Methode wurde von den Landjägern am Grenzzoll so gut wie nie praktiziert, sodass der Verhörrichter sie wegen seiner angeblichen Gebundenheit an Chur466 teilweise über Jahre hinweg nicht zu Gesicht bekam.467 Im Zuge des leitungsbezogenen Drangs nach systematischer Kontrolle spielte diese physische Begegnung gewissermassen eine duale Rolle – sie diente der Informationsbeschaffung ebenso wie der disziplinarischen Kontrolle. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das formal-normative Ziel des Polizeisystems im Endeffekt bei beiden Aspekten dasselbe war: Erst durch ein Maximum an disziplinierter Polizeipraxis konnte die modern-staatliche Datenerhebung entscheidend vorangetrieben und das Monitoring des Hauptauftrags realisiert werden. Nur sofern die Landjäger den Befehlen nachkamen, waren formal-normative Anpassungen überhaupt möglich. Die alljährlich weitergeleitete Berichterstattung der gesammelten Datenerhebungen an die obersten Polizeibehörden, den Grossen und Kleinen Rat, ist insofern ein Messinstrument für geleistete Polizeipraxis. Infolge der kontinuierlichen Zuständigkeitserweiterung gegenüber der einheimischen Bevölkerung geriet auch sie im Lauf der Jahre vermehrt ins Visier des Überwachungsapparats. Im Gegensatz zur Fremdenpolizei, die in erster Linie über geleistete Korrekturmassnahmen berichtete, durften Vergehen von Einheimischen in den meisten Fällen aber nur gemeldet werden. Eine Ausnahme bildeten diejenigen Fälle, in denen die Gerichte die Hilfe oder das Eingreifen der Landjäger explizit beansprucht hatten.
Der gesamte Datenerhebungsprozess eilte den politischen Entscheidungen betreffend hauptpolizeiliche Tätigkeitsfelder also gewissermassen voraus, wobei die kommunikativen Mittel zwischen Landjäger und Verhörrichteramt beziehungsweise Polizeidirektorium diesem Prozess entscheidenden Vorschub leisteten. Im seinem ersten Amtsbericht schrieb der neue Polizeidirektor Paul Janett:
«Ein Gesetz vom Jahr 1826[468] macht die löblichen Gerichts und Hochgerichtsobrigkeiten verbindlich, alle auf ihrem Gebiete vorgefallenen Verbrechen den Kantonspolizei- und Untersuchungsbehörden sogleich mitzutheilen, doch es wird leider dieser gesetzlichen Bestimmung äußerst selten entsprochen und wenn nicht die Landjäger dazu angehalten würden, alle zu ihrer Kenntniß gelangten Verbrechen und Vergehen einzuberichten, so würde deren bekannt gewordene Zahl wohl kaum den dritten Theil erreichen.»469
Der angesprochene Artikel von 1826 stützte sich auf eine Verordnung des Grossen Rates, ausgehoben aus der Proklamation des Kleinen Rates vom 27. Juni 1811, der Publikation vom 10. Oktober 1820 und dem Abschied vom 12. Juli 1824.470 In seinem Amtsbericht hatte der Verhörrichter zudem darauf verwiesen, dass die entsprechende Aufforderung Ende 1825 in der Churer Zeitung publiziert worden sei.471 Hierin zeigt sich auch der Ansatz der Kantonsbehörden, mittels des vergleichsweise neuen und wachsenden Mediums Zeitung ein grösseres Publikum und insbesondere auch nicht amtliche Kantonsbürger zu erreichen. Im Zeitungsinserat waren denn auch entsprechend «alle Löbl. Obrigkeiten und überhaupt […] Jedermann» eingeladen und aufgefordert,
«alle vorfallende Verbrechen und Vergehen [wie] Brandstiftungen, Einbrüch[e] und Beraubungen […sowie] alle vorfallende Verbrechen und Vergehen dieser Art sogleich und möglichst umständlich […] anzuzeigen, auf verdächtige, besonders etwa herumziehende Personen ein wachsames Auge zu haben, selbe im Betretungsfall zu ergreifen, und zur weitern geeigneten Verfügung wohlverwahrt anher [ans Verhörrichteramt, M. C.] zu liefern, auf der andern Seite aber auch boshaften Ausstreuern solcher Schreckensberichte sorgfältig nachzuspüren und dieselben zur Rechenschaft zu ziehen».472
Den einfachen Landjägern wurde bei dieser Aufrechterhaltung des Sozialdisziplinierungsapparats die zentrale Rolle zuteil. Sie waren, insbesondere im Hinblick auf die Fremdenpolizei, nicht nur deren Vollstrecker, sondern, und in diesem Fall immer stärker auch betreffend die einheimische Bevölkerung, ebenso sehr die Zulieferer für fichenähnliche Kontrollsysteme.
