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Die Naturforschenden


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De Charpentier nahm die Herausforderung an und vermochte die in ihn gesetzten Erwartungen zu erfüllen. Anstatt wie anhin den salzhaltigen Quellen nachzugraben, gelang es ihm, durch gezielte geologische Untersuchungen und Berechnungen die salzhaltigen Gesteinsschichten aufzuspüren. Dadurch konnte er die Salzgewinnung in Bex auf eine neue, auch wirtschaftlich gesunde Basis stellen und die Produktion vervierfachen.4 Zum Dank liess die Waadtländer Regierung in Les Dévens für de Charpentier 1825/26 durch Kantonsingenieur Adrien Pichard (1790–1841) die klassizistische, leichte Anklänge an die regionale Architektur zeigende Villa Solitaire bauen.5

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      Abb. 1: De Charpentiers 1825/26 erbaute klassizistische Villa Solitaire in Les Dévens bei Bex.

      Durch seine berufliche Tätigkeit und sein ausserberufliches Engagement als Naturforscher knüpfte de Charpentier rasch Kontakte zu Schweizer Forschern. Im Jahr 1815 rief der Genfer Apotheker und Mineralwasserfabrikant Henri-Albert Gosse (1753–1816) die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft, kurz SNG, die heutige Akademie der Naturwissenschaften Schweiz, ins Leben.6 Unter den 36 eingeladenen Gründungsmitgliedern war der 29-jährige Salzbergwerksdirektor Jean de Charpentier. Dieser sollte sich in den folgenden Jahrzehnten als leidenschaftlicher und vielseitiger Forscher erweisen. Bereits während seiner Zeit in den französischen Pyrenäen hatte er deren geologischen Aufbau studiert. Für diese Untersuchung zeichnete ihn die Académie de France 1822 mit dem Preis für Statistik aus.7 Seine volkskundlichen und linguistischen Aufzeichnungen zur Sprache der in den Pyrenäen lebenden Basken stellte er 1822 dem preussischen Sprachforscher und Bildungsreformer Wilhelm von Humboldt (1767–1835) zur Verfügung. Dieser benutzte sie für seine Untersuchungen zur baskischen Sprache.8

      Im waadtländischen Bex erforschte de Charpentier nicht nur die lokalen Salzlagerstätten, sondern die Geologie der Alpen allgemein. So konnte er mit Charles Lardy 1814 ein deutlich jüngeres Alter der Alpen als bis dahin angenommen nachweisen.9 Im Lauf der Jahre legte de Charpentier überdies ein Herbar mit gut 26 000 Pflanzen an und entwickelte sich damit zu einem der besten Pflanzenkenner der Schweiz.10 Die grösste Leidenschaft des Salinendirektors galt wahrscheinlich den Schneckentieren. Der Katalog seiner Land- und Flussschneckensammlung führte nebst den Fundorten insgesamt 3707 Arten in 37 570 Exemplaren auf.11 Es handelte sich um de Charpentiers letzte grosse wissenschaftliche Arbeit.

      DE CHARPENTIER ERWÄRMT SICH FÜR DIE EISZEIT

      Heute ist Jean de Charpentier dagegen vor allem als Pionier der Eiszeitforschung bekannt. Dies ist nicht ohne historische Ironie. Zwar war er bereits etliche Jahre, bevor er seine eigenen Forschungen begann, mit Fragen aus dem Umfeld der späteren Gletscher- und Eiszeitforschung in Berührung gekommen. Doch lehnte er die Vorstellung eines ehemals kälteren Klimas und einer grösseren Ausdehnung der alpinen Gletscher zunächst ab und ging von einem wärmeren Klima in früheren Erdzeitaltern aus.

      Mit Fragen des Gletscherwachstums dürfte de Charpentier erstmals im Sommer 1815 konfrontiert gewesen sein. Damals unternahm er einen Ausflug ins Val de Bagnes im Wallis. Dabei stiess der junge Salinendirektor auf die Vorstellung, ortsfremde, in der Landschaft verstreut liegende Felsblöcke könnten von Gletschern an ihre heutigen Fundorte transportiert worden sein. Viele Jahre später, im Februar 1840, berichtete er dem Berner Geologen Bernhard Studer in einem privaten Brief: «Die Person, die mir zum ersten Mal von Gletschern als Ursache des Transports der erratischen Trümer [sic!] sprach[,] war ein Bauer aus Lourtier im Bagne-Thale, Nahmens Perotin, welcher wahrscheinlich jetzt todt ist. Es war im July 1815 als ich auf einer Reise in das dortige Thal, bei ihm übernachtete. Da behauptete er steif und fest[,] dass in früheren Zeiten das Bagne- und Entremont-Thal völlig mit einem Gletscher erfüllt gewesen, welcher sich bis Martigny erstreckt und daselbst die grossen Granitblöcke abgesetzt habe. Dass ich diese Idee ganz verwarf[,] versteht sich von selbst.»12 Bei dem erwähnten Perotin handelte es sich um den Zimmermann und Gämsenjäger Jean-Pierre Perraudin (1767–1858). Entgegen de Charpentiers Mutmassung war er zum Zeitpunkt des Briefes keineswegs tot, sondern quicklebendiger Walliser Grossrat. Perraudins Beobachtungen hielt de Charpentier wahrscheinlich deshalb für mitteilenswert, da sich dieser auf überprüfbare Beobachtungen stützte und argumentierte, die ortsfremden Felstrümmer seien für einen Transport durch Wasser zu gross und schwer. Damit wandte Perraudin intuitiv das schon damals unter Geowissenschaftlern verbreitete Prinzip des Aktualismus an, wonach in der Gegenwart beobachtbare Vorgänge zur Erklärung vergangener geologischer Abläufe herangezogen werden. Tatsächlich waren ähnliche Ansichten wie jene von Perraudin unter den Bewohnern des Alpenraums recht verbreitet, und zeitgenössische Gelehrte berichteten verschiedentlich darüber.13 Wenige Monate später, im Oktober 1815, sah sich de Charpentier erneut mit dem Rätsel des Ursprungs ortsfremder Felstrümmer konfrontiert, als Henri-Albert Gosse im Oktober 1815 anlässlich der Gründung der SNG in Genf einen Vortrag zum Thema hielt.14

