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Die Naturforschenden


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Augen die meiste Aufmerksamkeit verdient hätte. Entsprechend frustriert dürfte Agassiz gewesen sein, als die Thematik der Artenfolge in den Hintergrund geriet und stattdessen die bereits von de Charpentier und Venetz bearbeitete Frage einer vorzeitlichen Vergletscherung in den Vordergrund rückte. Möglicherweise war dies ein Grund, weshalb Agassiz den Beitrag de Charpentiers zu seiner und Schimpers Theoriebildung nicht besonders hervorhob und es auch unterliess, dem Salinendirektor in den nachfolgenden Veröffentlichungen in der Bibliothèque universelle de Genève für dessen Einführungen und Hinweise zu danken. Stattdessen markierte Agassiz Distanz zur Theorie von Venetz und de Charpentier. Er stützte sich zwar auf deren genaue Beobachtungen von Moränen und Findlingen, hielt jedoch fest, dass er nicht beabsichtige, Venetz’ und de Charpentiers theoretische Überlegungen zu verteidigen.39

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      Abb. 5: De Charpentiers Rekonstruktion der Ausdehnung des eiszeitlichen Rhonegletschers aus dem Jahr 1841. Die blau eingefärbte Fläche stellt das vom Gletscher bedeckte Gebiet dar.

      DER ESSAI SUR LES GLACIERS UND DAS ENDE EINER FREUNDSCHAFT

      Während Agassiz und Schimper die Beobachtungen de Charpentiers für ihre eigene spekulative Theorie heranzogen, kritisierte der Genfer Jean-André Deluc (1763-1847) an der gleichen Jahresversammlung dessen Vergletscherungstheorie vehement.40 Für Jean de Charpentier war dies nach eigenem Bekunden Anstoss genug, seine Vergletscherungstheorie ab Herbst 1839 in einem Buch genauer auszuführen.41 In der Summe schienen sich die Dinge bis zu diesem Zeitpunkt im Sinn de Charpentiers zu entwickeln. Seine Beiträge zur Existenz eines alpinen Supergletschers hatten international Beachtung gefunden, seine Überfegungen konnte er mit den vorherrschenden Gebirgserhebungstheorien in Einklang bringen, und nun hatten mit Schimper und Agassiz sogar zwei Forscher ausserhalb der Erdwissenschaften seine Theorie, wenn auch in etwas eigenwilliger Ausdeutung, aufgegriffen. Allerdings sollte dieser für de Charpentier erfreuliche Zustand nicht lange anhalten.

      Louis Agassiz hatte zwischenzeitlich eigene Forschungsanstrengungen unternommen und begonnen, seine Eiszeittheorie ebenfalls in einem Buch darzulegen, das im Herbst 1840 erschien. In seiner hastig niedergeschriebenen Darstellung überging er, wie er selbst einräumte, Schimpers Beitrag zur Eiszeittheorie. Dem noch an seinem Buch arbeitenden de Charpentier kam Agassiz einige Monate zuvor. Damit konnte er für sich in Anspruch nehmen, die erste grosse Darstellung zur Thematik veröffentlicht zu haben. Indem er sie als globale Eiszeittheorie formulierte und in den Rahmen seiner naturgeschichtlichen Überlegungen stellte, vermochte er ihr seinen Stempel aufzudrücken.

      Dies verbitterte Jean de Charpentier. Er hatte offenbar erwartet, der junge Professor lasse ihm den Vortritt, da er es gewesen war, der Agassiz in die Gletscher- und Eiszeitforschung eingeführt hatte. Schliesslich erschien 1841 de Charpentiers Essai sur les glaciers et sur le terrain erratique du bassin du Rhône. Darin stand die Frage nach der Herkunft der Findlinge im Zentrum. Er setzte sie in Beziehung zu den durch Gletscherschliffe und Moränen geformten Landstrichen, die er als terrain erratique bezeichnete. Die Annahmen und Einwände der Vertreter der verschiedenen Schlamm- und Geröllfluttheorien widerlegte er in seiner Darstellung systematisch. Auch die These von Agassiz und Schimper, wonach die Alpen nach der Entstehung einer Poleiskappe entstanden seien, entkräftete er. De Charpentier zeigte, dass die Verteilung von Findlingen dem Verlauf der grossen Alpentäler folgt. Das wäre nicht der Fall gewesen, wenn die entstehenden Alpen ähnlich einem Löwenzahn, der Asphalt durchbricht, erst eine bestehende Eiskappe hätten durchbrechen müssen. Daneben zitierte de Charpentier auch seine Vorläufer, den Schotten John Playfair (1748-1819) und Johann Wolfgang von Goethe (1781-1832), die vor ihm den Transport von Findlingen mit Eis in Verbindung gebracht hatten. Nicht bekannt war de Charpentier offenbar Jens Esmark (1763-1839). Der dänisch-norwegische Geologe hatte bereits 1824 eine Eiszeittheorie publiziert, die von mehreren globalen Kältephasen mit einem jeweils massiven Anwachsen von Gletschern und Eisfeldern verursacht durch Schwankungen der Erdbahn ausging.42

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      Abb. 6: Jean de Charpentier gegen Ende seines Lebens. Lithografie.

