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Geist & Leben 2/2020


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Wort für das Ziel, um dessen willen man in die Wüste geht. Ruhe ist oft der Inbegriff für die Verheißung, die auf dem mönchischen Weg liegt: „Habe die Gesinnung eines Fremdlings“, sagt Poimen, „und du wirst Ruhe haben.“ (II,21) Ruhe ist dann in der Wüste ein Wort für die Lösung, die man in inneren Kämpfen und in Auseinandersetzung mit den Mitmenschen erreicht. „Und er hatte Ruhe“ wirkt geradezu wie eine Formel für das Erreichen solch einer Lösung (z.B. I 102; I 277). Die kleinen Geschichten der Apophtegmata schnüren ja oft in großer Verknappung einen Konflikt-Knoten; löst er sich, bedeutet dies Anapausis. Das deutsche Wort Lösung ist deshalb für diesen Wortgebrauch sehr passend12: Die Anapausis bedeutet Gelöstheit, Loslassen – also vielleicht gar Er-lösung?

      Zu fragen ist, inwieweit die Wüstenväter der christlichen Lehre von Rechtfertigung und Gnade gerecht werden, oder nicht doch eine Art Methodik der Selbsterlösung, der spirituellen „Anthropotechnik“ betreiben.13 Zweifellos sind die Wüstenväter in den Augen des Dogmatikers überwiegend „Pelagianer“: Sie glauben wohl an die Vergebung Gottes, aber dafür muss der Mensch erst einmal einen Anfang der Buße setzen und dann den guten Weg weitergehen. Das theologische Problem dürfte hier allerdings nicht in einer falschen Theologie, sondern in der Verweigerung gegenüber jeder nur theoretisch und spekulativ erscheinenden Theologie liegen. Die Wüstenväter sind Praktiker, sind geradezu Empiriker der Selbsterfahrung. Sie können mit der Verkündigung einer bedingungslosen und zuvorkommenden Gnade nichts anfangen, wenn es um die berühmte Grundfrage der Apophtegmata geht: „Was soll ich tun?“ Denn auch wenn ich theologisch davon ausgehe, dass schon diese Frage eine Frage aus Gnade ist, ändert das nichts daran, dass ich sie praktisch beantworten muss.

      Das bedeutet keineswegs, dass die Wüstenväter nicht um die Gnade wissen, und damit auch um die Erlösung, die man nicht selbst erwirken kann. Schließlich bedeutet „die Suche nach αναπαυσις im Grunde nichts anderes als die Suche nach Gott selbst“14, also nach dem schlechthin Unverfügbaren. In einer ungewöhnlich langen Gesprächseinheit mit Abbas Moses wird das regelrecht durchgespielt: Gottes Unverfügbarkeit und die menschliche Bereitung für sie. Auf die Frage eines Bruders: „Was hilft dem Menschen in jeder Plage?“, lautet dessen Antwort: „Gott ist die Hilfe.“ (I 196) Die dazu nötigen Haltungen sind Demut, Beweinen der eigenen Sünde, Gebet – und dann „hat er schnell Ruhe“ (ebd.). D.h. doch: Dieser unserer Öffnung zu ihm antwortet Gott mit seiner Hilfe, das Ergebnis ist dann die Anapausis. Doch das Gespräch nimmt noch eine zweite Schleife, denn der Bruder fragt nun über den Umgang mit den Fehlern untereinander. Die Antwort des Moses schärft das Evangelium ein: Nicht richten, niemand verachten, um dann in großer Feierlichkeit zu schließen: „Denn das ist der Friede. Tröste dich damit: Nur kurze Zeit ist die Mühe, ewig aber die Ruhe, durch die Gnade des Wortes Gottes. Amen.“ (I 197)

      Hier kommt mit der Gnade, dem Frieden und der Ruhe eine eschatologische Qualität ins Spiel – es ist sogar von „ewiger“ Ruhe die Rede. Tatsächlich steht in der gelungenen mönchischen Existenz, zumindest im Ideal, die Zeit gleichsam still: Jahre und Jahrzehnte vergehen ohne äußerliche Veränderung, wie stillgestellt. Die Erfahrung der Ruhe ist „mit einem neuen Verhältnis zur Zeit verbunden“15. In der Anapausis wird so etwas wie Erlösung wirklich erfahrbar. Gewiss, die Anapausis steht unter eschatologischem Vorbehalt. Im Glauben der Wüstenväter wird sie erst in der Vollendung, jenseits des Todes endgültig realisiert. Die Wüstenväter glauben nicht an ein endgültiges Ende von Mühe und Versuchung in diesem Leben. Dennoch ist das, was sich erst im Reich Gottes realisiert, eine Erfahrung, die man in der Anapausis schon in diesem Leben machen kann.