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      Abb. 2: Mutmassliche Fotografie von Jean-Pierre Perraudin (1767–1858), die in den 1850er-Jahren entstanden sein dürfte.

      Im folgenden Jahr kam de Charpentier mit einer weiteren Frage aus dem Umfeld der späteren Gletscher- und Eiszeitforschung in Berührung. Er trug anlässlich der zweiten Jahresversammlung der SNG in Bern Untersuchungsergebnisse des Walliser Kantonsingenieurs Ignaz Venetz (1788–1859) vor und sicherte diesem so die Aufnahme in die Gesellschaft. In seiner Arbeit befasste sich Venetz mit der Frage, wie Gletscher Gegenstände transportieren, die in ihnen eingeschlossen sind.15 Wie und wann sich de Charpentier und Venetz kennengelernt haben, ist nicht bekannt. Sicher ist, dass sie ab 1818 beruflich miteinander zu tun hatten. In jenem Jahr brach der Giétroz-Gletscher ab. Sein Eis stürzte in die Tiefe, und der danach aufgestaute Gletschersee verwüstete bei seinem Ausbruch das Val de Bagnes. Um die von Kantonsingenieur Venetz ergriffenen Schutzmassnahmen zu überprüfen, beauftragte die Walliser Kantonsregierung unter anderem de Charpentier als Gutachter.16 Später begegneten sich die beiden Männer gelegentlich, da sie an der Korrektion und Eindämmung der Rhone mitwirkten.17

      1821 reichte Venetz bei der SNG ein Manuskript ein, in dem er deren 1817 ausgeschriebene Preisfrage, ob das Klima abkühle und rauer werde, zu beantworten versuchte. Der Kantonsingenieur argumentierte gestützt auf alte Gletscherstände, Findlinge und Moränen, dass sich das Klima während der Frühen Neuzeit verschlechtert habe. Schwieriger zu erklären waren für ihn jedoch Spuren alter Moränen, die bis zu fünfeinhalb Kilometer von den damals aktuellen Gletscherzungen entfernt lagen.

      Venetz bat – vermutlich Ende August 1822 – über Jean de Charpentier sein Manuskript zurück, um es für die Drucklegung zu überarbeiten.18

      Bis zu diesem Zeitpunkt war de Charpentiers wissenschaftliche Welt in Ordnung. Dies änderte im Frühjahr 1829, als Ignaz Venetz den Salinendirektor in Bex aufsuchte. Nach de Charpentiers Erinnerungen erklärte ihm Venetz, seine Beobachtungen hätten ihn zur Überzeugung geführt, «dass nicht nur das Tal von Entremonts, sondern das ganze Wallis einstmals von einem Gletscher bedeckt gewesen sei, der sich bis zum Jura erstreckt habe und der die Ursache für den Transport erratischer Geschiebe gewesen sei».19 De Charpentier war alles andere als überzeugt von dieser kühnen These. Die Vorstellung einer so gewaltigen Vergletscherung erschien ihm, wie er nachträglich bekannte, «wahrhaftig verrückt und übersteigert».20 Auf der folgenden Jahresversammlung der SNG im Juli 1829 auf dem Grossen St. Bernhard trug Venetz seine Überlegungen in einem Referat vor. Darin erklärte er die Verbreitung ortsfremder alpiner Gesteinstrümmer in den Alpen und im Jura, aber auch die Verbreitung von Findlingen in Nordeuropa durch «die Existenz ungeheurer Gletscher, die seither verschwunden seien».21 Das Echo auf den Vortrag des Kantonsingenieurs fiel sehr kritisch aus. Die Herkunft ortsfremder Felsblöcke schien nämlich durch die damals verbreiteten Geröll- und Schlammfluttheorien bereits hinreichend erklärt. In Versteinerungen tropischer Pflanzen in ganz Europa erblickten die damaligen Gelehrten einen klaren Beleg für ein ehemals wesentlich wärmeres Klima in Europa. Dementsprechend ging die Mehrzahl der damaligen Geologen von einer sich im Lauf der