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Die Naturforschenden


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die Natur.31 Und mit diesem Wissen, das den Menschen fernab der Natur vor Augen geführt wurde, begannen sie die Natur mit anderen Augen zu sehen.

      FRANZISKA HUPFER

      DAS WETTER IN TABELLEN

      Christian Gregor Brügger und die Institutionalisierung der Meteorologie

      «Ein Jünger der Naturwissenschaften […] hat seit einigen Jahren ganz von sich aus unternommen, unser vielverzweigtes ‹Alpisch-Rhätien› mit einem Netz von Stationen für Witterungs- und Naturbeobachtungen zu überziehen», teilte eine Bündner Zeitung 1859 mit.1 Dieser «fleissige Naturforscher» war Christian Gregor Brügger (1833-1899), der drei Jahre zuvor, nach seinen Studienjahren in München und Innsbruck, in seinen Heimatkanton Graubünden zurückgekehrt war und auf Eigeninitiative ein meteorologisches Beobachtungsnetz aufgebaut hatte. Der damals erst 23-Jährige war überzeugt davon, dass eine empirische und vergleichende Beobachtung des Wetters Gesetzmässigkeiten erkennen lassen würde. Er wollte verstehen, wie die «Bewegungen des irdischen Luftmeeres» die lokalen Wettererscheinungen bedingten und wie sich diese auf die Vegetation auswirkten.2 Deshalb versuchte Brügger, an möglichst vielen Orten des Kantons Graubünden freiwillige, das heisst unbezahlte Wetterbeobachter zu gewinnen. Ihnen übergab er eine Tabellenvorlage inklusive Anleitung, nach der zwei Mal täglich Temperatur, Niederschlagsart, Bewölkungsgrad und Windrichtung zu notieren waren.3 Am Ende jedes Monats sandten die sogenannten Korrespondenten ihre Tabellen an Brügger. Korrespondenzbeziehungen zu Beobachtern an vielen verschiedenen Orten gehörten in der Naturforschung seit dem 18. Jahrhundert zu den typischen Methoden.4

      Damit Brügger die Messresultate miteinander vergleichen konnte, hielt er seine Korrespondenten an, alle einen Thermometer desselben Typs zu kaufen. Einzelne statteten sich auch mit einem Barometer zur Luftdruckmessung oder mit einem Ombrometer aus, mit dem sie die Niederschlagsmenge messen konnten. Die Instrumente mussten kalibriert, das heisst aufeinander abgestimmt werden, wobei Brüggers eigene Instrumente die Norm bildeten. Vorkenntnisse waren nicht erforderlich, um beim Projekt mitzumachen. Brügger rekrutierte seine Mitarbeitenden, die neben einzelnen Frauen mehrheitlich Männer waren, durch persönliche Kontakte. Er wurde dabei unterstützt vom angesehenen Privatgelehrten und Schlossbesitzer Carl Ulysses von Salis-Marschlins (1795-1886), der selbst meteorologische Messungen machte und neue Beobachter an Brügger vermittelte. Einige Personen nahmen von sich aus mit Brügger Kontakt auf und anerboten sich als Mitarbeiter, «um der Wissenschaft dienen zu können».5 Die Beobachter, die bis auf wenige Ausnahmen nicht naturwissenschaftlich gebildet waren, empfanden ihren Einbezug in ein wissenschaftliches Projekt als einen grossen Vertrauensbeweis. Der Zernezer Pfarrer Guidon dankte für die «Ehre», als Mitarbeiter aufgenommen zu werden.6 Pfarrer schienen Brügger als Beobachter besonders geeignet. Sie bildeten die am stärksten vertretene Berufsgruppe. Das meteorologische Netz wurde im Kanton Graubünden schnell bekannt, da Zeitungen die Zusammenstellungen der Messresultate abdruckten. Die «Bündner Zeitung» publizierte jeweils am Monatsanfang eine Tabelle mit den Temperaturangaben zum Vormonat. Waren es im April 1857 noch zehn Stationen, stieg die Zahl bis im Juli 1858 auf 37 Stationen an.7 Die Tabellen enthielten die monatlichen Durchschnittstemperaturen, den Tag des niedrigsten und höchsten Thermometerstands sowie der grössten täglichen Schwankung, gefolgt von der mittleren täglichen Temperaturdifferenz, der Windrichtung und schliesslich der Anzahl Tage mit Schnee, Regen, Nebel oder Bewölkung.

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      Abb. 1: April 1858: Der Zollbeamte Andreas Bärtsch notierte drei Mal täglich den Thermometerstand, die Niederschlagsart, den Bewölkungsgrad und die Windrichtung im bündnerischen Martinsbruck (heute Martina). Am Monatsende sandte er seine Tabellen jeweils an Brügger.

