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Die Naturforschenden


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Nationalrat Andreas Rudolf von Planta, der gleichzeitig als Präsident der St. Moritzer Heilquellen-Gesellschaft amtierte. Sowohl in St. Moritz als auch in Bormio erfassten die Angestellten der Kuranstalten nach Brüggers Vorgaben täglich meteorologische Daten, die sie ihm regelmässig zur Korrektur und Bearbeitung zusandten. In einem «Werk fuer allerlei Publicum» über die Thermen von Bormio wies Brügger mithilfe dieser Messungen nach, dass die dortigen Temperaturen diejenigen von diversen europäischen Kurorten auf gleicher Meereshöhe übertrafen und es in Bormio verhältnismässig wenig regnete.22 Eduard Killias, der Präsident der Naturforschenden Gesellschaft Graubündens, lobte Brüggers vergleichende Klimatologie als «sehr belehrend».23 Ihm zufolge war es den klimatischen Verhältnissen zu verdanken, dass die Bündner Kurorte «die Koncurrenz mit altberühmten Weltbädern» nicht zu scheuen brauchten.24 Nutzniesser des Gesundheitstourismus und Naturforscher behaupteten gleichermassen einen spezifischen Charakter der Natur in ihrem Kanton. Brüggers datenbasierte Argumentation machte aus der unbewiesenen Behauptung von der klimatischen Vorzüglichkeit Graubündens eine belegte Tatsache.

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      Abb. 3: Die 1860 veröffentlichte Auftragsarbeit für die Heilquellen-Gesellschaft sollte beweisen, dass das Oberengadin «angenehme Temperaturverhältnisse» wie kein «zweites Land» in Europa auf einer Höhe von rund 1800 Metern über Meer biete. Ansicht von St. Moritz um 1885.

      VOM ANFÄNGLICHEN ENTHUSIASMUS ZUM «JOCH» DES TÄGLICHEN BEOBACHTENS

      Um wissenschaftlich anerkannte Klimastatistik zu betreiben, waren ununterbrochene Messreihen elementar. Viele Messnetze des 19. Jahrhunderts scheiterten jedoch an der Unzuverlässigkeit von Beobachtern, die der mühsamen Arbeit überdrüssig geworden waren. Auch für Brügger wurde die Disziplin unter seinen freiwilligen Mitarbeitenden zum Problem.25 Er sah die meteorologischen Beobachter als naturforschendes «Frei-Corps», das im ganzen Kanton wissenschaftlichen Enthusiasmus «ins Feld bestellt» habe, nun aber von den «nahenden feindlichen Geistern der Anergia und Inertia», der Untätigkeit und Trägheit, bedroht werde.26 Jeden Tag frühmorgens und mittags Wetterbeobachtungen präzis zu notieren und bei jeder Abwesenheit einen Stellvertreter zu organisieren, empfanden die meisten Beteiligten als mühsame Tätigkeit. Die einen hielten durch und erfüllten gewissenhaft ihre Verpflichtung, andere brachen ihre Aufzeichnungen aus Zeitmangel oder Motivationsgründen ab. Die Pfarrerstochter Süsette Gyger, die drei Jahre lang als Beobachterin für Brügger gearbeitet hatte, bekundete nach einem Wohnortswechsel, sie sei froh, dass sie das «Joch» der meteorologischen Aufzeichnungen nun habe «abschütteln» können.27 Einige Beobachter begründeten ihren Abbruch der Messungen mit dem Hinweis, dass sie lange Zeit nichts vom «Fortgang der Sache» gehört hätten.28 Der Beobachter in St. Antönien, an der Grenze zu Österreich gelegen, gewann sogar den Eindruck, Brügger interessiere sich «nicht sonderlich» für seine Arbeit.29 Ohne Kapazitäten für eine intensive Betreuung versuchte Brügger seine Mitarbeitenden zu motivieren, indem er die wissenschaftliche Bedeutung ihrer Arbeit unterstrich und eine baldige gesellschaftliche Anerkennung «dieser jüngsten Frucht vom naturwissenschaftlichen Erkenntnisbaume» versprach.30 Bis dahin sollten die Beobachter «unbekümmert um persönliche Vortheile wie um Lob oder Tadel der Menge» ausharren. Zudem stellte Brügger die wissenschaftliche Tätigkeit als patriotischen Dienst am Bündnerland dar, indem er appellierte, «den hohen Idealen von Vaterland und Wissenschaft seine Kräfte zu weihen».31

