Sebastian Holzbrecher

Der Aktionskreis Halle


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nur vage Vermutungen, welche Kandiaten aus der in dieser Form bislang einzigartigen Wahl hervorgegangen waren. Erst jüngste Quellenrecherchen im Nachlass des Paderborner Erzbischofs Lorenz Kardinal Jaeger geben nun zuverlässig Auskunft über die damaligen Vorgänge.

      Auch wenn es offiziell zu keiner Nominierung kam, ergeben sich aus der Quellenlage verschiedene Kandidatenvorschläge. Zunächst sind die drei Professoren des Erfurter Philosophisch-Theologischen Studiums Lothar Ullrich, Franz-Peter Sonntag und Heinz Schürmann zu nennen.373 Sie dürften aufgrund ihrer Bekanntheit und ihrer theologischen Qualifikation ins Gespräch gebracht worden sein. Aussichtsreichster Kandidat unter diesen Dreien war sicher der international renommierte Exeget Heinz Schürmann, der als Paderborner Diözesanpriester selbst dem Magdeburger Presbyterium angehörte. Als Schürmann von seiner inoffiziellen Nominierung durch den Dechanten von Aschersleben Adolf Betz erfuhr374, wandte er sich in einem persönlichen Brief an den Paderborner Erzbischof.375 Schürmann brachte drei Argumente gegen seine Nomination vor: erstens sei er seit 23 Jahren der Seelsorge entzogen und die vielfältigen, vor allem kirchenpolitischen Herausforderungen eines solchen Amtes traute er sich nicht zu.376 Zweitens sei es zwischen 1957 und 1960 zu einem Erpressungsversuch durch das MfS gekommen.377 Schließlich habe er mit Weihbischof Aufderbeck gesprochen. Zusammen sei man zu dem Ergebnis gelangt, dass ein Fortgang aus Erfurt schwierig sei, da mehrere Professoren an der Emeritierungsgrenze stünden. Zudem habe er den Ruf anderer Hochschulen stets abgelehnt, um in Erfurt arbeiten und lehren zu können.378 Die Antwort Kardinal Jaegers bestätigte zwar die aussichtsreiche Nominierung.379 Sie war aber zugleich geeignet, Schürmanns Befürchtungen, Erfurt verlassen zu müssen, weitgehend zu zerstreuen.380 Wenngleich auch andere Kreise des Magdeburger Klerus den Erfurter Neutestamentler favorisiert hatten, war seine Nominierung nicht unumstritten.381

      Ein zweiter Name wurde von verschiedener Seite immer wieder für die Nachfolge Rintelens genannt: Prälat Johannes Braun. Als Leiter des Magdeburger Norbertuswerkes war er nicht nur der Magdeburger und Paderborner Diözesanverwaltung bekannt, er erfreute sich auch unter den Absolventen dieser Einrichtung großer Beliebtheit.382 Aufgrund der örtlich stark gebundenen Tätigkeit im Norbertinum schränkte sich seine Bekanntheit im Presbyterium jedoch auf einen überschaubaren Personenkreis ein. Zu diesem Kreis gehörte auch der Magdeburger Personalreferent und Sekretär des Weihbischofs, Prälat Heinz Jäger.383 In Vorbereitung auf die Wahl des Koadjutors engagierte sich Prälat Jäger offensichtlich besonders für seinen langjährigen Freund und Weggefährten.384 Gegen Jägers Protegé waren zu jener Zeit acht Karikaturen von Pfarrer Theo Mechtenberg in Umlauf gebracht worden, die Prälat Braun in Anspielung auf den gleichnamigen Hersteller von Rasierapparaten persiflierten.385 Mechtenberg wollte nach eigener Aussage durch die Zeichnungen und Verse zur „heilsamen Entkrampfung“386 der Situation beitragen, erreichte aber mit Kommentaren wie „Braun rasiert an allen kritischen Stellen“387 nicht selten das Gegenteil. Aufschlussreiche Informationen über die Nominierung Brauns ergeben sich auch aus dem Nachlass von Kardinal Jaeger. Sowohl der Spiritual des Magdeburger Norbertuswerkes Dieter Lehnert als auch der Magdeburger Pfarrer Heinrich Behrens und nicht zuletzt Friedrich Maria Rintelen selbst warben gegenüber dem Paderborner Erzbischof sowie dem Nuntius für Prälat Braun als neuen Magdeburger Weihbischof und trafen damit offensichtlich auch die Vorstellungen des Paderborner Kirchenfürsten.388 Jaeger selbst kannte Braun seit „seinen Gymnasialjahren in Dortmund“389 und hat ihn bereits am 15. November 1969 gegenüber dem Apostolischen Nuntius als seinen Wunschkandidaten für Rintelens Nachfolge präsentiert.390 Zudem hatte Geistlicher Rat Franz Wiemers aus Winterstein, ein enger Vertrauter391 Jaegers, dem Paderborner Erzbischof nach einem vierwöchigen Aufenthalt im Kommissariat Magdeburg im Dezember 1969 mitgeteilt, dass „Braun am stärksten ins Gespräch gekommen ist als künftiger Kommissar in Magdeburg.“392 Es dürfte daher nicht nur eine nachträgliche Legitimierung darstellen, wenn Erzbischof Jaeger kurz vor der Weihe Brauns bemerkte: „Ich weiß, was er [Braun, SH] für ein edler Mensch, sauberer Charakter und tieffrommer Priester ist. Ich wüsste unter dem Klerus des Kommissariates niemanden, der so viele gute Voraussetzungen mitbrächte für die Verwaltung des bischöflichen Amtes.“393

