Eva von Wyl

Ready to Eat


Скачать книгу

empfand man in der Schweiz in der Nachkriegszeit auch das Essen beziehungsweise das Kauen auf offener Strasse. Zum ersten Mal kamen die Schweizerinnen und Schweizer damit in Berührung, als sich nach Kriegsende rund 3500 kaugummikauende amerikanische GIs in der Schweiz zur Erholung aufhielten. Wie Regula Bochsler in ihrem Aufsatz «Kaugummi und Swing» aufzeigt, brach ob dem Kaugummi eine eigentliche Debatte über Sitten und Unsitten aus, die sich über weit mehr erstreckte als die Essgewohnheiten. Der Kaugummi wurde zu einem Symbol für den Kampf zwischen den Generationen, aber auch für die ambivalente Einstellung zur modernen Konsumkultur und zum American way of life. Das Kauen von Kaugummi überall und jederzeit habe ungute Gefühle geweckt, schreibt Bochsler, denn Essen auf der Strasse sei verpönt gewesen.148 Zwar ist die Verköstigung auf der Strasse seit der Antike bekannt, doch sie war Reisenden und ärmeren Schichten vorbehalten. Wenn möglich assen bürgerliche Schichten und Bessergestellte zu Hause.149

      Wolfgang König und Albert Wirz stellen fest, die Amerikaner ässen «an allen möglichen Orten und zu allen möglichen Zeiten»150 – «wo immer man hinschaut, sieht man essende und trinkende Menschen, bei der Arbeit, auf der Strasse, im Kino, am Skilift. […] Selbst zwischen den übermannshohen Regalwänden im Supermarkt brauchen viele von Zeit zu Zeit einen Mundvoll.»151

      Im Kontext des Überall-und-jederzeit-Essens sowie der damit einhergehenden Auflösung festgelegter Essenszeiten stehen auch die zahlreichen Take-away-Angebote und das Fastfood. Typisch dafür sind die rund um die Uhr geöffneten Restaurants und Supermärkte mit Imbissecken. Doch auch in Parks, an den Highways und Strassen – überall sind Essstände zu finden. Diese Art der Verköstigung hatte ihren Ursprung eigentlich in europäischen und insbesondere auch deutschen Imbissbuden des frühen 19. Jahrhunderts, wo Fleckkocherinnen die Arbeiter versorgten.152 In den USA wurden sie zum Ausdruck des rationalisierten Essens, bei dem «Zeit […] alles und Geschmack […] nichts [ist]».153 Entstanden ist der Begriff des Fastfoods in den USA in den 1950er-Jahren mit dem Aufkommen der amerikanischen Burgerketten, doch auch hier könnten bereits im 19. Jahrhundert erste Anzeichen des «schnellen Essens» gefunden werden, als die Mahlzeit zunehmend zu einer Unterbrechung der Bewegung, der Reise, der Arbeit wurde.154

      1950 mag deshalb die Schnellküche in Europa noch nicht (als amerikanisch) wahrgenommen worden sein, doch in der Folge wurde sie in der Form des Fastfoods zu einem immer wichtigeren Attribut von «amerikanisch». Wirz ist sogar der Ansicht:

      «Die beste und schnellste Einführung in die amerikanische Nachkriegskultur erhält jedenfalls noch immer, wer mit dem Auto bei einem Drive-thru-Restaurant vorfährt – ob morgens oder mittags, ob tags oder nachts spielt keine Rolle – und einen Cheesburger mit Pommes frittes und einem Süssgetränk ordert, ein Milchschake vielleicht, das nach Erdbeeraroma schmeckt.»155

      Auch wenn die Menschen der 1950er- und 1960er-Jahre womöglich (noch) nicht diesem Bild der amerikanischen Essgewohnheiten und des American way of life folgten, so werden daran aber Aspekte des amerikanischen Ernährungsstils deutlich, die sich bereits in der Mitte des Jahrhunderts herausbildeten: erstens die Vorliebe für kalorienreiche Menüs mit viel Fleisch, Fett und Zucker. Der Eiweissverbrauch blieb zwar konstant hoch, jedoch assen die Amerikaner am Ende der 1960er-Jahre fast 30 Prozent mehr Fett als ihre Grosseltern und reichlich Zucker.156

      Zweitens das Phänomen der Restaurantketten mit ihren immer gleichen, simplen Menüs und dem Versprechen der gleichbleibenden Qualität. Diese Restaurantketten trugen nicht nur zur Vereinheitlichung und zur Herausbildung einer amerikanischen Küche bei, sie sorgen mit ihren identischen Speisekarten, den immer gleichen Einrichtungen und Dienstleistungen auch dafür, dass sich die Amerikanerinnen und Amerikaner überall, wo sie in ihrem riesigen Land hinkommen, zu Hause fühlen – egal wie verschieden das Klima, die Topografie, die Menschen sind. Darüber hinaus steht das Kettenprinzip, ähnlich wie die Schnellküche, für einen hohen Grad an Rationalisierung, die in der Standardisierung des Angebots sowie in der Selbstbedienung zum Ausdruck kommt. Anders als vielleicht bei den frühen Formen des Fastfoods wurden in Europa Restaurationsformen mit Selbstbedienung als typisch amerikanisch wahrgenommen und übernommen.157

