Eva von Wyl

Ready to Eat


Скачать книгу

unterschiedlichsten «Ernährungssekten»45 aussprach. Den Reformversuchen der «Kleiebewegung», «Proteinphobisten», Vegetarier, «Nährsalzsekten», «Fletscher-» und Rohkostbewegung wirft er vor, dass sie auf Missverständnissen oder ethischen Grundsätzen fussten, und manche gar gesundheitlichen Schaden oder wirtschaftliche Nachteile brächten. Auch bei der Vitaminlehre, die zwar noch keine Sekte hervorgebracht habe, mahnt er zur Zurückhaltung: «Im Volksglauben weiter Kreise sind die Vitamine zu Substanzen geworden, die allein über Leben und Gesundheit entscheiden.»46 Im Wesentlichen ist Rubners gemischte Kost eine auf Vernunft und Genuss basierende Symbiose aus der wissenschaftlichen Ernährungslehre und den Prinzipien verschiedener Ernährungsreformen. Bei seinen Ratschlägen und Ideen verliert insbesondere die Eiweisslehre zugunsten eines ausgewogenen Mischverhältnisses von Proteinen, Fetten, Kohlenhydraten, Vitaminen, Mineralstoffen und Ballaststoffen an Bedeutung. Er sieht die Ernährung nicht mehr bloss rationell, sondern ruft dazu auf, die Gewohnheiten dem persönlichen Geschmack und Lebensstil anzupassen: «Wozu hat uns Gott so viele gute Sachen gegeben, wenn wir uns ihrer nicht bedienen sollen?», fragt er und fügt an: «In dem ‹Klub der Allesesser› sollen solche durch die Ernährungsfanatiker Eingeschüchterte wieder den Mut finden, sich zu nehmen, was ihnen schmeckt, während gleichzeitig aufklärende Vorträge über Ernährungswissenschaft ihnen die Furcht vor den etwaigen Folgen ihrer ‹Übertretungen› nehmen sollen.»47 Das Entscheidende dabei war die «gesunde Mischung».

      Der Blick über den Atlantik zeigt, dass auch hier die Forschung von Justus von Liebig zunächst auf sehr grosse Resonanz stiess. Die Ernährung der meisten Amerikaner war seit je stark auf Fleisch-, besonders auf Schweinefleischkonsum ausgerichtet. Während in Europa der Verzicht auf Fleisch aus unterschiedlichen Gründen erfolgte und etwas zugespitzt formuliert bis auf Pythagoras von Samos (570–510) zurückverfolgt werden kann,48 so galten Fleisch und besonders die guten Stücke davon in den USA als Statussymbol. Dies führte dazu, dass bis in die Unterschichten verhältnismässig viel Geld für Fleisch ausgegeben wurde. Eine Ausnahme bildeten religiöse Strömungen mit puritanisch-asketischer Lebensweise wie die Adventisten, die auf Initiative von Ellen G. White (1827–1915) jenes Kurhaus gründeten, das kurze Zeit später zu John Harvey Kelloggs (1852–1943) «Sanitarium» werde sollte.49

      Liebigs Eiweisslehre war denn auch ein wichtiges Element der damals einflussreichsten amerikanischen Ernährungsreformbewegung, der «Neuen Ernährung» (New Nutrition). Sie entstand wie verschiedene andere Reformbewegungen (Hygienereform, Frauenemanzipation, Bildungsreformen, Alkoholprohibition) nach dem Sezessionskrieg, als sich die USA rapide zu industrialisieren begannen. Sie war die erste von drei Reformströmungen, die die amerikanischen Ernährungsgewohnheiten bis in die 1960er-Jahre hinein entscheidend prägten und die Grundlagen für die Entwicklung einer modernen, industrialisierten Massenkost darstellten. Die Neue Ernährung, die zwischen 1880 und 1915 anzusiedeln ist und anfänglich noch eng mit vier federführenden Persönlichkeiten und deren Überzeugung und Engagement verbunden war, bevor sie sich allmählich zu einer «amerikanischen» Lehre entwickelte, wurde mit der Entdeckung der Vitamine durch die Neuere Ernährung (1915–1930) abgelöst. Diese zeichnet sich durch eine straffe Verbindung von Nahrungsmittelindustrie, Ernährungswissenschaftlern und Werbefachleuten aus, die, unterstützt durch Medien, Schulen, Behörden und Kirchen, eine preiswerte, gesunde und standardisierte Massenernährung bezweckten. Entscheidende Triebkraft und grösster Nutzniesser war dabei die Industrie. Damit markiert die Neuere Ernährung den Beginn der modernen Massenernährung, wobei sie sich – wie der Name schon andeutet – direkt aus der Neuen Ernährung heraus entwickelte. Noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und im Zusammenhang mit der Grossen Depression entstand daraus schliesslich die moderne Ernährung (1930–1960), die die Massenproduktion und den Massenkonsum mit einer verwissenschaftlichten Ernährungs- und Präventionslehre verknüpfte und unter anderem ein flächendeckendes Diätfieber auslöste. In dieser Phase bildete sich auch jene Esskultur heraus, die sich durch Standardisierung und Vereinheitlichung auszeichnete und sich in Convenience food und Ready to eat meals niederschlug.50

