Sebastian Holzbrecher

Der Aktionskreis Halle


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Diese Monate waren zugleich durch das basiskirchliche Bemühen bestimmt, die bis dahin favorisierte kirchliche Geheimpolitik in Personalfragen durch öffentliche Meinungsbildungsprozesse zu kontrastieren. Die aus dieser Zeit stammenden Spaltungen und Kontroversen im Kommissariat Magdeburg sollten die gesamte Amtszeit des Nachfolgers von Weihbischof Rintelen prägen.

      Für die Datierung des Anfangs dieser Phase ist ein Schreiben ausschlaggebend, das für erhebliche innerkirchliche Irritationen sorgte. Am 18. Dezember 1969, also wenige Tage nach der Stimmabgabe des Klerus, schrieb Prälat Heinrich Jäger - der zweite Mann im Kommissariat nach Weihbischof Rintelen - einen Brief an den Paderborner Erzbischof Lorenz Jaeger.409 Dieses Schreiben ist als sogenannter „Jäger-Brief“ in die Geschichte eingegangen.410 Darin griff der Prälat in einem polemischen Ton den früheren Magdeburger Seelsorgeamtsleiter und späteren Erfurter Weihbischof Hugo Aufderbeck an. Heinrich Jäger sah Aufderbeck als eigentlichen Promotor und Organisator der Unruhen im Kommissariat Magdeburg. Aufderbeck, der in Rivalität zu Rintelen gestanden habe, soll sich einer „fünften Kolonne“ im Magdeburger Klerus bedient haben, die sich regelmäßig in Erfurt konsultiert und getroffen habe. Zu dieser obskuren Gruppe hätten die Initiatoren der Hallenser Solidartätsgruppe Adolf Brockhoff, Claus Herold, Willi Verstege und andere gehört, weshalb der Protest gegen die Nachfolgeregelung ursprünglich auf Aufderbeck zurückzuführen sei.411 Diesen Brief hatte der Magdeburger Prälat per Post nach Paderborn verschickt, wo ihn ausschließlich der Empfänger, Kardinal Jeager, gelesen hatte.412 Durch die geheimpolizeiliche Überwachung der DDR-Post gelangte dieser Brief in die Hände des MfS.413 Hier wurde er kopiert und an den ursprünglichen Empfänger weitergeleitet. Zugleich wurde aber eine Abschrift mit einem fingierten Begleitbrief414 an Hugo Aufderbeck, den Sekretär der BOK Paul Dissemond und Adolf Brockhoff weitergeleitet.415 Diese geheimpolizeiliche Manipulation diente bekannten Zersetzungsabsichten gegen Kirche und Klerus. Zu einem Politikum besonderen Ausmaßes avancierte der Brief schließlich deshalb, weil der Nienburger Pfarrvikar Willi Verstege eine Kopie des Schreibens zusammen mit einem offenen Brief an Prälat Johannes Braun am 1. März 1970 publizierte.416 Eine eingehendere Auseinandersetzung mit den beiden Briefen - dem Offenen Brief an Prälat Braun und dem „Jäger-Brief“ - ist an dieser Stelle notwendig, weil der ursprüngliche Ansatz der Hallenser Reformgruppe aufgrund der Anschuldigungen, diesen Brief betreffend zu Unrecht in den Hintergrund trat und davon verdeckt wurde.

