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Die Naturforschenden


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wie die neue, konservative französische Regierung Gesetze gegen die Mädchen- und Lehrerinnenbildung erliess. Royer sah ihre Berufsaussichten schwinden. «Wie eine zweite Jeanne d’Arc, […] jedoch nur mit einer Schreibfeder bewaffnet, verliess ich Frankreich, der katholischen Kirche den Krieg erklärend», schrieb sie Jahre später im Rückblick auf ihr Leben.16 Sie liess sich ab Sommer 1856 zunächst im protestantischen Lausanne nieder, zog wenig später jedoch in das etwa zehn Kilometer weiter östlich gelegene Dorf Cully.

      In einem kleinen Bauernhaus mietete sie ein acht Quadratmeter grosses Zimmer. In dieser Kammer, hoch über dem Genfersee gelegen, begann schliesslich «die heroische Phase meines Lebens», hielt sie rückblickend fest: «Mein Leben erfuhr eine schicksalhafte Wendung. Ermöglicht wurde sie durch meine Begegnung mit der Bibliothek in Lausanne.»17

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      Abb. 3: Cully heute: In diesem Bauernhaus lebte Royer zwischen 1856 und 1859. Die Plakette unter dem Fenster ihrer damaligen Kammer wurde 1912 von der Waadtländer Freidenkervereinigung zu Royers zehntem Todestag angebracht. Auf ihr heisst es: «In Erinnerung an Clémence Royer 1856. Hier erwachte ihr Genie.»

      EIN STRAUSS BLUMEN AUS DER WIESE DES WISSENS

      Die Bibliothek in Lausanne gehörte zur Akademie, der späteren Universität, und war sehr gut bestückt. Royer las sich während rund dreier Jahre systematisch in die wichtigsten sozial- und naturwissenschaftlichen Theorien ihrer Zeit ein. Die Bücher liess sie sich per Post nach Cully schicken. Manchmal legte sie den elf Kilometer langen Weg auch zu Fuss zurück. Was die wissenschaftliche Lektüre für Frauen des 19. Jahrhunderts bedeuten konnte, reflektierte Royer 1859:

      «Es gibt mehr als zehntausend Wörter, die Frauen niemals ausgesprochen gehört haben, deren Bedeutung sie nicht kennen. […] Auch ich selber war eine Zeit lang stark eingeschüchtert von der Wissenschaft. Ich fand sie langweilig und fad […] und glaubte, sie sei nutzlos. Es reichten jedoch einige anständig geschriebene Seiten, einige glückliche Erklärungen aus der Feder einiger weise gebildeter Personen, die die Nacht meines Geistes wie ein Blitz erhellten. Da wurde mir gewahr, dass die Männer der Wissenschaft ihr Wissen mit einem Hag voller Dornen umzäunt hatten. Auf der anderen Seite des Zauns ist dieser Garten jedoch voller Blumen. Also entschied ich, ein Loch in diesen Zaun zu hauen oder, falls nötig, über ihn hinüber zu springen.»18

      Die Passage stammt aus einer der ersten öffentlichen Vorlesungen, die Clémence Royer ab 1859 in der Akademie in Lausanne für Frauen hielt. In der zitierten Gartenmetapher erklärte Royer ihren Zuhörerinnen: «Ich betrat die Wiese und pflückte einen Blumenstrauss. Diesen Strauss offeriere ich Ihnen heute.»19

      Eine von Royers Zuhörerinnen war, wie ihre Biografin Joy Harvey vermutet, Marie Forel, eine gebildete Frau aus der Familie bekannter Westschweizer Naturwissenschaftler. Forel führte einen Salon, in dem die gebildeten Eliten der Stadt verkehrten. Dazu gehörten etliche republikanische Exilanten aus Frankreich, die an der Lausanner Akademie lehrten. Einer davon war der politische Ökonom Pascal Duprat (1815-1885), der Clémence Royers grosse Liebe werden sollte. Duprat war bereits verheiratet, lebte jedoch ab den frühen 1860er-Jahren bis zu seinem Tod 1885 mit Clémence Royer und einem gemeinsamen Sohn in wilder Ehe. Bereits ab 1858 begann Royer in der von Duprat herausgegebenen Zeitschrift «Le Nouvel Economiste» Rezensionen und später Artikel zu schreiben. 1860 schrieb der Kanton Waadt in Zusammenarbeit mit Duprats Zeitschrift einen Preis aus. Zu behandeln war die Frage, wie die Einkommenssteuer reformiert werden könne. Royers Arbeit erhielt den zweiten Preis und wurde als Buch publiziert. Damit wurde Royer international bekannt. Sie erhielt Einladungen zu wissenschaftlichen Konferenzen sowie zu Vorträgen in weiteren Städten in der Schweiz, in Frankreich und in Italien.20

      «… ONE OF THE CLEVEREST AND ODDEST WOMEN IN EUROPE …»

