auch Kellogg seit je auf «natürliche Nahrung», doch hatte «Natürlichkeit» bei ihm eine ganz andere Bedeutung als bei seinesgleichen in Europa. Sie bezog sich in erster Linie auf die Rohstoffe der Nahrung, nicht auf den Zustand, in dem diese konsumiert wurden. Er legte weniger Wert auf die Frische von Gemüse, Früchten und Nüssen als auf eine gut verdaubare Vorverarbeitung. Damit ist eines der wichtigsten Unterscheidungsmerkmale zwischen der europäischen und der amerikanischen Ausprägung der Lebensreform angesprochen: «Der Zürcher Ernährungsreformer wollte die Nahrung so naturbelassen wie möglich, sein Kollege in Battle Creek hingegen entwickelte sich zu einem Pionier der Foodindustrie», schreibt Wirz.116
Weder Bircher-Benner noch Kellogg waren jedoch an der Massenproduktion ihrer Frühstücksflocken direkt beteiligt. Im Fall von Kellogg war es in erster Linie dessen Bruder, der den Cornflakes zum Durchbruch verhalf, indem er ihnen Zucker zufügte und nur noch den Kern statt des ganzen Maiskorns verwendete. Das als Diätkost konzipierte Nahrungsmittel wurde somit zu einem Produkt, das den nun anbrechenden Zeitgeist der Neueren Ernährung in mannigfacher Hinsicht widerspiegelte: Es wurde zu einem typischen Industrieprodukt, das entsprechend den vorherrschenden wissenschaftlichen Überzeugungen von Herstellern wie Vertretern der Neueren Ernährung als gesund verkauft wurde. Gesund nicht nur seiner Inhaltsstoffe wegen, sondern auch, weil die Cornflakes dem Anschein nach sauber und keimfrei verpackt waren. Der hohe Anteil an Zucker wird dabei bis heute erfolgreich ignoriert. Cornflakes eigneten sich aber nicht nur für eine ausgewogene Ernährung, sie versprachen durch ihre Ready-to-eat-Eigenschaft auch Zeitgewinn und Geldersparnis. Darüber hinaus waren diese Frühstücksflocken lange haltbar und von gleichbleibender Qualität – ein typisches Markenprodukt, das sich schon seines Namens wegen verkaufte: Kellogg’s Cornflakes. William Keith Kellogg verstand es gut, sich den gesellschaftlichen Wandel für die Vermarktung seines Produkts zunutze zu machen. Gesundheit wurde in der Werbung mit Genuss verknüpft, und das zunehmende Bewusstsein für Gesundheit und Fitness sowie die immer knapper werdende Zeit für Küchenarbeit waren die idealen Voraussetzungen, um das Bedürfnis nach dem «Sonnenschein-Frühstück» zu wecken und zu steigern.117
Im Sinn von John Harvey Kellogg war diese Entwicklung gewiss nicht. Obwohl nach der Jahrhundertwende die Cerealienhersteller wie Pilze aus dem Boden schossen und offensichtlich genau den Geist der Zeit trafen, gefiel ihm nicht, wie sein Bruder mit den neuen Cornflakes die Prinzipien seiner Ernährungsreform mit Füssen trat. Die beiden Brüder verkrachten sich und prozessierten über Jahre hinweg.118
Ernährung im Zeitalter von Massenkonsum und American way of life
Nach dem Zweiten Weltkrieg verändern sich die Essgewohnheiten in der Schweiz spürbar. Nach beinahe vier Jahrzehnten des krisen- und kriegsgeprägten Verzichts und Mangels, in denen Lebensmittel rationiert und die Auswahlmöglichkeiten beschränkt waren, öffneten sich nun die Türen in eine neue Zeit, die sich in den USA bereits in den 1930er-Jahren ankündigte und den Beginn der modernen Konsumkultur markierte. In den zwei Prosperitätsdekaden nach dem Zweiten Weltkrieg bildete sich nun auch in Europa eine Kultur des Massenkonsums heraus, die sich zunehmend an einem amerikanischen Leitbild orientierte. Die damit einhergehende neue Wegwerfmentalität, aber auch die Freizeitkultur und die schnelllebigen Modeströmungen schlugen sich nicht zuletzt auch in den Essgewohnheiten nieder.
