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Die Naturforschenden


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seiner Freizeit unentwegt fort, botanische, zoologische, klimatologische und historische Materialien zum Kanton Graubünden zusammenzutragen. Das als Synthese seiner grossen Pflanzensammlung geplante Werk «Die Flora des Kantons Graubünden» vollendete er nie. Zu einem erfolgreichen Abschluss brachte er hingegen ein Projekt, das seine historischen und meteorologischen Interessen kombinierte. In sechs Bänden gab Brügger von 1876 bis 1888 im Selbstverlag die «Natur-Chronik der Schweiz insbesondere der rhätischen Alpen» heraus, eine Auflistung der Wetterereignisse in Graubünden vom 11. bis zum 18. Jahrhundert. Dem ersten Band stellte er das Motto voran: «Der Meteorolog ist nichts als Geschichtsschreiber der Witterung: er hat es nur damit zu thun, die Gesetze der vergangenen Ereignisse aufzusuchen.»59 Während also die Meteorologische Zentralanstalt in Zürich Ende der 1870er-Jahre ihren primären Arbeitsbereich der Klimastatistik um die Wetterprognostik erweiterte, ging Brügger der Meteorologie nunmehr in Form einer Naturgeschichte nach. In Zürich würdigte man seine mühevollen Recherchen für die «Natur-Chronik», aber gleichzeitig hielt man ihm vor, dass er diese Materialsammlung nicht wissenschaftlich weiterverarbeitet habe.60 Die Praktiken der «alten Schule der Naturforschung», die hauptsächlich im Sammeln, Beschreiben und Auflisten bestanden, reichten in den wissenschaftlichen Zentren nicht mehr zur Anerkennung. Der Institutionalisierungsprozess führte Ende des 19. Jahrhunderts schliesslich zur Aufteilung der Naturforschung in akademische Wissenschaft einerseits und untergeordnete Hobbytätigkeit andererseits.

      BERNHARD C. SCHÄR

      EVOLUTION, GESCHLECHT UND RASSE

      Darwins Origin of Species in Clémence Royers Übersetzung

      Der Ausgangspunkt jeglicher Politik muss lauten: «Die Menschen sind von Natur aus ungleich.»1 So formulierte es Clémence Royer 1862 im Vorwort ihrer Übersetzung von Charles Darwins Werk «On the Origin of Species» (Deutsch: Über die Entstehung der Arten). In diesem epochenmachenden Buch präsentierte der Engländer 1859 erstmals seine Theorie über die Geschichte der Natur. Nicht Gott würde Tiere und Pflanzen erschaffen, sondern die «natürliche Selektion». Im Wettbewerb um beschränkte natürliche Ressourcen überlebten jene Arten, die am besten an die Umwelt angepasst seien. Dadurch würden sich die Arten beständig weiterentwickeln und verändern.2

      Die französische Philosophin Clémence Royer (1830-1902) übersetzte Darwins Werk in der Stadtbibliothek Lausanne ins Französische. Sie fügte dem Buch nicht nur zahlreiche Kommentare in Fussnoten, sondern auch ein 60-seitiges Vorwort bei. Dieses sorgte in der französischsprachigen Welt für ähnlich viel Wirbel wie Darwins Theorie selbst. Der Grund hierfür war, dass Royer «mehr noch als Herr Darwin», wie sie in ihrem Vorwort erklärte, «viele Hypothesen»3 wagte:

      «[D]as Gesetz der natürlichen Selektion zeigt, auf den Menschen angewendet, in überraschender und zugleich schmerzhafter Weise, wie falsch unsere bisherigen politischen und gesellschaftlichen Gesetze wie auch unsere religiöse Moral gewesen sind.»4

      Die Moral «unserer christlichen Ära» zeichne sich durch eine «Übertreibung dieses Mitleids, dieser Wohltätigkeit, dieser Brüderlichkeit» gegenüber Schwachen, Kranken und Armen aus. Diese würden «schwer auf den Schultern der Gesunden lasten» und «drei Mal mehr Platz an der Sonne beanspruchen als gesunde Individuen!»5

      «Was folgt aus diesem exklusiven und unklugen Schutz für die Schwachen, die Kranken, die Unheilbaren, selbst für die Bösartigen, für alle, die gegenüber der Natur in Ungnade gefallen sind? Nichts anderes, als dass das Übel, unter dem sie leiden, dazu tendiert, bis in alle Ewigkeit fortzubestehen und sich zu vervielfältigen; dass dieses Übel sich vergrössert anstatt sich verkleinert; und dass es sich auf Kosten des Guten vermehrt.»6

      Jahre bevor der Begriff Eugenik erfunden wurde, 7 war Royer 1862 eine der ersten Intellektuellen, die solche Schlussfolgerungen aus Darwins Theorie ausformulierte. Obschon sie dies nicht explizit schrieb, legten ihre Äusserungen nahe, dass es im «Kampf ums Dasein» besser sein könnte, Schwache, Kranke und Pflegebedürftige sterben zu lassen oder ihre Fortpflanzung zu verhindern.

