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Die Naturforschenden


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Autodidakt aus der Provinz gewesen sein, zumal er sich nur auf Beobachtungen in der Umgebung von Gletschern der Walliser Alpen stützte.22 Auch de Charpentier zählte zu jener Zeit zu Venetz’ Kritikern. Um seinen Freund von dessen vermeintlichem Irrtum abzubringen, machte sich Jean de Charpentier daran, dessen These zu prüfen und zu widerlegen.23 Seine Feldstudien dauerten knapp vier Jahre. Sie führten ihn jedoch zu einem ganz anderen Resultat als erwartet. De Charpentier kam zur Überzeugung, dass nicht Venetz, sondern er und die anderen Naturforscher im Irrtum waren. So schloss sich der Waadtländer Salinendirektor allmählich den Ansichten des Walliser Kantonsingenieurs an. Dies bekundete de Charpentier erstmals gesprächsweise gegenüber dem angehenden Arzt Hermann Lebert (1813-1878), der ihn im Hebst 1833 besuchte.24 Im Folgejahr, 1834, stellte de Charpentier seine neue Sichtweise an der Jahresversammlung der SNG in Luzern erstmals einem wissenschaftlichen Publikum vor. Sein Vortrag trug den Titel Anzeige eines der wichtigsten Ergebnisse der Untersuchungen des Herrn Venetz über den gegenwärtigen und früheren Zustand der Walliser Gletscher.25 Darin versuchte de Charpentier zu beweisen, dass der Rhonegletscher einst bis ins Schweizer Mittelland gereicht habe. Womöglich fühlte sich de Charpentier in seinen kühnen Thesen durch ein Erlebnis bestätigt, das ihm ein paar Tage zuvor, auf dem Weg nach Luzern, widerfahren war. So berichtete der Salzwerkdirektor im erwähnten Brief an Bernhard Studer, wie er mit seinem Vortragsmanuskript in der Tasche auf dem Brüningpass einen Holzfäller aus Meiringen einholte und ein Stück des Weges mit ihm ging: «Dieser behauptete unaufgefordert, dass die Granitblöcke, welche wir am Wege liegend sahen, von der Grimsel aus durch Gletscher hierher gekommen wären, welcher sich noch etwas weiter als Bern erstreckte. Da ich in diesem Augenblick mein mémoire in der Tasche hatte[,] um es in Luzern vor zu lesen, so freute mich die Bemerkung[,] so dass ich dem Mann ein gutes Trinkgeld gab.»26

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      Abb. 3: Ignaz Venetz im Alter von 38 Jahren. 1826 liess er sich als selbstbewusster Ingenieur porträtieren. Durch das Fenster links im Hintergrund sieht man den Giétroz-Gletscher. Bei dessen Abbruch konnte Venetz durch die von ihm ergriffenen Massnahmen erfolgreich eine grössere Katastrophe verhindern. Ölgemälde von Lorenz Justin Ritz (1796-1870).

      In Übereinstimmung mit den damaligen Theorien zur Erdentstehung ging de Charpentier von der Vorstellung einer Erde aus, die sich im Lauf der Erdgeschichte kontinuierlich abgekühlt habe. In Anlehnung an die damaligen Gebirgserhebungstheorien nahm er an, im Untergrund wirkende, sogenannte plutonische Kräfte hätten die Alpen samt ihrem Umland emporgehoben. Durch Spalten und Klüfte des neu entstandenen Gebirges sei Wasserdampf ausgetreten. Da die Alpen kurz nach ihrer Entstehung wesentlich höher und das dortige Klima dementsprechend kälter als gegenwärtig gewesen seien, habe dies zu fortdauernden Schneefällen geführt. Ein abnormes Gletscherwachstum sei die Folge gewesen. Ein alpiner Supergletscher sei in der Folge über das Schweizer Mittelland hinweg bis an den Jura vorgestossen. Als sich das neu entstandene Gebirge gesetzt habe, seien die Alpen auf ihre heutige Höhe abgesunken. Dies habe eine Erwärmung des Alpenraums und ein Ende der Vergletscherung bewirkt. Innerhalb dieses Interpretationsrahmens betrachtete de Charpentier die ausgedehnte Gletscherbedeckung der Alpen als eine vorübergehende regionale Erscheinung. Damit glaubte er seine und Venetz’ Beobachtungen mit den damals vorherrschenden Theorien der Erdgeschichte in Einklang bringen zu können. Insgesamt ähnelte de Charpentiers Ansatz damit jenem des schwedischen Botanikers Göran Wahlenberg (1780-1851), der sich 1818 mit der Herkunft der Findlinge in Skandinavien befasst hatte und dort eine vorübergehende regionale Abkühlung und Vergletscherung des skandinavischen Gebirges vermutete.27 De Charpentier publizierte seinen Beitrag 1835 in der angesehenen französischen Bergbauzeitschrift «Annales des Mines».28 Das deutschsprachige Publikum erfuhr von diesem Beitrag 1836 zunächst durch einen Hinweis in Karl Büchners (1806-1837) «Literarischer Zeitung».29 Im gleichen Jahr druckten eine deutschsprachige und eine englischsprachige Zeitschrift eine geringfügig überarbeite Übersetzung ab.30 Ein zweiter Artikel, worin de Charpentier seine Vergletscherungstheorie in einen etwas weiteren erdgeschichtlichen Rahmen stellte, erschien 1836 auf Französisch und Englisch. Schliesslich druckte die damals führende deutschsprachige geowissenschaftliche Zeitschrift, das «Neue Jahrbuch für Mineralogie, Geognosie und Geologie», 1837 die beiden Beiträge de Charpentiers zusammen ab.31 Offensichtlich war Jean de Charpentier von seiner Theorie überzeugt und bestrebt, diese zu verbreiten und in die wissenschaftliche Diskussion einzubringen.