      WETTERDATEN IN DER ZEITUNG: «PERLEN VOR DIE SÄUE GEWORFEN»

      Brügger folgte in seiner Zielsetzung der Auffassung des deutschen Forschungsreisenden Alexander von Humboldt, wonach «mittlere Zahlenwerthe der letzte Zweck» waren.8 Er strebte also eine langjährige statistische Erfassung von Wetterzuständen an, um das Bündner Klima gründlich zu erforschen. Brügger erhielt für sein Projekt Zuspruch von namhaften Wissenschaftlern. Der in Russland lehrende Ludwig Friedrich Kämtz – er gilt als Mitbegründer der modernen Meteorologie – bereiste 1858 die Schweiz und sprach voller Lob über das Bündner Netz.9 Auch Bernhard Studer, Geologieprofessor in Bern, verhiess Brügger, sein meteorologisches Netz werde «höchst ehrenvoll anerkannt werden».10 Klimastatistik, wie sie Brügger betrieb, war in der Meteorologie der 1850er-Jahre die dominierende Forschungsrichtung. Die Wetterprognostik sollte sich erst rund 20 Jahre später etablieren.11 Brügger beschäftigte sich also ausschliesslich mit bereits vergangenem Wetter. In den «Rheinquellen» publizierte er täglich seine eigenen Temperaturmessungen vom Vortag.12 Im Juni 1858 liess sich die Tageszeitung auf das Experiment ein, die Temperaturmessungen von 20 Stationen jeweils am Folgetag zu publizieren.13 Die teilnehmenden Beobachter erhielten dazu Postkarten, die sie nach der Messung am Mittag ausfüllten und mit der «Nachmittags-Post» nach Chur sandten.14 Obwohl die Übermittlung der Daten in den meisten Fällen gelang, wurden diese «Tagesberichte der freiwilligen Stationen für Witterungskunde von und für Bünden» nicht weitergeführt. Auch die Zusammenarbeit mit dem «Bündnerischen Monatsblatt» erwies sich nicht als dauerhaft. Brügger hatte seinen Korrespondenten versprochen, dass die rechtzeitig zugesandten Beobachtungen in der Monatszeitschrift publiziert würden.15 Ab Januar 1858 erschien dann auch unter der Rubrik «Chronik» jeden Monat eine ganzseitige Zusammenstellung der meteorologischen Aufzeichnungen. Doch bereits nach sechs Monaten wurden diese Tabellen wieder aus dem Heftinhalt gestrichen. Agostino Garbald, Zolldirektor in Castasegna an der schweizerisch-italienischen Grenze und meteorologischer Beobachter, machte für den Publikationsstopp das mangelnde Interesse des Lesepublikums verantwortlich:

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      Abb. 2: «Perlen vor die Säue geworfen»: Das öffentliche Interesse an Brüggers Wetterdaten hielt sich in Grenzen. Tabelle aus dem «Bündnerischen Monatsblatt», 5. 5. 1858.

      «Wer nicht halb oder wenigstens viertels Meteorologe ist, interessiert sich für die Sache gar nicht; ganz vernünftige und auch ordentlich gebildete Leute fragen nicht selten, was solche Beobachtungen nüzen, und aus ihrem spöttischen Lächeln und mitleidigen Achselzukken nimmt man wahr, dass sie Einen, wenigstens in dieser Beziehung, für einen Halbnarren haben. Es ist sich demnach nicht zu verwundern, dass solche Leute die meteorologischen Beobachtungen nicht würdigen, und jede Zeile bedauern, die dieselben dem Zeitungsklatsche entrükken. Wir haben Perlen vor die Säue geworfen.»16

      Es war also nicht gelungen, die Leserschaft von der Wichtigkeit der meteorologischen Beobachtungen zu überzeugen. Auch Brüggers Argument, dass die Landwirtschaft von der Kenntnis des lokalen Klimas profitieren würde, vermochte das Interesse nicht zu steigern.17 Mit aufklärerischem Enthusiasmus hoffte Brügger indes weiter darauf, dass aus jedem «Saulus noch ein Paulus der Meteorologie» würde.18

      METEOROLOGIE IM DIENST DER TOURISMUSFÖRDERUNG

      Weit mehr Begeisterung als bei Zeitungslesenden riefen die Wetterdaten in der Tourismusbranche hervor. Die Temperatur- und Niederschlagsmessungen ermöglichten es, die Annehmlichkeit des örtlichen Klimas in wissenschaftlicher Manier zu beweisen, und eröffneten somit wirtschaftliches Potenzial. Brügger beschäftigte sich intensiv mit den klimatischen Besonderheiten des Kantons Graubünden. Bereits 1858 entstand eine Zusammenarbeit mit der Heilquellen-Gesellschaft in St. Moritz. Die private Gesellschaft verwaltete die Mineralquellen des aufstrebenden Kurorts. Das lokale Klima hatte jedoch in der «neuesten Touristen-Literatur» einen schlechten Ruf. Zu Unrecht, wie Brügger anhand seiner Messdaten ausführte.19 Brügger erhielt 1860 von der Heilquellen-Gesellschaft den Auftrag, eine kurmedizinische Schrift über St. Moritz mit einem klimatologischen Beitrag zu ergänzen.20 Eine weitere Auftragsarbeit,