werden konnte. Eine wichtige Erkenntnis dabei ist, dass die Kühltechnik nicht in erster Linie die Essgewohnheiten veränderte, sondern vielmehr die Einkaufsgewohnheiten.127 Denn der tägliche und manchmal sogar täglich mehrmalige Einkauf bei den verschiedenen Lebensmittelgeschäften wurde in der zweiten Jahrhunderthälfte zunehmend von einem wöchentlichen Grosseinkauf im Supermarkt abgelöst.
Tiefkühlprodukte wurden hierzulande verhältnismässig spät zum Massenkonsumgut. Zwar waren seit 1942 die ersten Nahrungsmittel in Tiefkühlqualität erhältlich,128 den Durchbruch schafften sie aber erst in den 1960er-Jahren. Dies war vor allem auf den hohen technischen Aufwand beim Erhalt der Kühlkette zurückzuführen. Eine Bedingung, die gerade in den privaten Haushalten erst allmählich erfüllt werden konnte. In Tiefkühlqualität wurden zunächst Fisch, aber auch Gemüse, Obst und Glacen angeboten. Bald schon waren jedoch auch verschiedene Fertiggerichte wie Pizza und Fischstäbchen im Angebot. Mit der Tiefkühltechnik wurde die Abhängigkeit von Jahreszeiten und regionalen Bedingungen endgültig aufgehoben. Frische Produkte waren nun ganzjährig erhältlich. Interessant ist, dass bei dieser Technik für einmal nicht die Städte die Vorreiter waren, sondern die Landbevölkerung, die bereits in den 1950er-Jahren in Gemeinschaftsgefrieranlagen das Tiefkühlen als Konservierungsmethode für sich entdeckte. Hier konnte sie die Ernte lagern und das Fleisch aufbewahren.129
Wie Arne Andersen aufzeigt, war die Vervielfältigung des Warenangebots im Bereich der Lebensmittel in Zusammenhang mit der zunehmenden Globalisierung immens. Während beispielsweise das Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit in seiner Studie zum Landesindex der Konsumentenpreise im Jahr 1950 fünf verschiedene Obstsorten (Äpfel süss und sauer, Tafel- und Kochbirnen sowie Kirschen) in die Berechnungen miteinbezieht (der übrige Obstkonsum sei unbedeutend), so sind es 1977 bereits 22 verschiedene, darunter insbesondere verschiedene Südfrüchte. Beim Gemüse verhält es sich ähnlich: 1950 besteht die Berechnungsgrundlage in weissen und gelben Bohnen, Spinat, Weisskabis, Karotten, Zwiebeln und Kopfsalat, 1977 kommen rund 20 weitere dazu.130 Auch anhand anderer Beispiele lässt sich zeigen, wie die Auswahl zu einem Merkmal der modernen Ernährung geworden ist, etwa beim Sortiment im Einkaufsladen: Nicht nur weisen moderne Supermärkte ein viel grösseres Angebot an Produkten auf als etwa ein kleiner, traditioneller Quartier- oder Dorfladen, bei dem die Lebensmittel noch vor Ort durch eine Bedienung abgewogen und verkauft wurden. Auch innerhalb einer Produktgruppe hat durch zahlreiche Markenprodukte eine Differenzierung und Erweiterung des Sortiments stattgefunden. Hinzu kommen zahlreiche Industrieprodukte wie Konserven, die vorerst als Luxusprodukte verkauft wurden und erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem eigentlichen Massenprodukt werden.
Allgemein lässt sich festhalten, dass sich in den 1950er- und 1960er-Jahren vor dem Hintergrund der steigenden Kaufkraft und der Wohlstandsdemokratisierung die Konsumpräferenzen der westeuropäischen Bevölkerung allgemein und der Schweizerinnen und Schweizer im Besonderen zugunsten hochpreisiger sowie produktions- und transportaufwendigerer Produkte verschoben haben. Der Verzehr von preiswerten, stärkehaltigen Nahrungsmitteln wie Mehl- und Getreideprodukten sowie Kartoffeln sank. Stattdessen wurden nun mehr Fleischerzeugnisse, aber auch Käse, Schokolade und Südfrüchte konsumiert131 – zumeist in verpackungsintensiver Form.
