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Die Naturforschenden


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und gestand ihm lediglich zu, «den Sinn für meteorologische Beobachtungen und klimatologische Erfahrungen» geweckt zu haben.44 Obwohl die Organisatoren des nationalen Netzes Brüggers Arbeit als unwissenschaftlich klassifizierten, profitierten sie dennoch davon. Die 19 Bündner Beobachter, die als Mitarbeiter des nationalen Beobachtungsnetzes ausgewählt wurden, verfügten anders als die meisten Inhaber der insgesamt 88 nationalen Stationen bereits über Erfahrung. Der Leiter der Zentralanstalt schrieb denn auch an Brügger, man merke, dass er im Kanton Graubünden «bereits Jahre lang Beobachter erzogen» habe.45 Vergleiche man die monatlich eingereichten Tabellen der Beobachtungsstation auf dem Julier mit denjenigen von Marchairuz, so seien die bündnerischen Beobachtungen wie «Rosoli» (Likör), die Waadtländischen hingegen wie «Charesalb» (Wagenschmiere).

      Die Mehrheit der Beobachter im nationalen Netz hatte nach wie vor keine naturwissenschaftliche Ausbildung. Von den total 88 waren über die Hälfte Lehrer oder Pfarrer.46 Für die 19 Bündner Beobachter, die nun für das nationale Netz ihre Messungen machten, wurde die Tätigkeit bedeutsamer und prestigeträchtiger, obwohl sie nach wie vor unbezahlt war. Für die restlichen Stationen, die Brügger initiiert hatte, wurde eine Fortführung der Messungen sinnlos, da sie den neuen Standards nicht entsprachen und somit nicht mehr gefragt waren. Im Auftrag der Zentralanstalt in Zürich das Wetter aufzuzeichnen, veränderte die tägliche Arbeit der Bündner Beobachter kaum, ausser dass sie neue Instrumente erhielten und die Beobachtungszeiten leicht verschoben wurden. Die Vorschriften waren nun allerdings akribischer und die Kontrollen strenger. Die eingesandten Resultate verglich die Zentralanstalt mit solchen aus nah oder gleich hoch gelegenen Orten und ermahnte die Beobachter bei auffälligen Abweichungen. Während sich Brügger als Leiter des Bündner Netzes stets als «Mitbeobachter» verstanden hatte, war im nationalen Netz das Machtverhältnis zwischen den Berufswissenschaftlern in Zürich und den Beobachtern als ihren Gehilfen eindeutig festgelegt. Für Brügger, der weder Laie noch Fachmann war, gab es in der neu geschaffenen Hierarchie zwischen der nationalen Institution und den Laienbeobachtern keine Rolle mehr, die seiner früheren Tätigkeit als Koordinator entsprochen hätte.

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      Abb. 5: Im Werbeprospekt «Alpen-Kurort Churwalden» präsentierte Brügger die idealen Verhältnisse für den Gesundheitstourismus: milde Sommertemperaturen, wenig Regen und nur selten Gewitter.

      «DIE UNERBITTLICHE LOGIK DIESER ZAHLEN»: BRÜGGER ALS SPEZIALIST FÜR KLIMAFRAGEN

      In seiner Rolle als Auftragsautor für Kurorte profitierte Brügger davon, dass er dank dem schweizerischen Netz breiter anerkannte meteorologische Daten zur Verfügung hatte. Er konnte die klimatische Vorzüglichkeit nun mit den Resultaten der Meteorologischen Zentralanstalt belegen. Der Verweis auf die nationale Institution wirkte als Garantie für die Gültigkeit der Methoden und die Exaktheit der Resultate. Zudem erleichterte das nationale Beobachtungsnetz klimatologische Vergleiche innerhalb der Schweiz. Diese neue Möglichkeit nutzte Brügger 1865, als er seinen Heimatort Churwalden darin unterstützte, sich als Kurort zu vermarkten. Das Dorf mit 600 Einwohnern, acht Kilometer von Chur entfernt und an der Passstrasse zur Lenzerheide gelegen, versuchte sich in den 1860er-Jahren als gesundheitstouristische Destination zu etablieren. Eines der beiden Hotels in Churwalden gehörte einem Verwandten Brüggers, dem Landschreiber Johann Georg Brügger. Für ihn verfasste Brügger einen Prospekt sowie ein Zeitungsinserat mit dem Titel «Alpen-Kurort Churwalden».47 Hauptelement des Werbetextes war eine Tabelle, in der Brügger die Churwaldner Temperaturmessungen denjenigen von neun Schweizer Orten gegenüberstellte.