      Mit dieser Haltung verkörperte Royer einerseits wesentliche Merkmale des zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Denkens. In einer Zeit, als Frauen in Europa nicht nur von politischen Ämtern, sondern auch von Universitäten ausgeschlossen waren, war Royer aber andererseits eine Ausnahmeerscheinung. Sie war eine der wenigen Frauen in der französischsprachigen Welt, die sich auf Augenhöhe mit den grössten Theoretikern ihrer Zeit intellektuell duellierten. Sie vertrat in diesen Debatten einen pointiert feministischen Standpunkt.8 Dieser unterschied sich nicht nur von den vielfältigen Theorien ihrer Zeitgenossinnen (und erst recht von den Theorien all ihrer männlichen Zeitgenossen), sondern auch von den feministischen Theorien ihrer Nachfolgerinnen. Während etwa Royers Landsfrau Simone de Beauvoir fast ein Jahrhundert später proklamierte, dass man nicht als Frau geboren, sondern durch die Gesellschaft zu einer solchen gemacht werde, 9 hielt Royer an der Auffassung fest, dass Menschen entweder als Männer oder als Frauen geboren würden und von Natur aus ungleich seien. Das Originelle an Royers Argument war jedoch, dass gerade diese natürliche Ungleichheit der Grund sei, weshalb Frauen (zumindest solche der «weissen Rasse», wie wir sehen werden) dieselben Rechte und Chancen wie Männer erhalten sollten. Royer entwickelte diese Sichtweise in einer feministischen Evolutionstheorie. Von ihren männlichen Zeitgenossen wurde diese allerdings weitgehend ignoriert, weshalb Royer nach ihrem Tod schnell in Vergessenheit geriet.10 Im 20. Jahrhundert flackerte die Erinnerung an sie zunächst periodisch in feministischen Zeitschriften wieder auf.11 Als sich ab den 1980er-Jahren die Frauen- und Geschlechtergeschichte etablierte, erschienen zwei wissenschaftliche Biografien – eine von der französischen Philosophin Geneviève Fraisse und eine von der amerikanischen Wissenschaftshistorikerin Joy Harvey.12

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      Abb. 1: Die Bibliothek in Lausanne um 1900.

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      Abb. 2: Das Titelblatt von Clémence Royers erster Darwin-Übersetzung. Für die zweite französische Auflage von 1866 entfernte Royer auf Geheiss Darwins den Begriff «Fortschritt» im Untertitel. Für die dritte Auflage von 1869 entzog ihr Darwin seine Autorisation.

      Das Hauptanliegen dieser Biografinnen war es, Royers Beiträge zur feministischen Theoriebildung und zur Biologie zu rekonstruieren und zu würdigen. Hier soll ein anderer Aspekt von Royers Denken ins Zentrum gerückt werden, der in der bisherigen Literatur zwar nicht ignoriert, jedoch nur am Rand behandelt wurde: der Rassismus. Dieser war sowohl für ihren Feminismus als auch für die von ihr mitgeprägte Darwin-Rezeption elementar.13 Zugleich lassen sich Einblicke in die Rolle der Schweiz als Drehscheibe zwischen den französischen, deutschen und englischen Wissenschaftsgemeinschaften gewinnen. Zentrale und bis heute einflussreiche Theorien des 19. Jahrhunderts wurden über die Schweiz ausgetauscht. Es handelt sich um Theorien der Evolution, der Rassen und der Geschlechter.

      WESHALB ROYER?

      Royers Weg zur Darwin-Übersetzerin war alles andere als geradlinig.14 Sie kam 1830 in Nantes zur Welt. Ihr Vater war Offizier und unterstützte die französische Monarchie. Royers Mutter stammte ebenfalls aus einer Offiziersfamilie. 1832 flohen die Royers in die Schweiz, da der Vater für seine Unterstützung der antirevolutionären Kräfte zum Tod verurteilt worden war. Die Familie liess sich für drei Jahre am Genfersee nieder. 1835 kehrte sie nach Paris zurück. Der Vater wurde vor Gericht begnadigt. Später zog die Familie in die Provinz, wo die junge Clémence ein katholisches Internat besuchte. Die Erfahrung scheint traumatisch gewesen zu sein. Royer bezeichnete sie später als intellektuelle «Vergewaltigung», was ihre späteren scharfen antireligiösen Attacken erklärt.15 Die Emanzipation von der katholischen Indoktrination erfolgte schrittweise. Während der 1848er-Revolution lebte Royer wieder in Paris, was ihren Wandel zur Republikanerin eingeleitet habe. Sie machte eine Ausbildung zur Lehrerin. Zwischen 1853 und 1855 unterrichtete sie in Grossbritannien