Eva von Wyl

Ready to Eat


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(amerikanischen) Konsumgesellschaft entsteht mit der Neueren Ernährung damit erstmals eine Art «demokratisierte Massenesskultur», in der die sozialen Unterschiede nicht mehr primär durch die Quantität, sondern vermehrt durch die Qualität der Nahrungsmittel zum Ausdruck kommen.75

      Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs wurde diese Aufweichung der sozialen und regionalen Unterschiede weiter vorangetrieben. Damit wird die Vereinheitlichung der amerikanischen Esskultur zu einem Hauptmerkmal der modernen Ernährung,76 die durch eine Reihe von Entwicklungen zusätzlich gefördert und vorangetrieben wurde: Als Erstes zeichnete sich in der Periode der modernen Ernährung der Siegeszug der industriellen Fertig- und Convenience-Produkte ab. Levenstein bezeichnet insbesondere die 1950er- und 1960er-Jahre deshalb auch als Golden Age of Food Processing.77 Der Durchbruch der Fertigprodukte begann bereits in den 1930er-Jahren, als während der Grossen Depression die Lebensmittelpreise tief in den Keller rutschten – sehr zum Nachteil der Bauern und Viehzüchter. Diese waren dem Preisdruck der mächtigen Nahrungsmittelkonzerne praktisch hilflos ausgesetzt. Auf der anderen Seite half der Preiszerfall jedoch dem Grossteil der Bevölkerung, die so die der Krise wegen gesunkenen Löhne wettzumachen vermochte. Obwohl die Depression gerade die Schlechtgestellten am härtesten traf und grosse soziale Not und Hunger zur Folge hatte, war im Allgemeinen bei den Konsumgewohnheiten der Amerikaner kaum eine Veränderung feststellbar. Briesen schreibt: «Die meisten Amerikaner sparten während der Krise zwar an vielem, nicht jedoch an Kleidung und Ernährung.» Bei der Mehrheit der Bevölkerung hätten sich die Konsumtrends der Wohlstandsjahre fortgesetzt – in Richtung bessere und industriell verarbeitete Produkte sowie mehr Obst und Gemüse.78 Interessant ist auch die Tatsache, dass – beeinflusst durch die Werbung – gerade die Nahrung produzierende Landbevölkerung vermehrt die selbst hergestellten Frischprodukte gegen die industriell verarbeiteten Convenience-Produkte eintauschte. Levenstein hält fest: «Poor Appalachian farmers shunned tasty countryhams in favor of water-logged canned ones; they sold homegrown vegetables to buy the brand-name canned variety.»79

      Als sich in den 1940er-Jahren die amerikanische Wirtschaft erholte und die Reallöhne anstiegen, erhöhten sich auch die Ausgaben für Lebensmittel. Das neuste Massenprodukt der Nahrungsmittelindustrie war die Tiefkühlkost, die nun nicht mehr ein Neben- beziehungsweise Abfallprodukt darstellte, sondern eine eigene Produktlinie. Bis in die 1920er-Jahre wurden Lebensmittel erst eingefroren, wenn sie beinahe verdorben waren. Erst danach entdeckte man die unglaublichen Möglichkeiten, die die Tiefkühltechnik bot. Als Erfinder der Tiefkühlkost gilt Clarence Birdseyes (1886–1956), der Firmengründer von Birds Eye Frosted Foods. Der Legende nach soll er auf einer Reise nach Labrador von den Inuit gelernt haben, wie gut sofort eingefrorener Fisch und sofort eingefrorenes Fleisch schmeckten.80 Als nach der Depression Tiefkühltruhen in Reichweite breiter Bevölkerungsschichten kamen, wurden neben tiefgekühlten Früchten, tiefgekühltem Gemüse, Fisch und Fleisch auch vorportionierte Fertiggerichte zum Verkaufsschlager. Das meistgekaufte Tiefkühlprodukt der Nachkriegszeit war interessanterweise jedoch keine Speise, sondern Orangensaft: «To almost everyone’s surprise, it was not food but orange juice that became the postwar era’s first major frozen success story», schreibt Levenstein, «by 1949 more of frozen concentrate was being sold than the two previous frozen food leaders, peas and strawberries, combined. In 1953 orange juice comprised fully 20 percent of all frozen product sales.»81 Bereits in den 1930er-Jahren erlebte Orangensaft in den USA einen grossen Boom.82 Das gefrorene Konzentrat entsprach deshalb genau dem Zeitgeist der Vitamin-Manie, die weiter unten noch thematisiert werden soll.

      Convenience food und Fertiggerichte hätten für die amerikanischen Konsumentinnen und Konsumenten nie einen so hohen Stellenwert erlangt, hätte sich nicht zur gleichen Zeit auch ein Lebenswandel vollzogen, der sich besonders an der Rolle der (Haus-)Frau beschreiben lässt: In den 1950er- und 1960er-Jahren erhöhte sich einerseits die Zahl der erwerbstätigen Mütter und Ehefrauen. Nicht mehr nur die Frauen der Arbeiterschicht waren nun berufstätig, sondern zunehmend auch die der Mittelschicht. Der Anteil berufstätiger Ehefrauen erhöhte sich in diesen zwei Jahrzehnten um mehr als das Doppelte. Betrachtet man die Zahl der berufstätigen Mütter, ist sogar eine Vervierfachung festzustellen.83 Die Fertiggerichte halfen ihnen dabei, ihre Doppelrolle als berufstätige Ehefrau zu meistern.