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      Abb. 4: Zeitgenössisches Porträt von Louis Agassiz aus dem Jahr 1844, auf dem er sich 37-jährig als Gletscher- und Eiszeitforscher inszeniert. Die Felsen rechts neben ihm sollen wahrscheinlich von Gletschern abgeschliffene Felsflächen darstellen. Im rechten Hintergrund ist eine Gebirgslandschaft samt Gletscher mit deutlich erkennbarer Mittelmoräne zu sehen. Ölgemälde von Frédéric Zuberbühler (1822-1896).

      EINE FOLGENSCHWERE BEGEGNUNG

      Eine Gelegenheit, seine Überlegungen weiter zu diskutieren, bot ihm 1836 die Jahresversammlung der SNG in Solothurn. Dort traf de Charpentier auf den deutschen Naturforscher Karl Friedrich Schimper (1803-1867) und dessen Studienfreund, den Fossilienkundler Louis Agassiz (1801-1872), Inhaber des Lehrstuhls für Naturgeschichte an der Akademie in Neuenburg. Mit Letzterem stand de Charpentier seit 1833 in Briefwechsel.32 Er lud Agassiz ein, mit seiner Familie die Ferien in Bex zu verbringen. Solche Einladungen sprach de Charpentier regelmässig gegenüber anderen Naturforschern aus. Agassiz nahm das Angebot des waadtländischen Salinendirektors an. Im Lauf des Sommers vermochte ihn de Charpentier von seiner Vergletscherungstheorie zu überzeugen, obwohl Louis Agassiz dieser anfänglich ablehnend gegenüberstand.33 Schliesslich rief Agassiz auch Schimper nach Bex. Dieser hatte bereits 1833 einen Wechsel aus warmen und kalten Phasen im Lauf der Erdgeschichte vermutet.34 Im Winter 1836/37 entwickelten Schimper und Agassiz die Vergletscherungstheorie in Neuenburg auf eigene Art weiter. Dabei prägte Karl Friedrich Schimper für ihr neu formuliertes Konzept die eingängige Metapher Eiszeit.35

      Im Juli 1837 fand die jährliche Versammlung der SNG in Neuenburg statt. Präsidiert wurde sie von Louis Agassiz, der die Gelegenheit nutzte, in seiner Eröffnungsansprache die gemeinsam mit Schimper weiterentwickelte neue Theorie vorzutragen. Zunächst knüpfte Agassiz an die Erkenntnisse von Venetz und de Charpentier an, indem er erklärte, die Gletscher, die man gegenwärtig in der Schweiz antreffe, seien einst viel grösser gewesen. Dann berichtete er von seinen eigenen Beobachtungen ortsfremder, scharfkantiger Gesteinsblöcke im Jura, aus denen er ableitete, jenes Gebirge sei ebenfalls vergletschert gewesen. Im Gegensatz zu de Charpentier verneinte er jedoch, dass die jurassischen Gesteinsblöcke durch einen alpinen Supergletscher dorthin transportiert worden seien. Agassiz stellte stattdessen die These auf, Europa sei vom Nordpol her mit einer bis zum Mittelmeer reichenden Eiskappe bedeckt gewesen. Als die Alpen bei ihrer Erhebung diesen Eisschild durchbrochen hätten, seien Gesteinstrümmer darauf bis zum Jura geglitten. Eine zeitweilige grössere Höhe der Alpen sah Agassiz im Gegensatz zu de Charpentier nicht als entscheidende Ursache für ein kühleres Klima an.36 Vielmehr habe sich am Ende jeder geologischen Periode ein plötzlicher globaler Temperatursturz ereignet, der «eine eisige Kälte produziert» und alles Leben ausgelöscht habe.37 Danach habe sich der Planet durch chemische Reaktionen im Erdinneren wieder erwärmt und sei von einer neuen Schöpfung besiedelt worden. Auf diese Weise seien jeweils ältere urtümlichere Lebensformen ausgelöscht worden, was wiederum Platz für neuere und, nach Auffassung von Agassiz und Schimper, höher entwickelte Lebensformen geschaffen habe. Da der Fossilienkundler Agassiz und der Botaniker Schimper die Vorstellung der Wandelbarkeit von Arten ablehnten, blieb ihnen nur die Annahme grosser globaler Katastrophen, um die Aufeinanderfolge zunehmend komplexer, nach ihrer Auffassung höher entwickelter Lebensformen im Lauf der Erdgeschichte zu erklären. Mit der Entdeckung Eiszeit schienen diese Katastrophen identifiziert zu sein.38 23 Jahre vor Charles Darwins wegweisendem Werk On the Origin of Species glaubten Agassiz und Schimper in den Eiszeiten eine Erklärung für die Abfolge verschiedener Lebensformen in der Geschichte unseres Planeten gefunden zu haben. Diese, von der romantischen Naturphilosophie beeinflusste, Erklärung für