      Trotz gründlichen Beobachtungen und qualitätsvollen Abbildungen durch Zeichner aus dem Umfeld de Charpentiers erreichte sein Werk nicht die Bekanntheit von Agassiz’ Darstellung. Es war eben nur der zweite Titel zum Thema. Obendrein erschien sein Buch in Lausanne, was für dessen internationale Verbreitung nachteilig gewesen sein dürfte. Möglicherweise spielte bei der Wahl des Publikationsorts eine gewisse Verbundenheit mit dem Kanton Waadt eine Rolle, wie sie auch die Wahl seiner übrigen Forschungsgegenstände und Veröffentlichungen nahelegt. Dafür spricht, dass de Charpentier der Kantonsregierung ein spezielles Exemplar mit einer Widmung zukommen liess.43 Zudem war Jean de Charpentier nicht der Mann, der wie sein jüngerer Kollege durch entsprechende Vorträge und Artikel in Zeitungen und Journalen für Publizität sorgte. Gesellschaftliche Ambitionen gingen dem sächsischen Aristokraten allem Anschein nach ohnehin ab.44 Vor allem aber dürfte ihn seine Position als Salinendirektor zeitlich in Anspruch genommen haben.

      Nach der Publikation seines Essai engagierte sich de Charpentier weiterhin in der Eiszeitforschung. 1842 veröffentlichte er einen Aufsatz über die Anwendbarkeit der Venetz’schen Hypothese, wie er sie nannte, auf Nordeuropa.45 Damit bezog er nun Gebiete ausserhalb des Alpenraums in seine Überlegungen ein und näherte sich den bereits von Venetz vorgebrachten Gedanken weiter an. An einem Kongress in Mailand wandte er sich 1844 gegen die These eines piemontesischen Geologen, die erratischen Blöcke in den Pyrenäen seien durch Flutwellen abgelagert worden.46 1846 und 1847 widersprach de Charpentier in zwei Aufsätzen, die er an die Société Géologique de France in Paris sandte, nochmals dieser Ansicht.47 Danach scheint die Frage nach dem Ursprung der erratischen Felsblöcke für ihn erledigt gewesen zu sein. In den folgenden Jahren befasste sich Jean de Charpentier wieder mit den Land- und Süsswasserschnecken.

      DE CHARPENTIER ALS WEGBEREITER DER EISZEITFORSCHUNG

      Als Naturforscher und Gelehrter, der fast die gesamte erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hindurch aktiv war, zeichnete sich Jean de Charpentier durch die erfolgreiche Leitung eines Salzbergwerks, vielseitige naturwissenschaftliche Interessen und seine internationale Vernetzung aus. Die von ihm mitbegründete SNG diente dem kontakt- und reisefreudigen de Charpentier als Plattform, um seine Beobachtungen und neuen Theorien vorzustellen und Kontakte zu anderen Naturforschern zu pflegen. Ebenso nutze er deren Verhandlungen für die Publikationen seiner Untersuchungen. Strebte er eine internationale Verbreitung seiner Arbeiten an, wählte er daneben auch andere Zeitschriften.

      De Charpentiers Rolle als einer der Pioniere der Eiszeitforschung zeichnet sich durch eine gewisse Tragik aus. Obwohl sich Jean de Charpentier spätestens seit 1815 mit der Frage nach der Herkunft ortsfremder Felsblöcke konfrontiert sah, befasste er sich erst ab Anfang der 1830er-Jahre damit. Dabei erwies er sich als bestens mit den zeitgenössischen Theorien zur Erdgeschichte vertraut. Konsequent versuchte er, seine und Venetz’ Beobachtungen mit dem damals aktuellen Forschungsstand in Einklang zu bringen. Im Nachhinein betrachtet, bewegte er sich damit in bekannten Bahnen. Seinen Überlegungen fehlten weitgehend konzeptionelle Neuerungen. So gesehen erwiesen sich die unkonventionellen Gedanken seines Freundes Ignaz Venetz zu einer Vergletscherung Nordeuropas oder zu astronomischen Ursachen48 einer globalen Abkühlung des Klimas als weiterführender. Doch stellt sich die Frage, ob die These eines alpinen Supergletschers ohne diese Zugeständnisse an den vorherrschenden Interpretationsrahmen der damaligen Forschung überhaupt Beachtung gefunden hätte. Die vorangehenden Arbeiten von Esmark hatten ohne solche Anknüpfungspunkte kaum Widerhall in den deutsch- und französischsprachigen Ländern gefunden.

      Schliesslich musste de Charpentier erleben, wie Louis Agassiz ihm durch sein Vorpreschen bei der Publikation seines Buchs die Schau stahl. Dadurch vermochte Agassiz die Eiszeittheorie entsprechend seinen naturgeschichtlichen Vorstellungen zu formulieren und mit seiner Person zu verknüpfen. Hier liesse sich die Frage stellen, wie gerecht die Forschung und die Zuschreibung wissenschaftlicher Leistungen sind. Jean de Charpentier seinerseits