      1859 musste Brügger seinen eigenen «Dienst» am Bündnerland massiv einschränken. Er trat eine Stelle als Konservator der botanischen Sammlungen am Polytechnikum in Zürich an und konnte sich nicht mehr um die Berechnung und Redaktion der Tabellen kümmern.32 Seinen Korrespondenten hatte er zuvor mitgeteilt, dass es ihm nicht gelungen sei, einen Nachfolger zu finden. Er hielt sie dazu an, wie bisher mit den Beobachtungen weiterzufahren und die ausgefüllten Tabellen gut aufzubewahren, damit er sie später einsammeln könne.33 «Wir wollen Halleluja singen, wenn alle ausgestellten meteorologischen Schilderungen bis zu Ihrer Rückkehr auf ihren Posten ausharren», kommentierte Agostino Garbald dazu.34 Brüggers Freund und Beobachter in Castasegna befürchtete, das meteorologische Netz werde ohne Leitung innert kurzer Zeit «zerstäuben». Auch das «Bündner Tagblatt» schätzte die Überlebenschancen des Projekts ohne Brüggers Präsenz gering ein.35 Die Zeitung rief die Naturforschende Gesellschaft Graubündens dazu auf, finanzielle Unterstützung zu leisten. Diesem Aufruf entsprach der Verein insofern, als er 1860 damit begann, Beobachtungstabellen aus dem meteorologischen Netz in seinen Jahresberichten zu publizieren. Diese Rubrik wurde laufend ausgeweitet und umfasste bald mehr als einen Drittel des Inhalts. So erschienen in den Jahresberichten die mehrjährigen Aufzeichnungen von rund 50 Stationen. Fortlaufende Beobachtungsreihen seit 1856 lieferten die wenigsten Stationen, sei es, weil die Beobachter ihre Arbeit abgebrochen hatten, sei es, weil sie die ausgefüllten Tabellen verloren hatten. Ein Oberengadiner Beobachter teilte mit, er habe nicht damit gerechnet, dass seine Aufzeichnungen je veröffentlicht würden, und deshalb seien diese nahezu unleserlich.36

      DIE GRÜNDUNG DES NATIONALEN NETZES: NEUE STANDARDS UND HIERARCHIEN

      Das angestiegene Interesse innerhalb der Naturforschenden Gesellschaft Graubündens an den meteorologischen Beobachtungen stand in Zusammenhang mit dem ab 1860 laufenden Projekt eines landesweiten Beobachtungsnetzes. Die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft richtete mit finanzieller Unterstützung des Bundesstaats landesweit 88 Stationen ein und schuf in Zürich die Meteorologische Zentralanstalt, welche die Tabellen ab Dezember 1863 sammelte, kontrollierte und publizierte. Im Grund verfolgten die Organisatoren des schweizerischen Netzes dasselbe Ziel wie Brügger: eine Klimastatistik für ein bestimmtes Gebiet auf der Grundlage von mehrjährigen, synchronen Messungen mit abgeglichenen Instrumenten. Die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft sah die Chance eines landesweiten Beobachtungsnetzes hauptsächlich darin, über viele und vergleichbare Daten zu verfügen. Mit den Beobachtungsresultaten der 88 Stationen sollte die Wirkung der Topografie, insbesondere der Alpen, auf das Wetter untersucht werden.37 Die Projektkoordination und Verwaltung der Daten lag in den Händen der Zentralanstalt, die eine grosse Datenmenge, über 1000 Monatstabellen pro Jahr, zu verwalten hatte. In der Zentralanstalt wurden die einzelnen lokalen Wetterdaten zu Puzzleteilen eines grossen Ganzen, des Schweizer Klimas. Die solcherart kreierte Vorstellung eines schweizerischen Naturraums wurde als Beitrag zur Schaffung einer nationalen Identität gesehen. So bezeichnete die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft ihr meteorologisches Projekt als «wahrhaft patriotisch» und sprach von einem «grossen vaterländischen Unternehmen».38 Auch Brügger hatte sein Projekt als patriotisches Handeln verstanden, nur war der Bezugsrahmen nicht die Nation, sondern der Kanton, sein «theures Heimathland Graubünden», gewesen.39

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      Abb. 4: Der Knotenpunkt des nationalen Netzes war die Meteorologische Zentralanstalt, die sich bis 1880 im zweiten Obergeschoss der Sternwarte in Zürich befand. Sie erhielt pro Jahr über 1000 Beobachtungstabellen aus der ganzen Schweiz zugesandt. Undatierte Fotografie.

      Das nationale Projekt war für die Bündner eine Chance, sich als Vorreiter zu profilieren, denn neben Graubünden hatten nur Thurgau, Bern und Solothurn bereits Beobachtungsnetze errichtet.40 Brügger schrieb 1862 an seine Beobachter, die Veröffentlichung aller Tabellen aus dem Bündner Netz stehe «im Interesse unseres Heimat-Kantons», der «seinen Mitständen und dem Bund in nachahmungswürdiger Weise vorangegangen» sei.41 Die Organisatoren des nationalen Netzes warfen Brügger allerdings zahlreiche Mängel vor. Seine Beobachtungsdaten könnten «nur Resultate von sehr beschränkter und bedingter Wichtigkeit zu Tage fördern», weil sie keine Luftdruck- und Luftfeuchtigkeitsmessungen enthielten und nicht alle zu denselben Tageszeiten erhoben worden waren.42 Zudem seien Brüggers Thermometer qualitativ ungenügend. Diejenigen Beobachter, die aus dem bündnerischen in das nationale Beobachtungsnetz übergingen, rüstete die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft deshalb komplett neu aus.43 Brügger erfüllte also die neuen Standards des nationalen