Dieser Präferenzwandel bestätigt sich, wenn man durch die Illustrierten der damaligen Zeit blättert: Belegte Brötchen werden nun genauso aktuell wie liebevoll mit Cornichons, Spargeln, Silberzwiebeln und Eiern dekorierte kalte Platten, Toast Hawaii, Riz Casimir und ähnlich exotisch klingende Gerichte. Für festliche Menüs schlägt die Annabelle ihren Leserinnen etwa «falsche Austern» aus Kalbsmilke und Kalbshirn, einen Mixed grill mit halbierten Tomaten, Kalbs- und Schweinefilet, Hammelkoteletts, Rindsfiletsteaks und Chipolatawürstchen und einen «Diplomatenpudding» vor. Eine andere Variante wäre auch Hammelrücken mit Sellerie-Apfel-Salat, garniert mit Eier- und Tomatenscheiben und zum Dessert Ananas nach Russenart. Für die Kinder soll es eine «verzierte Sulze» mit Cornichonsfächern, Sardellenröllchen, Spargelspitzen, Krebsschwänzen und Eierscheiben geben, dazu einen «Amerikanischen Salat» mit Ananas aus der Büchse, Feigen, Datteln und Traubenbeeren.132
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden darüber hinaus Nahrungsmittelimporte aus der ganzen Welt immer bedeutsamer. Besonders beim Obst spielten die Importe, insbesondere aus Übersee, eine grosse Rolle. 1977 stammten sogar schon bis zu zwei Drittel des verzehr ten Obsts aus dem Ausland.133 Mit der Zunahme der globalen Früchteversorgung, so stellt Wolfgang König fest, war aber eine Reduktion des heimischen Sortenangebots verbunden. In Deutschland zum Beispiel schrumpfte die Zahl der Apfelsorten im Lauf eines Jahrhunderts von rund 1000 auf gerade mal 10.134 Dieser Entwicklung wird seit einigen Jahren jedoch vermehrt wieder entgegengewirkt. Stiftungen und Labels wie ProSpecieRara haben sich zum Ziel gesetzt, traditionelle, lokale Sorten von Kulturpflanzen (und Nutztieren) vor dem Aussterben zu bewahren und die Öffentlichkeit zu sensibilisieren. Aufwind erfahren sie unter anderem durch Partnerschaften mit Grossverteilern.135
Auch beim Diskurs über die «richtige» Volksernährung ist in der Nachkriegszeit ein Richtungswechsel festzustellen. Wie in den USA wurden die Debatten nun nicht mehr primär von Ernährungsreformern und -wissenschaftlern geführt, sondern zunehmend auch durch die Industrie bestimmt. Ferner ist festzustellen, dass sich auch im deutschsprachigen Raum eine Veränderung des Sprachgebrauchs in Bezug auf unzureichende Ernährung bemerkbar macht. Statt von Unterernährung und Unterversorgung spricht man nun von Über- und Fehlernährung.136 Daraus lässt sich schliessen, dass nun, vor dem Hintergrund des Prosperitäts- und Überflusszeitalters, nicht mehr die Nahrungsmittelversorgung an sich als relevant erachtet wird, sondern vielmehr die Qualität und Ausgewogenheit der Ernährung. Anders ausgedrückt: Nicht mehr die Unterernährung aufgrund fehlender Nahrung wird jetzt als gesundheitliches Problem erkannt, sondern zunehmend auch die Über- und Fehlernährung. Albert Wirz bringt diesen Wandel auf den Punkt: «Die Wonnen des Wohlstands und die Sorgen des Masshaltens haben die Gefahren des Mangels abgelöst.»137
Der kritische Diskurs über Ernährung und Überfluss setzte bereits kurz nach Kriegsende ein. Ausdrücke wie «Überfütterung», «Ernährungssünden», «zu gute Ernährung» sowie «falsche Ernährung» fanden Eingang in die ernährungswissenschaftliche Debatte.138 Neu am Diskurs über die Volksernährung war auch, dass er im Unterschied zu früher nicht mehr primär auf die Ernährungsweise bestimmter Gesellschaftsschichten (etwa der Unter- und Arbeiterschicht) ausgerichtet war, sondern sich an ein sehr viel breiteres Publikum richtete. Denn, so begründet Tanner, «die Wachstumsgesellschaft der Nachkriegszeit war eine Gesellschaft des kollektiven sozialen Aufstiegs».139
Doch obwohl sich der wissenschaftliche Diskurs über die Risiken der Über- und Fehlernährung im Verlauf der 1950er-Jahre zu einem politischen und öffentlichen Diskurs ausdehnte, zeigte er insgesamt kaum Auswirkungen auf die Essgewohnheiten der Gesamtbevölkerung.140 Lag dies daran, dass die Notwendigkeit zur Veränderung der Essmuster angesichts der Abwesenheit von (bisher dominierenden Problemen) Hunger und existenzbedrohendem Mangel schlicht zu gering erschien? Oder hängt es damit zusammen, dass die Menschen die neu gewonnenen Konsummöglichkeiten nicht wieder aufgeben wollten? Womöglich liegen die Gründe irgendwo dazwischen.
Die beschriebene, neue internationale Verflechtung und die zunehmende (Ferien-)Mobilität der Bevölkerung brachten auch Globalisierung und Internationalisierung der Essgewohnheiten mit sich, die hierzulande zunächst insbesondere als «Amerikanisierung» empfunden wurden. Die USA, die bereits in der Zwischenkriegszeit zu einer Wohlstandsund Konsumgesellschaft heranwuchsen, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer «Chiffre für die Moderne», die es nachzuahmen galt. Zudem witterten die Amerikaner auf dem europäischen Kontinent auch eine gewichtige Chance für die Absatzerweiterung, die durch den Marshallplan auch staatlich gefördert wurde. Beides führte dazu, dass sich die schweizerischen Essgewohnheiten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer mehr dem amerikanischen Ernährungsstil annäherten.
Was sind amerikanische Essgewohnheiten?
Was sind überhaupt amerikanische Essgewohnheiten, und wodurch zeichnet sich ein amerikanischer Ernährungsstil aus? Diese Fragen sind zentral, wenn man über die Amerikanisierung der Essgewohnheiten in der Schweiz