      In diesem Willen zur Erfahrung steckt etwas, dass ich das utopische Moment bei den Wüstenvätern nennen möchte. Es ist die Utopie des biblischen Sabbats. Der Philosoph Giorgio Agamben hat herausgearbeitet, dass die christliche Theologie diesen Sabbat, diese Ruhe Gottes (Gen 1), stets als letztes Ziel der Schöpfung festgehalten hat, obwohl sie in ihrer Vorsehungslehre und Heilsgeschichts-Theologie Gott als tätig in der Welt, ja geradezu als Regenten einer großen Heils-Maschine darstellt. Dennoch hat sie den Menschen letztlich als kontemplativ, als zur Ruhe bestimmt verstanden. Er sei das „sabbatische Tier par excellence“16. Diese sabbatliche Existenz ist das „messianische Leben“, auf das die biblischen Verheißungen deuten, und somit ist „Untätigkeit (…) die messianische Tätigkeit per excellence“17. In diesem Paradox der höchst tätigen, der kontemplativen Untätigkeit sieht Agamben ein utopisches Erbe des Abendlandes, indem hier der Mensch jenseits seiner Werke, seiner Arbeit, seiner Funktionen und Ergebnisse gedacht wird: „Die eigentliche menschliche Praxis ist die Sabbatruhe (…). Insofern sind Kontemplation und Untätigkeit metaphysische Operatoren der Anthropogenese.“18

      Gewiss hat die christliche Tradition den vollendeten Sabbat und damit auch die vollendete Kontemplation des Menschen, seine „beseligende Gottesschau“, stets ins Jenseits verlegt. Aber diese Anthropologie – zumal sie gespeist blieb von den messianischen biblischen Verheißungen, die keineswegs nur jenseitig reden – hat doch eine utopische Kraft für diese Welt: Sie begründet die Würde des Menschen jenseits seiner Nützlichkeit. Sie macht die Selbst-Erfahrung gelungenen Menschseins fest in einer Kontemplation, einer Ruhe, die nichts mehr will, als zu sein. Ist es nicht genau dies, wonach die Wüstenväter in ihrer radikalen Kur der Vereinfachung des Lebens streben?

      Sich auf diese Erfahrung der Ruhe hinzubewegen, gilt alle asketische und spirituelle Mühe der Mönche, was ihrem Weg tatsächlich eine große Angestrengtheit, einen mitunter fast verzweifelten Ernst verleiht. So erzählt Abbas Petros: Als er den kranken Abbas Hesaias besucht, findet er diesen von Mühe gequält, er findet ihn in Todesangst. „Die Furcht vor jener sehr dunklen Stunde hält mich fest“, bekennt ihm Hesaias: „(…) wenn ich (vielleicht) vom Angesicht Gottes weggerissen werde. Dann gibt es niemanden mehr, der mich erhört, und auch keine Aussicht auf Ruhe.“ (III 21) Solche Höllenangst ist die große Schattenseite einer Spiritualität der Mühe um Vollkommenheit, so wie die Verzweiflung schon immer als Schatten der Utopie folgte. Denn Hesaias Angst entsteht nicht abstrakt aus der Drohung des Jüngsten Gerichts; sie entsteht vielmehr aus Angst vor jener (Todes-)Stunde, in der der Asket sich nicht mehr um die Erfahrung der Ruhe mühen kann, in der er sich Gott ganz überlassen muss – könnte da nicht die letzte Gottverlassenheit drohen?

      Ich ahne, dass diese dunkle Seite die Geschichte aller asketischen und mystischen Spiritualität, jedenfalls im Christentum, begleitet. Sie entspringt gerade der utopischen Kraft, etwas von Erlösung realisieren, erfahren zu wollen, etwas vom „engelgleichen Leben“ schon auf die Erde zu holen. Doch andererseits: Wäre ein Glaube ohne solche utopische Kraft nicht erstarrt zu einem reinen Bewusstseinsinhalt, einem „glauben, dass“ und „glauben an“?

      Positiv gewendet: Bezieht der christliche Erlösungs-Komplex seine Kraft nicht gerade aus der Verbindung des utopischen mit dem eschatologischen Moment, d.h. aus der Verbindung der tätigen Sehnsucht nach Erfahrbarkeit und dem Glauben, ja Wissen um das Jenseits aller Erfahrung? Ausgerechnet von jenem Abbas Hesaias, den wir gerade in seiner Todesangst erlebt haben, ist auch dieses umfassende Wort überliefert: „Die Liebe ist das Flüstern zu Gott verbunden mit unablässigen Danksagungen. Gott freut sich über die Dankbarkeit. Sie ist ein Zeichen der Ruhe.“ (III 70)

      1 So der Untertitel des Buches von Hans C. Zander über die Wüstenväter (ders., Als die Religion noch nicht langweilig war. Die Geschichte der Wüstenväter. Köln 2004).

      2 Ich bin kein Philologe und kein Spezialist für die Alte Kirche, sondern systematischer Theologe mit einem systematischen Frageinteresse. Dankenswerterweise bietet die dreibändige Ausgabe der Apophtegmata Patrum von Erich Schweitzer in der deutschen Übersetzung stets den Hinweis auf den griechischen Originalbegriff bei uneindeutigen Zentral-Worten. So kam ich den hier entwickelten Thesen auf die Spur. Vgl. E. Schweitzer (Hrsg.), Apophtegmata Patrum. Teil I: Das Alphabetikon – Die alphabetisch-anonyme Reihe. Beuron 2012; ders., Apophtegmata Patrum. Teil II: Die Anonyma. Beuron 2012; ders., Apophtegmata Patrum. Teil III: Aus frühen Sammlungen. Beuron 2013. Zitiert werden die Apophtegmata stets aus dieser Ausgabe mit Band- und Seitenangabe.

      3 Erich Schweitzer übersetzt es