      Andererseits wurde den Frauen in der Zeit zwischen Grosser Depression und Kriegsende zunehmend die Rolle der Familienköchin zuteil. Ein Fakt, den auch die Werbeindustrie interessierte. Bereits in den 1920er-Jahren hatte sie herausgefunden, dass die Hausfrauen diejenigen waren, die über die Familienausgaben entschieden. In wirtschaftlich angespannten Zeiten wurde diese Rolle noch wichtiger, galt es doch, mit dem Haushaltseinkommen sparsam umzugehen und trotzdem für eine gesunde, abwechslungsreiche und leistungsoptimierte Kost zu sorgen, wie es die Neue Ernährung lehrte. Die Werbe- und Nahrungsmittelindustrie reagierte auf diese Verantwortung der Hausfrauen, indem sie in den aufkommenden Massenmedien Tipps und Menüvorschläge bereithielten. Dabei kam ihr die enge Zusammenarbeit, die sie mit den Zeitungs- und Radioredaktionen einging, entgegen: Zeitungen nahmen für ihre Beiträge über Ernährung und Gesundheit gerne die Rezeptdienste der Grosskonzerne in Anspruch.84

      Auch die weibliche Doppelrolle der erwerbstätigen und gleichzeitig fürsorglichen Hausfrau und Mutter blieb von der Industrie nicht unerkannt, schliesslich förderte dies den Absatz ihrer Produkte. Allerdings ging die Industrie sehr paradox damit um: In ihrer Werbung ignorierte sie dieses Faktum und warb es gar «weg». Ihre Fertiggerichte und Tiefkühlprodukte bewarben die Grosskonzerne nämlich nicht, indem sie sie etwa als Lösung für mangelnde Zeit für Hausarbeit und Kochen verkauften. Nein, die in der Werbung gezeigten Frauen waren entweder immer durch und durch Hausfrau und Mutter, oder die eingesparte Zeit konnte gar für die in den USA hochgeschätzte Arbeit in und für die Gemeinde oder für Hobbys eingesetzt werden. Sie stand da mit in einem deutlichen Widerspruch zur sozialen Realität.85 Es fragt sich natürlich, welche Überlegungen hinter dieser Strategie standen. Ging die Werbung also davon aus, dass Berufstätige sowieso Convenience- Produkte kaufen würden, und zielte vor allem drauf ab, auch jene Frauen als Kundinnen zu gewinnen, die eigentlich genügend Zeit für Hausarbeit und kochen hatten? Oder ging es um einen Feel-good-Effekt, bei dem man den berufstätigen Müttern zu zeigen versuchte, dass sie gar nicht so viel schlechter waren als jene Frauen, die sich vollumfänglich für ihre Familie aufopfern konnten, indem die Werbung suggerierte, dass es sich bei Fertiggerichten um gesunde, auch von klassischen Ehefrauen und Müttern geschätzte Produkte handelte?

      Übrigens waren auch in der Schweiz in Inseraten für Convenience-Produkte in erster Linie fürsorgliche Ehefrauen und Mütter abgebildet. Hier entsprach dies jedoch viel eher der sozialen Wirklichkeit. So lag die Erwerbstätigkeit von Frauen praktisch während des gesamten 20. Jahrhunderts weit unter dem Niveau der USA. Zwar gibt es keine (mit den USA) vergleichbaren Daten über die Erwerbstätigkeit von Ehefrauen und Müttern, jedoch zeigen die Statistiken, dass sich die Frauenerwerbstätigkeit zwischen 1910 und 1970 in der Schweiz nur minimal veränderte und konstant bei rund einem Drittel lag.86 Auch die Werbebotschaft unterschied sich von derjenigen in den USA insofern, als die Convenience-Produkte die Frauen in erster Linie bei der tadellosen Haushaltsführung unterstützten. Die Firma St. Galler Konserven entwarf hierfür die Figur der «Frau Erika», die nur um das Wohl ihres Ehemannes besorgt war. In einem Inserat heisst es: «Niemals soll sich mein Mann über das Essen beklagen – selbst am strengsten Waschtag nicht.» Frau Erika koche an einem Waschtag genauso gut wie an jedem anderen, heisst es weiter, denn in solchen Fällen greife sie zu den bewährten St. Galler Konserven und erreiche damit gleich dreierlei: «ein ausgezeichnetes Essen, einen zufriedenen Mann und wertvollen Zeitgewinn».87

      Die Doppelbelastung von Berufstätigkeit und Hausarbeit, wie sie zunächst besonders den Amerikanerinnen zuteilwurde, wurde aber nicht nur durch Tiefkühl- und Fertigprodukte erleichtert. Mindestens ebenso wichtig war ab den 1930er-Jahren das Aufkommen technischer Errungenschaften, die die Küchenarbeit vereinfachten. Allen voran sind hier der Kühlschrank und die Kühltruhe zu nennen, ohne die die industriellen Fertiggerichte und die Tiefkühlnahrung gar nicht erst hätten gelagert werden können. Aber auch andere Geräte, wie Mixer, elektrischer Backofen und