      Nach den Zahlen, die Brügger der offiziellen Publikation der Zentralanstalt entnahm, hatte es in den Monaten Juni, Juli und August 1864 in Churwalden halb so viel geregnet wie in Beatenberg im Berner Oberland, Gewitter waren drei Mal seltener als in Zürich, und die Durchschnittstemperatur war höher als auf dem 200 Meter tiefer gelegenen Chaumont bei Neuenburg. Brügger kommentierte die Vergleichstabelle mit den Worten: «Nichts kann beredter und überzeugender sein, als die unerbittliche Logik dieser Zahlen.»48 Weitere schlagkräftige Argumente für die «Ausnahmsverhältnisse von Churwalden» bot der Genfer Professor Emile Plantamour in einer Analyse der Wintertemperaturen des schweizerischen Netzes.49 Er hatte für verschiedene Höhenlagen einen Durchschnittswert berechnet. Churwalden übertraf diesen Wert um 2,83 Grad Celsius und wies damit die grösste positive Anomalie unter 69 verglichenen Stationen auf.50 Die zweistellige Dezimalzahl 2,83 vermittelte eine Exaktheit, die ein meteorologisches Netz mit menschlichen Beobachtern nicht leisten konnte. Doch Brügger interessierte sich nicht für eine Relativierung der Resultate, sondern nahm die Zahlen als wissenschaftlichen Beweis für die idealen Wetterverhältnisse in Churwalden. Mildes Alpenklima wurde zunehmend als Hauptfaktor zur Wiederherstellung von Gesundheit angesehen. Im starken Konkurrenzkampf unter den Schweizer Kurorten konnte sich Churwalden deshalb als «klimatischer Höhenkurort» positionieren.

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      Abb. 6: Von 1870 bis 1898 arbeitete Brügger als Lehrer an der Kantonsschule Chur. Auf dem Gebiet der Naturforschung galt er als «der beste Kenner» des Kantons Graubünden. Undatiertes Porträt.

      Auch in Tunnelbaufragen brachte Brügger klimatologisches Wissen ins Gespräch. Während der langjährigen Auseinandersetzung um den besten Standort für einen alpenquerenden Tunnel, in der sich am Ende die Befürworter des Gotthardtunnels durchsetzen sollten, versuchte Brügger Anfang 1864, die Vorteile des Lukmaniers darzulegen. Er untersuchte dazu in beiden Regionen die Verbreitung von Pflanzen, woraus er auf die Temperatur- und Niederschlagsverhältnisse schloss. Aus dem Vergleich der Vegetation ging für Brügger hervor, dass der Lukmanier in klimatologischer Hinsicht «von Seite der Natur» eindeutig bevorzugt werde.51 Diese Verbindung von Botanik und Klimatologie war typisch für Brügger. Sein Interesse an Wetterzuständen war aus der Beschäftigung mit der Botanik, seinem lebenslangen Forschungsschwerpunkt, entstanden. Brügger ging davon aus, dass Veränderungen in der Vegetation zu Klimaveränderungen führten und nicht etwa umgekehrt. Die Abholzung im Kanton Graubünden kritisierte er deshalb scharf. Als im Mai 1858 grosse Schneefälle auftraten, stellte er diese in Zusammenhang mit der Entwaldung. Die direkte Ursache des «in seinem Gleichgewicht gestörten, in seinem innersten Triebwerk verletzten, daher unregelmässiger und excessiver gewordenen Klimas» war für ihn die Abholzung der Bergwälder.52 Ob bei Tunnelprojekten oder forstwirtschaftlichen Fragen, Brügger nahm an vielen Diskussionen im Kanton Graubünden aktiv teil. Für ihn waren seine naturwissen schaftlichen Untersuchungen Ausdruck seiner «unauslöschlichen Anhänglichkeit und Begeisterung» für sein «theures Heimathland Graubünden».53

      LOKALKUNDE FERNAB DER WISSENSCHAFTLICHEN ZENTREN

      Nach zehnjährigem Aufenthalt in Zürich kehrte Brügger 1870 in seinen Heimatkanton zurück und unterrichtete in den folgenden 28 Jahren als Kantonsschullehrer in Chur Naturgeschichte und Geografie. Während dieser Zeit war er ein aktives Mitglied in der Naturforschenden Gesellschaft Graubündens, von 1873 bis 1879 deren Vizepräsident. Insgesamt hielt Brügger an den Vereinsversammlungen über 50 Vorträge.54 Das Themenspektrum, das von botanischen Raritäten des naturhistorischen Museums über Wanderheuschrecken, Föhnwind und Fischerei bis hin zu Steinkohlevorkommnissen reichte, zeugt von seinem breiten Interessenhorizont.55 Aufgrund dieser vielseitigen wissenschaftlichen Tätigkeit wurde Brügger «zur alten Schule der Naturforscher» gerechnet.56 Der spätere Präsident der Naturforschenden Gesellschaft Graubündens schrieb anlässlich Brüggers Tod 1899, der Verstorbene sei «der beste Kenner unseres schönen Bündnerlandes» gewesen und «weit umher als solcher bekannt, viel citiert und consultiert».57

      Die «alte Schule» der Naturforscher war in den neuen wissenschaftlichen Institutionen kaum vertreten. Die Berufswissenschaftler in akademischen Zentren wie Zürich grenzten sich zunehmend gegen Forscher ohne Hochschulanbindung ab. Während Brüggers floristische Beiträge, an denen er jahrelang gearbeitet hatte, in Graubünden Anerkennung fanden, lautete das Urteil der Botaniker an den Universitäten ganz anders. Die meisten seiner Beschreibungen von Pflanzenarten