainteté. Paris 2004, 78.
4 Vgl. D. Maertens, Paula von Preradovic. Eine neuromantische Gestalt. Ein Leben und ein Schaffen zwischen Kroatien und Österreich (Dissertation). Gent 1956.
5 K. Rudolf, Weckrufe zu Gott. Ein liturgisches Morgenbuch. Wien 1934.
6 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Tyrolia_Verlag (Stand: 7. April 2017).
7 M. Zundel, Die Innenseite des Evangeliums. Augsburg 1995.
8 Ebd., 139 f.
9 Ebd., 141.
10 Ebd., 55–64.
11 Zu den Übersetzungen vgl. A. Odermatt, Welchen Menschen und welchen Gott meinen wir? Der Westschweizer Theologe Maurice Zundel (1897-1975) und die schwierige Kommunikation zwischen französischem und deutschem Sprachraum, in: U. Fink / R. Zihlmann (Hrsg), Kirche – Kultur – Kommunikation. Peter Henrici zum 70. Geburtstag. Zürich 1998, 647–670; bes. 661–665.
12 In Anspielung auf Also sprach Zarathustra, wo Nietzsche im vierten Stück der Vorrede den Vergleich zieht: „Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch – ein Seil über einem Abgrunde.“ Zundel las Nietzsches Zarathustra auf Deutsch, wie es sich in der Universitätsbibliothek Neuenburg nachprüfen lässt.
13 Im Vorwort zu P. Descouvement, Dieu souffre-t-il? Paris 2008, 13.
14 B. De Boissière / F.-M. Chauvelot (Hrsg.), Maurice Zundel, 17 [s. Anm. 2].
15 Associação Cultural MONTFORT, S. Paulo, Brasil (Hrsg.), L’abbé Maurice Zundel: Un hérétique scandaleux et effronté, abrufbar unter: www.montfort.org.br/fra/lettres/zundel1.html (Stand: 11.4.17).
16 C. Dalla Costa, Maurice Zundel, un mistico contemporaneo. Torino 2008, 14.
17 R. Habachi, Quatre aspects de Maurice Zundel. Paris 1992, 41.
18 M. Donzé, La pensée théologique de Maurice Zundel. Pauvreté et libération. Genève 1980/81. Zweite ergänzte Auflage, Saint-Maurice – Paris 1998.
19 Maurice Zundel – Un réalisme mystique. Actes du Colloque organisé à l’Institut catholique de Paris. 30-31 mai – 1er juin 1986, Paris 1987, in: ThRv 84 (1988), 502–503.
20 M. Donzé, L’humble présence. Inédits de Maurice Zundel. Tome I. Genève 1985, 77.
21 M. Zundel, Émerveillement et Pauvreté (Collage). Saint-Maurice 1990, 196–198.
Egbert Ballhorn | Dortmund
geb. 1967, Professor für Exegese und Theologie des Alten Testaments
Wer hört, der rufe: Komm!
Die O-Antiphonen als Israel-Gebet der Kirche
Albert Gerhards in Dankbarkeit gewidmet
Die O-Antiphonen mit ihrer sehnsüchtigen Erwartungsstimmung bilden einen Höhepunkt der Adventsliturgie; sie finden als Magnificat-Antiphonen in den sieben Tagen vor Weihnachten, vom 17.–23. Dezember, und in der jetzigen Messliturgie auch als Ruf vor dem Evangelium Verwendung. Alle sieben Antiphonen beginnen mit einem sehnsüchtigen Anruf „O“, der an Jesus Christus gerichtet ist und sich in der Anrufung Christi mit einem biblischen Bildnamen fortsetzt. Die jeweils zweite Strophenhälfte setzt die Anrufung in die Form der Bitte „veni“ hinein fort.
„O komm!“, das ist eine starke, intensive Sprache. Gelernt hat die Liturgie sie aus der Bibel, die mit dieser Bitte endet. „Der Geist und die Braut aber sagen: Komm! Wer hört, der rufe: Komm!“ (Offb 22,17). Es gibt also eine eigene Aufforderung, dass es recht ist, „Komm!“ zu rufen. Und vor dem Rufen steht das Hören. Nur wer den Aufruf selbst gehört hat, der kann auch rufen. Ein bemerkenswerter Lernprozess wird hier angestoßen. Im Grunde kann man die gesamte Offenbarung des Johannes so lesen, dass man einen furchtlosen Blick auf die gewaltgetränkte Wirklichkeit der Welt tut, sich anschließend vom Boten Gottes die Augen für die Welt Gottes öffnen lässt, in der die Gewalt überwunden ist und schon der große Sieg über die Mächte des Todes gefeiert wird, um am Ende zu lernen, dass es darauf ankommt, die Ankunft des Erlösers herbeizurufen. Damit endet dann auch das letzte Buch der Bibel – mit dem Ruf: „Amen, Komm, Herr Jesus!“ (Offb 22,21).
Dass das letzte Wort der Christen eine Bitte ist, ist bedeutsam. Von Gott her muss alles kommen, nicht vom Menschen. Der, der noch nicht da ist, kann und will aber angerufen werden – über alle Abgründe hinweg. Er hört, er ist anrufbar. Die Menschen müssen lernen zu hören, um dann sprechen zu können, was nottut und den herbeizurufen, der die Zeit wenden kann. Menschen verfügen gern über vollmächtige Worte, über wirksame Worte. Sie erfahren aus der heiligen Schrift: Das letzte Wort ist eine Bitte, eine Kontaktaufnahme, die zugleich Selbstentäußerung ist. Wer so bittet, ohnmächtig-vertrauensvoll, gibt sich selbst dahin: „Komm!“ Zugleich ist der Ruf Zeichen eines tiefen Vertrauens. Wer so ruft, weiß, dass der Angerufene hört, dass er in Bereitschaft steht, und dass er wirklich kommen wird.
Dass die Adventsliturgie – vermutlich seit vorkarolingischer Zeit – sich diese Haltung zu eigen gemacht hat, hat großes Gewicht. Was im Credo noch im Modus des Bekenntnisses ausgesagt wird, erhält in der Form der Bitte eine ganz andere Gestalt. Die Form der Bitte ist mehr als die Kundgabe des eigenen Glaubens und das Ablegen