Ohne regelmässige Kommunikation wäre das Polizeisystem entweder ineffizient wie zu vorverhörrichterlichen Zeiten oder aber ganz zum Scheitern verurteilt gewesen. Dies mag das Beispiel verdeutlichen, in dem der Verhörrichter den in Poschiavo stationierten Mark Hartmann am 22. August 1826 um Erklärung betreffend ausgebliebene Rapporte für die vergangenen vier Monate ersuchte: Man wisse «gar nicht, ob er noch am leben seÿ, oder ob und wie er seine Pflichten erfülle». Er werde ermahnt, künftighin «vorschriftsmäßig am Ende jeden Monats seinen Bericht anher abzustatten».473 Wenn der Verhörrichter Landjäger Mark Hartmann wegen ausstehender Rapporte ermahnte, ging es nicht nur um den disziplinarischen Aspekt; in seiner Zentrale in Chur hatte er ohne die Rapporte der Landjäger keine Ahnung davon, was an den Aussenposten passierte, und ohne die Rapporte war auch die Abstimmung mit den anderen Landjägern betreffend regulative Weisungen unmöglich. Wollte der Verhörrichter dieses Überwachungssystem aufrechterhalten, so war er erstens daran interessiert, dass die Rapporte regelmässig eintrafen, und zweitens, dass die Landjäger ihm möglichst viele Informationen lieferten, die ihm die Übersicht sowohl über häufige Aufenthaltsorte, Gruppengrössen und die Wege, auf denen fremde Personen ins betreffende Gebiet eindrangen, als auch über verbrecherische Taten Einheimischer verschafften. Die Landjäger wurden nicht nur an der Erfüllung ihres Auftrags, dem regelmässigen Rapportieren, sondern auch an den konkreten Leistungen gemessen. Dass Verbrecherraten und Heimatlosen- sowie Vagantenintensitäten je nach Zeit und Ort sehr unterschiedlich ausfallen konnten, blieb unberücksichtigt. Den Landjäger Paul Haag, einen der Nachfolger Hartmanns in Poschiavo, ermahnte der Verhörrichter:
34 Tabellenvorlagen für aufgedeckte Verbrechen, erfasste Deserteure und Vaganten, Chur 24. 2. 1821.
«Uebrigens […] muß man leider ihm bedeüten daß man keine besondern Beweise von seiner Thätigkeit hat; denn über den Monat 7ber erstattete er keinen Rapport überhaupt fieng er im Ganzen sehr wenige und seit langer Zeit gar keine Vaganten […] auf und entfernte sie aus dem Kanton, welches in einem Gränzhochgericht wie Poschiavo [es] ist, gewiß bei einiger Thätigkeit öfters der Fall seÿn müßte, da schon hier mehrere Vaganten betretten wurden, die über Poschiavo herkammen.»474
Dieser Leistungsanspruch musste sich auf das Verhalten und die individuellen Praktiken der Polizisten auswirken. Es wird interessant sein, diesen partikulären Vorgehensweisen in den folgenden Kapiteln nachzugehen. Jedenfalls wurde, wiederum gemessen an den eigenen Ansprüchen, das polizeileitungsbezogene Monitoring im Lauf der Jahre immer effektiver.475 Betreffend Übersicht über vorgefallene Verbrechen auf Bündner Kantonsgebiet schrieb der Verhörrichter 1828:
«In Betreff der Mehrzahl der Unthaten darf man sich schmeichlen, daß selbe nicht von wirklicher Vermehrung der Verbrechen sondern von fleisigerer Anzeige derselben durch die Landjäger herrühre, und muß nur bedauren, daß dieses selbst beÿ wichtigen Unthaten noch immer selten von den Obrigkeiten geschieht.»476
Ein weiterer Teil der im Amtsbericht erwähnten Verbrecherzahlen stützte sich auf die am Kriminaltribunal behandelten Fälle. Innerhalb dieses kantonalen Gerichts, das 1808 errichtet worden war, bildete der Verhörrichter mit dem Gerichtspräsidenten und dem Schreiber die eigentliche Untersuchungsbehörde. Anfänglich zur Verurteilung fremder Verbrecher gedacht, wurde das Gericht zusehends auch von den Gerichtsgemeinden verwendet. Dies geschah insbesondere dann, wenn ein Einheimischer ausserhalb seines Gerichts delinquent geworden war und die für ihn zuständige eigene Gerichtsgemeinde sich durch die Übersendung nach Chur eigene Gerichtskosten und Organisationsumstände ersparen konnte. Mit der Revision des Kriminaltribunals im Jahr 1823 erhielt diese Praxis ihre gesetzliche Grundlage.477 Der Transport der einheimischen Verbrecher nach Chur erfolgte teilweise durch die dafür beauftragten Landjäger, teilweise aber auch durch die jeweiligen Gerichtsweibel. Eine extreme Variante dieses ganzen bürokratischen Datenerhebungsprozesses ist in einem der Amtsberichte des Verhörrichters in Form minuziös dargestellter Tabellen erhalten geblieben.478 Als Verbrechen wurden Fälle erfasst, welche zuweilen auch ganze Gruppen umfassen konnten. Dabei beinhaltete diese Kategorie sämtliche Arten von Delikten, beginnend beim kleinen Diebstahl und endend bei Mord und Totschlag.
Unter dieser zunehmenden Kontrolle wurden Aussagen, gemäss denen viele Landjäger Vaganten ohne Eintrag durch den Kanton und über die Grenze zurückgewiesen hätten,479 immer