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Jeder Frau ihre Stimme


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von der vereinsmässig organisierten Frauenbewegung distanzierten, nicht selten in ignoranter Überheblichkeit.

      Zwei Faktoren erzeugten in der Schweiz allerdings die nicht zu unterschätzende spezifische Wirkung, dass sich die in Vereinsstrukturen organisierte Frauenbewegung und die neue, über informelle Arbeitsgruppen, Aktionen und Demonstrationen agierende Frauenbewegung nach Einführung des Frauenstimmrechts 1971 in der Schweiz immer wieder gegenseitig dynamisierten: zum einen die Wechselwirkung zwischen der im Verhältnis zu anderen westlichen Staaten späten Umsetzung der rechtlichen Gleichstellung im Gesetz, und der Mobilisierungseffekt direktdemokratischer Instrumente zum anderen. Dieser Dynamisierungsprozess erwies sich als spannender als die gegenseitige Abgrenzung oder das Sprechen von zwei «Wellen».38 Er barg viel kreatives Potenzial in sich und brachte die Pluralität der Positionen und deren Schnittstellen zum Ausdruck.39 Diese zeigten sich im Befreiungsdiskurs, in Fragen der gesetzlichen Liberalisierung der Abtreibung, der Schaffung feministischer Beratungsstellen und Institutionen zum Schutz vor Gewalt gegen Frauen, der Verankerung der Gleichstellung und des Mutterschaftsschutzes in der Verfassung und in der positiven Wertung von Frauenbeziehungen. Doch obwohl die Diskussion um die Ratifizierung der EMRK Ende der 1960er-Jahre der Einführung des Frauenstimmrechts den notwendigen Schub verlieh, kam den Menschenrechten trotzdem lange ein geringes argumentatives Gewicht zu, bei den jüngeren Feministinnen noch weniger als bei der älteren Generation von Frauenrechtlerinnen.40

      Geringe Gewichtung der Menschenrechte

      Die Frauenrechtsbewegung der Schweiz war seit ihren Anfängen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in internationale Organisationsstrukturen eingebunden, die gleiche Rechte von Männern und Frauen mit unterschiedlichen Begründungen einforderten. Sie bezog sich in ihrer Argumentation weniger auf das Prinzip der «Gleichheit», sondern verwies weit häufiger auf die herrschende «Ungerechtigkeit». Es sei «ungerecht», dass Frauen und Männer nicht gleichermassen Einfluss auf die Gesetzgebung ausüben könnten und deshalb ebenso in Familie und Beruf diskriminiert seien, hiess es bereits um 1912 im ersten Flugblatt des Schweizerischen Verbands für Frauenstimmrecht (SVF).41 Noch nach dem Ja vom Februar 1971 hob die Waadtländer Juristin und langjährige Vizepräsidentin des SVF, Antoinette Quinche, rückblickend diese Argumentationslinie hervor: «Nous avons donc toujours mis l’accent sur l’injustice faite aux femmes.»42

      Vor dem Hintergrund, dass die in Vereinen organisierten Frauen in Kriegszeiten bedeutende Aufgaben zur Existenzsicherung von Familien in prekärer Lage übernommen hatten, legitimierte insbesondere in der deutschen Schweiz ein bedeutender Teil der Frauenrechtlerinnen ihren Anspruch auf staatsbürgerliche Mitbestimmung mit dem Argument, dass Frauen und Männer wegen ihrer sich ergänzenden Kompetenzen nicht lediglich im privaten Bereich zusammenarbeiten müssten. Nur so könnten Frauen analog zu den Männern die von ihnen zu leistenden Pflichten zum Wohle aller übernehmen. Wie die befürwortenden Parteien beschworen auch Frauenverbände oft ländlich geprägte Familienbilder kooperierender Paare, obwohl eine Mehrzahl der sich exponierenden Frauenrechtlerinnen alleinstehende Berufstätige wie Lehrerinnen oder Juristinnen waren. Diese sahen sich im Alltag immer wieder mit Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts konfrontiert und als «alte Jungfern» diskreditiert. Seit Langem war die enge Verknüpfung von «Rechten» mit «Pflichten» im männlich definierten Diskurs zum schweizerischen Milizsystem stark verankert. Er setzte demokratische Mitbestimmung, ehrenamtlichen Einsatz in politischen Gremien und Wehrpflicht weitgehend gleich. So untergrub die enge Verknüpfung von «Rechten» mit «Pflichten» das in den Menschenrechten festgeschriebene Diskriminierungsverbot, das keiner Vorbedingung bedarf.43