      Briesen zeigt anhand dieser drei Reformbewegungen auf, wie aus den ursprünglich europäischen Ernährungslehren und -paradigmen die modernen amerikanischen Essgewohnheiten entstanden und am Ende ihren Weg (zurück) nach Europa und danach in die ganze Welt fanden.51 Der Autor geht dabei von der These aus, dass sich nach 1900 «der Schwerpunkt des Wandels, welcher die europäische Esskultur betraf, zunehmend in die USA [verlagerte]».52 Die Gründe dafür sieht er in der Bedeutungszunahme der amerikanischen Wissenschaft und Forschung gegenüber der europäischen, in der Entstehung eigenständiger Reformbewegungen in den USA und schliesslich – ganz zentral – in den rapiden Veränderungen der Alltagskost durch die Industrialisierung in den USA. Im Zusammenspiel dieser drei Entwicklungen sei dann eben jene Ernährungsweise entstanden, die nach dem Zweiten Weltkrieg auch als «internationaler Ernährungsstil» bezeichnet worden sei.53 Kaum Eingang findet bei Briesen dagegen die amerikanische Ausprägung der Lebensreform, die in John Harvey Kellogg ihren prominentesten Vertreter findet. Das mag vor allem daran liegen, dass sich der Vegetarier Kellogg ausserhalb beziehungsweise am Rand der von Briesen diskutierten Gesundheits- und Reformströmungen bewegt. Während sich in Europa die Lebensreform schnell zu einer Massenbewegung entwickelte, erreichte die Lebensreform in den USA im Rahmen der Abstinenz-, Vegetarismus- und Naturheilkundebewegung zwar beachtliche Verbreitung, doch nicht im gleichen Ausmass wie im deutschsprachigen Raum. Dennoch bleibt unbestritten, welch entscheidende Rolle die von den Gebrüdern Kellogg erfundenen Cornflakes bei der Entstehung der modernen amerikanischen Essgewohnheiten und überhaupt bei der Herausbildung der Nahrungsmittelindustrie gespielt hatten. Es ist daher unverzichtbar, zum Schluss dieses Kapitels wenigstens ansatzweise auf die Erfindung von Cornflakes und ihren Wandel von der Diätspeise zum modernen Frühstück in Form eines industriell produzierten Convenience food einzugehen.

      Während also in Europa und besonders im deutschsprachigen Raum die Lebensreformbewegung ihren Anlauf nahm, entstand in den USA eine Ernährungsreformbewegung, die auf der Liebig’schen Eiweisslehre basierte und ähnlich wie die rationelle Volksernährung das Ziel verfolgte, die Ernährung der Bevölkerung zu verbessern. Überhaupt weist die Neue Ernährung eine grosse Ähnlichkeit mit der rationellen Volksernährung auf. Beide basierten auf einem rationellen, ökonomischen Grundsatz, nach dem mit möglichst kleinem (finanziellem) Aufwand möglichst viel (an Nährstoffen) herausgeholt werden soll, wobei in beiden Fällen ein «Top-Down-Prinzip» verfolgt wurde.54

      Die Neue Ernährung entstand nach dem Sezessionskrieg, als die Industriestädte im Nordosten des Landes eine enorme Einwanderung – sowohl aus den südlichen Bundesstaaten als auch aus (Süd-)Europa – erfuhren. Ursprünglich war die Zielgruppe der Neuen Ernährung denn auch die Unterschicht in den Städten. Die Begründer der Neuen Ernährung waren Eduard Atkinson (1827–1905), Wilbur O. Atwater (1844–1907), Mary Hinman Abel (1850–1938) und Ellen S. Richards (1842–1911). Eduard Atkinson war ein typischer Selfmade-Geschäftsmann aus Boston und Mitglied der Demokratischen Partei. Er war davon überzeugt, dass man die Lage der Arbeiter nicht durch Erhöhung der Löhne, sondern durch eine gesunde und preiswerte Ernährung verbessern konnte. Aus diesem Grund nahm er Kontakt auf mit Wilbur Atwater, einem Chemiker der Wesleyan University in Connecticut, der zudem im Beirat des Massachusetts Institute of Technology (MIT) sass und nachgewiesen hatte, dass die Arbeiter viel mehr für ihre Nahrung ausgaben, als tatsächlich notwendig war. Mary Hinman Abel machte in einem Aufsatzwettbewerb auf sich aufmerksam, indem sie, basierend auf den neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Nahrungsbestandteile, forderte, dass sich die amerikanischen Hausfrauen ein Vorbild an den deutschen nehmen sollten, die statt teurem Fleisch preisgünstige Bohnen und billiges Fleisch verwendeten. Ellen Richards ihrerseits war eine bekannte Chemikerin und als erste Frau ans MIT berufen worden. Auch sie war davon überzeugt, dass man durch die Vermittlung der wissenschaftlichen Erkenntnisse der Unterschicht Alternativen für gesundes, preiswertes und schmackhaftes Essen aufzeigen musste. Sie gehörte der Jury an, die Abel für ihren Aufsatz mit dem Lomb-Preis auszeichnete. Zwischen den beiden Frauen