      Von Darwins «Origin of Species» dürfte Royer, wie ihre Biografin Joy Harvey vermutet, erstmals 1860 in Genf gehört haben, wohin sie Duprat begleitet hatte und wo sie Vorlesungen hielt. Im Unterschied zu den Pariser Naturwissenschaftlern reagierten die westschweizerischen relativ positiv auf das Werk des Engländers.21 Allen voran der deutsche Emigrant Carl Vogt (1789-1861). Der spätere Gründungsrektor der Universität Genf und Genfer Vertreter im schweizerischen Ständerat wurde zu einem der radikalsten Befürworter des Darwinismus.22 Wie genau Royer zur Übersetzerin Darwins wurde, ist nicht völlig klar. Bekannt ist, dass Darwin familiäre Verbindungen nach Genf hatte. Möglicherweise kam ihr Name auf diese Weise ins Spiel. Darwin hatte sich bis dahin vergeblich bei französischen Freunden um eine Übersetzung bemüht. Für Royer sprachen nicht nur ihre Englischkenntnisse, sondern auch der Umstand, dass sie einen französischen Verleger hatte, der bereits ihr Buch über die Einkommenssteuer publiziert hatte und bereit war, die Übersetzung herauszugeben. Ausserdem hatte sie nicht nur die naturwissenschaftlichen Referenzwerke gelesen, auf denen Darwins Theorie aufbaute, sondern auch das Werk des Nationalökonomen Thomas Robert Malthus (1766-1834), das für Darwins Theorie eine wichtige Rolle spielte.

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      Abb. 4: Porträt der jungen Clémence Royer, vermutlich aus den 1860er-Jahren.

      Darwin schickte Royer am 10. September 1861 eine Kopie seines «Origin» zu. Royer arbeitete schnell. Die gedruckte Übersetzung erreichte Darwin weniger als ein Jahr später im Sommer 1862. Amüsiert, aber auch beeindruckt von Royers Stil sowie insbesondere von ihrem Vorwort und den zahlreichen Kommentaren in den Fussnoten, schrieb Darwin einem Freund in den USA: «Madlle [sic] Royer muss eine der klügsten und ungewöhnlichsten Frauen in Europa sein […]. Sie landet einige ausgefallene und guten Schläge […]».23 Ihr selber soll er geschrieben haben, dass er ein «verlorener Mann» gewesen wäre, hätte er sich so explizite Schlussfolgerungen zu formulieren getraut wie sie.

      Die Zusammenarbeit zwischen Royer und Darwin dauerte bis 1869. Dann endete sie in einem Eklat. Bereits vorher hatte es verschiedene Schwierigkeiten gegeben. Ein Problem war, dass Royer als Frau keine formale universitäre Ausbildung absolvieren konnte. Als Autodidaktin und Theoretikerin fehlten ihr praktische Erfahrungen etwa beim Sezieren von Tieren im Labor. Dies führte zu Missverständnissen bei der Übersetzung. Um diese möglichst gering zu halten, sollte sich Royer eigentlich vom Westschweizer Zoologen Edouard Claparède (1832-1871) beraten lassen, der sich mit einer sehr positiven und informierten Besprechung von Darwins Werk hervorgetan hatte.24 Claparède war jedoch kränklich. Es sei ihm, wie er Darwin nach Erscheinen der französischen Erstauflage schrieb, nicht gelungen, Royers Drang nach Kommentierung und Weiterentwicklung einzudämmen.25

      Dass Übersetzer nicht bloss Texte von der einen in die andere Sprache übertrugen, sondern auch ihre eigene Lesart und Weltsicht in sie hineinlegten, war im 19. Jahrhundert indes nichts Ungewöhnliches. Mit Darwins erster deutscher Übersetzung war ähnliches passiert.26 Was nun Royer betraf: Sie sah in Darwins Werk in erster Linie eine empirische Bestätigung ihrer eigenen antiklerikalen, evolutionstheoretischen Philosophie, die sie sich in der Bibliothek Lausanne insbesondere durch die Lektüre des zwischenzeitlich etwas in Vergessenheit geratenen Naturforschers Jean-Baptiste Lamarck (1744-1828) erarbeitet hatte. Royer sah in Darwin folglich einen Verbündeten, dessen Lehre sie mit ihrem Vorwort und ihren Kommentaren einer möglichst breiten französischen Leserschaft näherbringen wollte. Wie ihre beiden Biografinnen herausgearbeitet haben, wich Royers Lesart jedoch in zwei Punkten von Darwins Lehre ab. Der eine Punkt betrifft die Traditionslinie zu Lamarck. Tatsächlich hatte auch dieser bereits davon gesprochen, dass sich tierische Arten an die Umwelt anpassen könnten und sich in der Generationenfolge verändern würden. Lamarcks Ideen waren jedoch spekulativ gewesen. Vor allem aber übersah Royer, dass Darwin mit seinem Konzept der natürlichen Selektion einen fundamental neuen Mechanismus einführte, der den Artenwandel nicht nur postulierte und beschrieb, sondern auch – auf andere Weise als Lamarck – erklären konnte. Die zweite Differenz zu Darwin bestand darin, dass Royer – wie so viele andere auch – die Evolutionstheorie als (Natur-) Gesetze des Fortschritts verstand, «des Lois du Progrès», wie sie den Untertitel