      Einen klaren Konnex zwischen Menschenrechten und uneingeschränkten staatsbürgerlichen Rechten stellte die Berner Lehrerin und Frauenrechtlerin Ida Somazzi in einer Rede zum hundertjährigen Jubiläum des schweizerischen Bundesstaats 1948, ein halbes Jahr vor der UNO-Deklaration, explizit her. Dennoch avancierte diese Verbindung im Kalten Krieg nicht zum zentralen Argument der Frauenbewegung in ihrem Kampf um das Stimm- und Wahlrecht.44 Zwar forderte der Frauenstimmrechtsverein Zürich 1954 im Vorfeld eines kantonalen Urnengangs zum Frauenstimmrecht die Männer unmissverständlich mit der Aussage «Stimmrecht ist Menschenrecht» zu einem Ja auf. Die meisten Frauenverbände dagegen sprachen sich für ein Nein aus, weil diese Abstimmung von der kommunistischen Partei der Arbeit (PdA) initiiert worden war. So appellierten die befürwortenden Stimmen in der Nachkriegszeit mehrheitlich an helvetische Werte, wie die demokratische Mitbestimmung als Pflichterfüllung, die Zusammenarbeit in der Familie oder, wie es im Plakat mit dem gemeinsam Kartoffeln erntenden Ehepaar hiess, «zämme schaffe, zämme stimme», ohne die patriarchalen Machtverhältnisse zu analysieren oder zu kritisieren.45 Erst die Diskussion um die Ratifikation der EMRK hob in den späten 1960er-Jahren die Bedeutung des Diskriminierungsverbots für die Einforderung des Wahl- und Stimmrechts hervor. Doch im Kontext der fremdenfeindlichen Schwarzenbach-Initiative, die zu eben dieser Zeit hohe Wellen schlug und 1970 von den Schweizer Männern nur knapp abgelehnt wurde, hatten Menschenrechtsargumente in der Schweiz allgemein einen sehr schweren Stand.

      Doch auch nach der Einführung des Frauenstimmrechts blieben in den 1970er-Jahren die alten Argumentationslinien in der organisierten Frauenbewegung und unter den gewählten Politikerinnen wirksam, wenn es um die Gleichstellungspostulate ging: gleiche Pflichten bei gleichen Rechten, partnerschaftliches Zusammenarbeiten von Männern und Frauen. Insbesondere für den Bund Schweizerischer Frauenorganisationen (BSF), aber auch für einen Teil der ehemaligen Frauenstimmrechtsaktivistinnen und weitere Frauenverbände wie den Schweizerischen gemeinnützigen Frauenverein (SGF) und die Schweizerische Vereinigung der freisinnigen Frauen (SVFF) geriet der analog zur Wehrpflicht der Männer von Frauen oder Mädchen zu leistende «Dienst am Vaterland», ob im militärischen oder in anderen Bereichen, zu einer Frage von staatsbürgerlicher Bedeutung.46 Alle diesbezüglichen Impulse der 1970er-Jahre versandeten längerfristig. Zum einen scheiterten die Vorlagen wegen der erstarkenden feministischen Bewegung, für die ein geschlechterspezifischer Dienst – die Männer in der Armee, die Frauen im sozialen Bereich – unter der damaligen Vorgabe der mit mehrmonatiger Haft bestraften Verweigerung des Militärdienstes zugunsten eines Zivildienstes schlicht nicht diskussionswürdig war. Sie scheiterten aber ebenso an der unterschiedlichen Schwerpunktsetzung anderer Frauenverbände und dem geringen Interesse vieler Männer an einer obligatorischen Dienstpflicht der Frauen.47

      Entgegen diesem Trend zur Verknüpfung von Pflichten und Rechten, der bereits den frühsoziologischen Diskurs französischer Feministinnen im 19. Jahrhunderts geprägt hatte,48 betonten zwar nicht die Verbände, wohl aber einzelne Frauenrechtlerinnen ebenso vor als auch nach 1971 die Bedeutung der Menschenrechte. Dazu gehörten die 1934 geborene spätere erste Bundesrichterin Margrith Bigler-Eggenberger und die um mehr als eine Generation ältere Juristin Lotti Ruckstuhl-Thalmessinger (1901–1988); Sozialdemokratin die eine, Mitglied des Schweizerischen Katholischen Frauenbunds (SKF) die andere. So hielt Ruckstuhl-Thalmessinger in einer von der International Alliance of Women herausgegebenen Schrift 1968 zwar fest, dass die Umsetzung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte noch zu wünschen übrig lasse, aber dessen ungeachtet bleibe sie «für die Frauen eine Verkündigung von einem nie erreichten Wert. Dadurch wird ihnen eine unanfechtbare Grundlage geboten, um ihre Befreiung zu erwirken.»49 Ruckstuhl-Thalmessingers Befreiungsdiskurs verweist auf eine Schnittstelle zwischen ihren Erwartungen und jenen der neuen Generation von Feministinnen.

      Befreiung, Autonomie und Frauenbeziehungen

      In den 1970er-Jahren drehte sich der transnationale Diskurs der sich neu entfaltenden Frauenbewegung massgeblich um «Befreiung». Er bestimmte in Analogie zu US-amerikanischen und westeuropäischen Vorbildern auch die Namensgebung der sich formierenden Gruppen in der Schweiz: Frauenbefreiungsbewegung (FBB) und Mouvement de libération des femmes (MLF). Diese Befreiung definierte sich nicht über die gesetzliche Umsetzung der Menschenrechte, sondern über uneingeschränkte Selbstbestimmung, symbolhaft verdichtet in der Verfügung über den eigenen Körper im Kontext der Reproduktion, das heisst auch von Verhütung und Abtreibung. In ihren Anfängen setzte die Frauenbefreiungsbewegung den Begriff «Befreiung» noch gleich mit dem Kampf der ehemaligen Kolonialstaaten gegen imperiale Verfügungsmacht. Das wandelte sich in den