Eva von Wyl

Ready to Eat


Скачать книгу

Aspekte ihrer Ernährung als «amerikanisch», als wir dies aus einer europäischen Perspektive tun. Möglicherweise hat sich auch das Bild im Lauf der Zeit verändert. Was verstehen die Menschen im Jahr 1948 unter «amerikanischer Kost», was wird 1960 als typisch amerikanisch empfunden, und wie äussern sich die amerikanischen Besonderheiten heute? Schliesslich ist es bei der Analyse amerikanischer Essgewohnheiten auch wichtig, sich ins Bewusstsein zu rufen, dass es «amerikanisch» an und für sich gar nicht gibt, sondern dass sich diese Eigenschaft aus unterschiedlichen regionalen, kulturellen, ethnischen Gewohnheiten und Besonderheiten zusammensetzt. Das Einwanderungsland USA zeichnet sich gerade in Bezug auf die Ernährung mitunter durch seine multikulturellen Einflüsse aus, die jedoch – und das ist faszinierend – auf irgendeine Art und Weise amerikanisiert und damit popularisiert und standardisiert werden. Ganz im Sinn von Peter Burkes Theorie der Transkulturation141 werden nach dem Motto «von allem das Beste» aus allen möglichen Herkunftsländern Gerichte und Zubereitungsarten aufgenommen, neu interpretiert und den eigenen Bedürfnissen angepasst. Albert Wirz erklärt diese Adaption anhand von Beispielen: «Aus den Rindfleischbrätlingen jüdischer Einwanderer wird der Hamburger, aus der Pizza, einer kargen süditalienischen Armenspeise, die fetttriefende, amerikanische Pizza mit Tomaten, Wurst und fadenziehendem Käse – je mehr, desto besser –, und aus dem Pariser Croissant wird ein üppiges, fettes Sandwich.»142

image

      Abb. 5: «Weshalb es Hamburger heisst? Wahrscheinlich weil diese Spezialität in einem alten Meerhafen erfunden worden ist, wo man ja gern rassige Sachen hat», spekuliert ein Inserat der Thomi & Frank AG von 1955. Tatsächlich stammt der Hamburger von den Rindfleischbrätlingen jüdischer Einwanderer ab und ist damit Sinnbild für eine ganze Reihe von amerikanischen Gerichten, die nach dem Prinzip «Von allem das Beste» die kulinarischen Einflüsse der verschiedenen Einwanderergruppen widerspiegeln.

      Die Vereinheitlichung und Assimilation der Esskultur setzte, wie oben gezeigt, nach der Jahrhundertwende ein, angetrieben durch die aufstrebende Nahrungsmittelindustrie sowie durch das Aufkommen von Restaurant- und Ladenketten. Dieser Prozess wurde mitunter auch als «Druck» empfunden. Denn obwohl sich die USA als stolze Multikulti-Nation geben, so ist gleichzeitig zu beobachten, wie wichtig es ist, sich möglichst nicht von den anderen zu unterscheiden und sich möglichst rasch ins amerikanische Konzept einzufügen. Die amerikanischen Essgewohnheiten sind daher nicht als eine einheitliche, nationale Ernährungskultur zu sehen, sondern vielmehr als Schmelztiegel unterschiedlichster, von Kultur, Geschlecht, Alter, Klasse, Schicht und Lebensstilen abhängiger Gewohnheiten, die sich irgendwo zu einem gemeinsamen Nenner finden. Albert Wirz plädiert für den Begriff «salad bowl». Das Bild vom Schmelztiegel habe für die amerikanische Gesellschaft ausgedient, argumentiert er. Geht man jedoch, wie hier, von der Vorstellung aus, dass all jene ethnisch-kulturellen und regionalen Besonderheiten auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden, sprich neu interpretiert, an die eigenen Bedürfnisse angepasst und damit amerikanisiert werden, so passt die Metapher des Schmelztiegels recht gut.143 Und diesen gemeinsamen Nenner gilt es herauszukristallisieren, denn er wird von aussen – und möglicherweise auch von innen – als «amerikanisch» interpretiert. Wir dürfen dabei aber nicht vergessen, dass solche gemeinsamen Nenner oft auf Stereotypen beruhen, auf kollektiven, generalisierten und vereinfachten Vorstellungen, deren man sich bedient, um komplexe Sachverhalte oder Eigenschaften zu erklären und zu verstehen.144 Die vorliegende Studie interessiert sich für ebensolche Stereotype. Sie hat nicht zum Ziel, die «wahren» amerikanischen Essgewohnheiten zu untersuchen, sondern das Bild, das man sich in der Schweiz und auf dem europäischen Kontinent von der amerikanischen Esskultur machte. Denn diese kollektiven Vorstellungen bilden den Orientierungs- und Interpretationshorizont, an den sich die Menschen in der Nachkriegszeit hielten, wenn sie auf ihren Studienreisen durch Amerika nach neuen Ideen suchten, wenn sie ihrem amerikanischen Konsumleitbild folgten oder auch wenn sie die Amerikanisierung der Kultur, der Lebensweise und der Essgewohnheiten kritisierten.