      Sehr amerikanisch ist drittens auch die im Zitat von Wirz beschriebene Beziehung zwischen Massenmotorisierung und Ernährung. Bereits in der Zwischenkriegszeit setzt sich in den USA das Auto als Massenverkehrsmittel durch. 1923 besass schon jede zweite Familie ein Auto, beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gab es bereits eine beträchtliche Anzahl Familien, die über zwei oder drei Autos verfügten, sodass rein statistisch von einer Vollmotorisierung gesprochen werden kann.158 Diese rasante Entwicklung übertrug sich auch auf die Mahlzeit-Gewohnheiten. Zunächst entstanden Restaurants, die das Essen statt an einen Tisch ans Auto servierten oder bei denen man direkt mit dem Auto zur Essensausgabe fahren konnte, sogenannte Drive-ins. Später entwickelten sich daraus die Drive-thrus, die das Fastfood durchs Autofenster servieren. Dine and Drive nennt sich dieses Prinzip. Heute werde bereits jedes sechste Essen im Auto verzehrt, schreibt König.159

      Als amerikanisch interpretiert wurde schliesslich bereits in der Nachkriegszeit auch eine ganze Reihe von Nahrungsmitteln und Marken – allen voran Coca-Cola, das während und nach dem Zweiten Weltkrieg durch die GIs in Europa Verbreitung fand und zum eigentlichen Symbol der modernen Lebensweise und der amerikanischen Kultur und Macht auf dem ganzen Globus avancierte. Doch auch die Ketchup-Firma Heinz, Kellogg mit seinen Cornflakes, Schokoladenriegel wie Mars, Snickers und Milky Way wurden im Verlauf der 1950er- und 1960er-Jahre zu Symbolen für den American way of life. Typischerweise wurden auch jene Nahrungsmittel als amerikanisch angesehen, die sich in den USA einfach schneller durchgesetzt hatten.

      Tiefkühl- und Büchsennahrung fiel anfänglich in diese Kategorie.160 In einem «Brief aus Amerika an meine Mutter» beschreibt Paul Rothenhäusler in der Annabelle, wie die Amerikaner verschiedene Nahrungsmittel in einem «Deep-freezer» monatelang lagerten: «Du weisst, dass man heute in Amerika neben einem Kühlschrank noch einen ‹Deep-freezer› hat. In ihm ruht der Fleisch- und Fettvorrat, sowie tiefgekühlte Früchte und Gemüse für Monate, alles steinhart gefroren. […] Bevor man Früchte essen will (ca. 24 Stunden vorher), legt man sie vom ‹Deep-freezer› in den Kühlschrank, damit der ‹Stein› sanft wird.»161

      Auch was die Mahlzeiten anbelangt, entstand nach dem Zweiten Weltkrieg eine kollektive Vorstellung davon, wie sich die Amerikanerinnen und Amerikaner ernähren würden. Diese Vorstellung entsprang hauptsächlich der Berichterstattung in den Medien. In der Annabelle wird beispielsweise ein Mittagessen einer jungen, berufstätigen Frau beschrieben:

      «Ihr Mittagessen nimmt sie im nächsten ‹drugstore› ein – auf einem Schemel am langen Tisch hockend. Es besteht unweigerlich aus einer Tasse Kaffee – dazu ein dünnes Sandwich, eventuell ein Stück Kuchen – oder ein Eiscream oder ein Orangensaft. Gesamtpreis: 25 bis 50 cents. Figur und Portemonnaie gestatten keine grösseren Extravaganzen.»162

      Das Abendessen – so wird es an einer anderen Stelle beschrieben – besteht aus Tomatensaft, einem Steak oder Chops, Salat, einem Gemüse und einem Dessert. Dazu wird ein grosses Glas frische Milch getrunken.163

      Wie sah nun aber das eingangs erwähnte amerikanische Menü aus, das die Annabelle-Korrespondentin «hie und dort» erleben durfte? Zur Vorspeise gab es einen Shrimp Porcupine (einen mit Crevetten gespickten Kabiskopf), dazu einen Old Fashioned, einen Cocktail aus Whisky, Angostura, Zitronen- und Orangenscheiben sowie einer Menge Eis. Anschliessend wurde Veal Casserole serviert, bei dem Kalbsplätzli mit verschiedenen Gemüsezutaten und Bechamelsauce so lange im Ofen gebacken werden, bis «das Fleisch auseinanderfällt». Dazu gab es Carroting, das dem Rezept nach einem Karotten-Soufflé ähnelt, sowie «Fruitsalat» [sic]. Die Korrespondentin bemerkt dazu: «Wird nicht als Dessert, sondern zum Hauptgang serviert.» Begleitet wird dieser Hauptgang zudem von Biskuits, die anstelle von Brot zu «jede[r] gute[n] Mahlzeit im Westen» gehörten. Serviert werden die Biskuits heiss, und gegessen werden sie, in dem sie halbiert, mit viel Butter und je nach Geschmack auch mit Konfitüre bestrichen und wieder zusammengeklappt werden. Zum Dessert schliesslich werden Butterscotch Cream und Peanutbutter Cookies gereicht. «Und nun viel Vergnügen und guten Appetit.»164