      Als dritter und wohl nicht minder aussichtsreicher Kandidat neben Professor Schürmann und Prälat Braun wurde der Erfurter Weihbischof gehandelt. Hugo Aufderbeck wurde 1936 zum Paderborner Diözesanpriester geweiht, war seit 1938 Pfarrer in Halle und wirkte von 1948 bis 1962 als Seelsorgeamtsleiter des Kommissariates Magdeburg.394 Über ein Jahrzehnt war er einer der pastoralen Vordenker des Kommissariates und durch die zentrale Tätigkeit überall bekannt. 1962 wurde er zum Fuldaer Auxiliarbischof mit Sitz in Erfurt ernannt. Aufderbeck wurde bereits im Mai 1969, also noch vier Wochen, bevor Weihbischof Rintelen selbst darüber informiert wurde, dass er einen Koadjutor bekommen würde, als möglicher Nachfolger zusammen mit Heinz Schürmann vorgeschlagen.395 Dieser Vorschlag ging nicht auf eventuelle Rücktrittsabsichten Rintelens, sondern auf Kritik an seiner Amtsführung zurück.396 Aufgrund seiner wegweisenden pastoralen Tätigkeit und seiner zahlreichen persönlichen Kontakte ins Kommissariat war Aufderbecks Nominierung keine Überraschung.397 Auch Heinz Schürmann warb vermutlich nicht nur in Paderborn für den ehemaligen Magdeburger Seelsorgeamtsleiter. Aufderbeck traute man es wohl noch am ehesten zu, die Spaltungen im Kommissariat sowie in der Ordinarienkonferenz überbrücken zu können.398 Wieviel Aussicht auf Erfolg dieser Kandidat tatsächlich hatte, kann nun erstmals an bislang unerforschten Quellen belegt werden. Offensichtlich war Hugo Aufderbeck der Wunschkandidat Roms. Dies deutet sich zumindest aus einem Brief des Paderborner Erzbischofs an den Apostolischen Nuntius vom 15. November 1969 an: „Euer Exzellenz teile ich ergebenst mit, dass ich mit Herrn Bischof Bolte, Fulda, gesprochen habe. Er war entsetzt. Trotzdem würde er selbstverständlich nicht nein sagen, wenn der Heilige Stuhl an ihn die Forderung auf Freigabe seines Weihbischofs richten würde.“399 Offensichtlich war die Nominierung Aufderbecks durch Rom keine rein fiktive Option. Andernfalls hätte man kaum den Vorgesetzten Aufderbecks, den aufgrund dieser Anfrage „entsetzten“ Fuldaer Bischof Bolte um eine Stellungnahme ersucht. Dass Hugo Aufderbeck kurz davor stand, neuer Magdeburger Weihbischof zu werden, ergibt sich auch aus den Einlassungen Kardinal Jaegers, die an Deutlichkeit kaum zu überbieten sind: „Ich sage aber noch einmal, so lieb mir dieser Nachfolger wäre, so groß und menschlich schwer tragbar wäre eine solche Forderung für den Betroffenen. Er sollte mit auf die Liste gesetzt werden. Aber andererseits bitte ich, dem Apostolischen Stuhl mitzuteilen, dass man tunlichst eine andere Wahl treffen würde.“400 Dass der Erfurter Weihbischof nach diesem Brief noch eine reale Chance besaß nach Magdeburg transferiert zu werden, selbst wenn er die Wahl des Klerus hätte für sich entscheiden können, darf bezweifelt werden. Ob dies allerdings überhaupt in seinem Interesse gelegen hat, kann anhand von Quellen nicht eruiert werden.

      Nach Wahrnehmung von Willi Verstege und der Hallenser Protestgruppe hatte sich am Vorabend der Wahl im Dezember 1969 der Klerus in drei Fraktionen geteilt: Die erste Gruppe sammelte sich um den Namen Johannes Braun.401 Über die Anhängerzahl wird keine Auskunft gegeben. Eine zweite „kleinere Gruppe erklärte sich außerstande, diese Wahl ernst zu nehmen.“402 Die dritte „große Gruppe“403 „glaubte sich schnell auf einen Kandidaten einigen zu müssen“404 und nominierte deshalb den früheren Magdeburger Seelsorgeamtsleiters Hugo Aufderbeck.405 Aufgrund der Geheimhaltungsklausel wurde das gesamte Ergebnis der Wahl nie veröffentlicht.406 Weihbischof Friedrich Maria Rintelen hatte das Ergebnis der geheimen Wahl nach Paderborn geschickt, aufgrund der Brisanz des Briefes und der DDR-Postkontrolle vermutlich durch einen vertrauenswürdigen Kurier. Ob der Weihbischof die Stimmen alleine ausgezählt hat oder zusammen mit zwei Mitgliedern des Priesterrates, wie von ihm angekündigt407, lässt sich nicht mehr ermitteln. Laut offizieller Stimmauszählung hatten 216 der über 300 wahlberechtigten Priester einen Wahlzettel abgegeben. Platz eins nahm mit 61 Stimmen Prälat Johannes Braun, Platz zwei mit 53 Stimmen Professor Heinz Schürmann und Platz drei mit 51 Stimmen Weihbischof Hugo Aufderbeck ein.408

      2.3.3Intrigen, Manipulationen und Proteste

      Die