Während also die amerikanischen Ernährungsgewohnheiten im ausgehenden 19. Jahrhundert noch stark von den Traditionen und Lehren der Alten Welt geprägt und beeinflusst waren, so greift die moderne Ernährung in der Nachkriegszeit nun auf Europa über und konfrontiert die Menschen mit neuen Produkten, neuen Herstellungsverfahren und Vertriebsmethoden, aber auch mit neuen Zubereitungsarten und Essgewohnheiten, die ganz im Zeichen von Rationalisierung und Convenience stehen und im weitesten Sinne zu einem Bestandteil des American way of life wurden. Der amerikanische Lebensstil übte in der Nachkriegszeit auf viele Europäer eine grosse Anziehungskraft aus und stellte das Mass aller Dinge dar, denn er stand für Wohlstand, Überfluss und Fortschritt. Es erstaunt deshalb wenig, dass viele Firmen in den USA nach neuen Ideen suchten und sich von amerikanischen Produkten wie Cornflakes, Pommes-Chips und Cola sowie der Effizienz der Verarbeitung und Distribution inspirieren liessen.119
Entscheidend für die moderne Konsumgesellschaft war aber auch die mit dem Wirtschaftsaufschwung zusammenhängende Kaufkraftsteigerung.120 Erst das Vorhandensein von finanziellen «Überschüssen» ermöglichte überhaupt eine Veränderung der Ausgabestruktur, bei der die Menschen Geld für Güter und Nahrungsmittel ausgeben konnten, die den lebensnotwendigen Bedarf überschritten. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts machte die Nahrung den Hauptteil der Ausgaben einer durchschnittlichen Familie aus. Aber auch ein bürgerlicher Haushalt gab in der Schweiz im 19. Jahrhundert rund die Hälfte des Einkommens für Nahrungsmittel aus, tiefere Einkommensschichten wendeten bis zu drei Viertel der Einnahmen für Lebensmittel auf. Durch die seit der Jahrhundertwende steigenden Reallöhne sowie die aufkommende Lebens- und Genussmittelindustrie sanken die Ausgaben Anfang des 20. Jahrhunderts, sodass das Bürgertum noch rund einen Drittel seines Einkommens für Nahrung ausgab und die tieferen Schichten noch rund die Hälfte.121
Nach dem Zweiten Weltkrieg sanken schliesslich auch bei den durchschnittlichen Familien die Ausgaben für Lebensmittel. Zum ersten Mal war die Nahrung nun auch für tiefere Einkommensschichten im Überfluss und in bisher unbekannter Vielfalt vorhanden. Rohstoffe und Lebensmittel konnten zu günstigen Preisen aus allen Ecken der Welt importiert werden, und die blühende Lebensmittelindustrie trug dazu bei, dass immer billigere Nahrungsmittel auf den Markt kamen. Durch die unter anderem deshalb frappant ansteigenden Reallöhne sank auch der prozentuale Anteil an Ausgaben für Nahrungsmittel über alle Einkommensschichten hinweg von 37 Prozent (1944) auf 13 Prozent (1978).122 Allerdings muss betont werden, dass dieser Prozentsatz gemäss dem Engel’schen Gesetz, nach dem der Anteil an Nahrungsausgaben umso grösser ausfällt, je kleiner das Einkommen ist, entsprechend auch sehr unterschiedlich hoch sein konnte. Dennoch: Verglichen mit den 75 Prozent, die tiefere Einkommensschichten im 19. Jahrhundert für Nahrungsmittel ausgaben, bedeutet dies einen Rückgang auf einen Fünftel. Das hieraus entstehende Vakuum wird im gleichen Zeitraum etwa mit steigenden Ausgaben für Steuern, Gebühren und Versicherungen, aber auch für Bildung und Erholung sowie für Verkehr und Reisen gefüllt – Budgetposten, die ebenfalls als Indiz für das angebrochene Konsumzeitalter interpretiert werden können.123
Obwohl der Anteil der Lebensmittelkosten an den Gesamtausgaben während der Ära des «Wirtschaftswunders» immer weniger ins Gewicht fiel, so fällt auf, dass verschiedene bis dahin als Luxusprodukte klassifizierte Lebensmittel nun zur Standardernährung breiter Bevölkerungsschichten wurden. Ein Beispiel für eine solche Transformation vom Luxusgut zur Alltagskost ist die Orange. Sie steht in Zusammenhang mit einer allgemeinen Zunahme des Verzehrs von Obst und Gemüse und ist einerseits auf die gestiegene Kaufkraft zurückzuführen und andererseits – ähnlich wie in den USA – auf ein stärkeres Bewusstsein für vitaminreiche Kost. So wandelte sich die vorwiegend aus Italien und Spanien importierte Frucht im Verlauf der 1950er-Jahre von einem Luxusgut zu einer «allgemeinen Vitaminspenderin».124
Ein weiteres Merkmal der modernen Essgewohnheiten sowohl in der Neuen wie auch in der Alten Welt ist die Verbreitung von Convenience food in Form von Konserven und Tiefkühlprodukten. Gerade Tiefkühlprodukte setzten aber einen hohen technischen Aufwand voraus, der der Verbreitung in Europa zu Beginn enge Grenzen setzte. Die Rede ist hier von der Einhaltung einer geschlossenen Kühlkette, die vom Produzenten über den Verteiler bis hin zu den Haushalten eine ununterbrochene Kühlung von minus 20 Grad Celsius ermöglichte.125 Federführend waren in dieser Hinsicht die USA. Als die Vorzüge des Einfrierens als Konservierungsmethode erst einmal entdeckt waren und Lebensmittel nicht mehr erst kurz vor der Ungeniessbarkeit eingefroren wurden, entwickelte sich in den USA bald ein nationales «Kühlkettennetz», das es erlaubte, die verschiedenen Zentren der Lebensmittelproduktion mit den bevölkerungsreichen Gebieten zu verbinden. Früchte und Gemüse stammten aus dem Süden und dem Westen, Fleisch kam aus dem Mittleren Westen, und die Verbrauchszentren lagen im Osten. Bereits in der Zwischenkriegszeit verfügten zahlreiche Haushalte über Kühlschränke und bald schon über Gefriertruhen.126
In Europa liess dieser Trend jedoch auf