      Weil Stereotype immer auch an einen zeitlichen Kontext gebunden sind, werden zeitgenössische Stimmen in die Analyse einbezogen. Aus heutiger Sicht assoziieren wir mit amerikanischen Essgewohnheiten sofort Produkte wie Coca-Cola, Pepsi-Cola, aber auch die Burger mit ihren dazugehörigen Fastfood-Ketten von McDonalds bis Burger King sowie deren Drive-thru- beziehungsweise Drive-in-Varianten. Neuerdings prägen auch Starbucks und der Coffee to go in seinen zahlreichen Variationen unser Bild amerikanischer Essgewohnheiten. Amerikanisch sind für uns aber auch die riesigen, kalorienreichen Portionen mit ihren Mengenbezeichnungen large, extra large und venti sowie die daraus resultierenden Kleider- und Körpergrössen – so zumindest unsere Assoziationskette. Doch dies umschreibt bereits ein «Post-Nachkriegszeit-Amerikanisch»: McDonalds kommt in den 1970er-Jahren nach Europa, in den späten 1970er-Jahren in die Schweiz, Burger King folgt wenig später. Starbucks schliesslich markiert den Übergang zum neuen Jahrtausend. Gegründet 1971 in Seattle, öffnet das Unternehmen 2001 seine erste kontinentaleuropäische Filiale am Zürcher Central.145

      Wer heute den amerikanischen Westen, insbesondere Kalifornien, oder den Nordosten bereist, entdeckt bald ein ganz anderes Amerika beziehungsweise ein ganz anderes «Amerikanisch» als jenes des Fastfoods, der Wegwerfmentalität und der ungesunden Portionen und Gewohnheiten. Die erwähnten Landesteile geben sich ökologisch, natürlich, nachhaltig, verantwortungsbewusst, und diese Attitüde manifestiert sich in Unternehmen wie Whole Foods, einer Ladenkette, die sich auf biologische und natürliche Produkte spezialisiert hat. Gleichzeitig achten die Menschen hier darauf, sich körperlich fit zu halten und sich nach ständig wechselnden Theorien und Anleitungen «gesund» zu ernähren. Bereist man hingegen südliche und zentrale Bundesstaaten, so finden wir uns viel schneller in den gängigen Klischees über das Land des Überflusses und der unbeschränkten Möglichkeiten bestätigt. Viele Leute sind nicht nur übergewichtig, sie sind riesig – sowohl in der Höhe als auch in der Breite. Läden wie Whole Foods findet man kaum, dafür jede Menge Fastfood-Restaurants.

      Die Vorstellung von dem, was «amerikanisch» sei, war um 1950 eindeutig anders, wobei es durchaus auch Gemeinsamkeiten zu heutigen Stereotypen gibt. Die Annabelle zeigte sich zu dieser Zeit im Allgemeinen sehr Amerika-interessiert. Wechselnde Korrespondentinnen berichteten regelmässig über den American way of life, wie sie ihn bei ihrem Aufenthalt in den USA erlebten. Sie vergleichen Schweizer Frauen mit den Amerikanerinnen, erzählen von deren Problemen, berichten aus dem Büroalltag und nicht zuletzt auch über die amerikanischen Essgewohnheiten. Im Mai 1949 schildert eine von ihnen ihre Erlebnisse mit der amerikanischen Küche und verrät die Rezepte der Speisen und Getränke eines umfangreichen Menüs, wie sie es «hie und dort habe erfahren dürfen». Einleitend heisst es:

      «Nun habe ich die Amerikaner wieder von einer anderen Seite kennen gelernt, von der kulinarischen. Und sie schneidet gar nicht so schlecht ab, auch wenn sie selbst die europäische Küche als ‹super› betrachtet. Was mich am meisten erstaunte, war die Art, in der sie Süsses und Gesalzenes miteinander servieren. Zum Beispiel gebratenen Schinken und Apfelpüree, oder Speck und Eier und dazu (nicht etwa nacheinander) Toast mit einem Haufen Konfitüre darauf. Aber man gewöhnt sich schnell daran.»146

      Das Zitat verrät den Lesern, dass die Korrespondentin überrascht war von der amerikanischen Küche. Sie zeigt sich erstaunt darüber, dass ihr die ungewohnte Küche schmeckt. Zudem äussert sie sich überrascht über die Kombination von Süssem und Salzigem und verrät uns damit gleichzeitig einen typischen amerikanischen Ernährungsstil, nämlich ebendiese Kombination von süssen und salzigen Speisen. Zudem schwingt in ihrer Beschreibung eine besondere Vorliebe für viel Süsses mit.

      In den USA weit verbreitete Süss-Salzig-Kombinationen sind auch Erdnussbutter und Konfitüre oder Hamburger, kombiniert mit Milchshake. Was von uns Europäern womöglich als eine «komische» Kombination empfunden wird, ist für die Amerikaner alltäglich. Überhaupt scheinen die amerikanische Küche und die Essgewohnheiten aus zahlreichen eigentümlichen Kombinationen, aus einem Mischmasch unterschiedlichster Stilrichtungen zu bestehen, die das Potpourri der verschiedenen Ethnien und Kulturen verkörpern. Jedes Essen sei eine «symbolische Weltreise, die ganze Welt ein Küchenschrank», hält Wirz fest, und alles werde mit Käse zusammen- und überbacken147 – als ob mit Käse auch noch die letzten ethnischen