      Zunächst ist festzuhalten, dass Willi Verstege eine identische Kopie des ursprünglichen „Jäger-Briefes“ vervielfältigt und im Kommissariat versandt hatte. Der Brief war ihm zusammen mit dem anonymen Anschreiben von Adolf Brockhoff im Februar 1970 übergeben worden.417 Willi Verstege übernahm die Veröffentlichung, weil er einerseits schon mehrere offene Briefe in den vergangenen Monaten verschickt hatte und damit an eine Linie anknüpfen konnte. Andererseits verfolgte er ganz bewusst die Absicht, ein Junktim zwischen der sich zu diesem Zeitpunkt immer stärker abzeichnenden Ernennung Brauns zum neuen Magdeburger Weihbischof und dem „Jäger-Brief“ herzustellen.418 In Versteges offenem Brief an Johannes Braun wurde deshalb die Vermutung geäußert, dass Prälat Jäger den Versuch unternommen habe, einen möglichen Konkurrenten zugunsten seines Protegés aus dem Weg zu räumen. Verstege ging davon aus, dass es sich aufgrund der engen zeitlichen Verbindung zur Wahl des Klerus um eine gezielte Verleumdungsaktion gegen den scheinbar aussichtsreichsten Kandidaten der Abstimmung handelte.419 An die Wahl und ihre Intention anknüpfend wies der offene Brief schließlich darauf hin: „Für mich steht es fest, dass viele Mitbrüder sich an der ‚Wahl‘ des Nachfolgers beteiligt haben, um Sie als möglichen Kandidaten auszuschalten. Niemand wollte und will Ihnen damit Ihre menschlichen und priesterlichen Qualitäten absprechen. Aber Ihre Qualifikation für das Amt des Bischofs wird von vielen ernsthaft bezweifelt.“420 Vikar Verstege war bewusst, dass ein solch öffentlicher Angriff auf Johannes Braun mit keinem demokratischen Anspruch zu legitimieren war.421 Es zeichnet sich ein vielschichtiges Motivationsbündel ab, das ihn derart handeln ließ. Durch die Veröffentlichung der Briefe sollte zunächst eine innerkirchliche Haltung kritisiert und überwunden werden, die um der kirchlichen Einheit willen keinen offenen Meinungsausstauch und Pluralismus meinte zulassen zu können.422 Für Verstege gehört es zur authentischen Verkündigung des Evangeliums, dieses selbst auferlegte Korsett zu überwinden: „Wie ich das sehe - ich bin ein Wald-und-Wiesen-Priester - kann ich ehrlicherweise nicht am Sonntag verkündigen und predigen: ‚Oh Brüder und Schwestern, das Evangelium macht frei von Ängsten und von den Mächten, die uns bedrohen‘ und auf der anderen Seite lass ich mich aber bedrohen und im Leben nach dem Evangelium in Offenheit, Wahrhaftigkeit und Brüderlichkeit einengen.“423 Der „Jäger-Brief“ wurde auch veröffentlicht, weil man Willi Verstege von verschiedenen kirchlichen Stellen in Magdeburg signalisiert hatte, den offensichtlich untragbar gewordenen Prälaten absetzen zu wollen, um damit den Konflikt stillschweigend zu beenden.424 Gegen das Opfern des vermeintlichen „Sündenbocks“ in Gestalt des Prälaten Jäger verwahrte sich Verstege ausdrücklich, weil er darin erneut jene innerkirchlichen Praktiken am Werk sah, die er durch den veröffentlichten Brief kritisieren wollte.425 Schließlich hatte Willi Verstege sowohl schriftlich als auch mündlich erklärt, dass er es für geboten erachte, „unwürdige Geheimnisse zu verraten.“426 Als ein solches betrachtete er die von Prälat Jäger vorgebrachten Anschuldigungen, da von einer „fünften Kolonne“ des Erfurter Bischofs nicht die Rede sein könne.427 Ein ähnlich getrübtes Verhältnis hatte sich zwischen Hugo Aufderbeck und Adolf Brockhoff eingestellt, nachdem Brockhoffs Ausscheiden aus der Leitung des Hallenser Sprachenkurses 1966 von allen Bischöfen unterstützt worden war.428

      Die zweite Frage, weshalb Willi Verstege dem scheinbar designierten Nachfolger die Qualifikation als Bischof öffentlich absprach, beantwortete der Nienburger Priester sowohl mit persönlichen als auch mit theologischen Motiven. Freimütig bekannte er öffentlich: „Für mich ist der Gedanke, dass Herr Prälat Braun Bischof werden könnte, entsetzlich gewesen.“429 Den offenen Brief bezeichnete er deshalb auch als einen „Akt der Verzweiflung“430, da sich immer mehr abzeichnete, dass Braun tatsächlich die Nachfolge von Rintelen antreten könnte. Dieses Entsetzen war nach dem authentischen Zeugnis von Willi Verstege aber nicht von einer persönlichen Abneigung geprägt, sondern von der Sorge um die Gestalt von Kirche unter einem solchen Bischof. Willi Verstege befürchtete, dass Johannes Braun gerade nicht ein Repräsentant einer „Kirche der Armen“ sein könnte, wie von Gaudium et spes formuliert und gefordert wurde, die aufgrund der Situation in der DDR und konkret in Magdeburg drängender denn je gebraucht würde.431 Die Veröffentlichung des Jägerbriefes und die öffentliche Ablehnung der Gestalt Brauns waren daher im Kern die theologisch begründete, vom Zweiten Vatikanischen Konzil ausgehende Ablehnung der Fortführung einer bestimmten kirchlichen Erscheinungsform und eines bestimmten kirchlichen Selbstverständnisses.

      So authentisch die Motive Willi Versteges zur Veröffentlichung der Briefe sein mochten, die angesichts der theologischen Begründung im konziliaren Kirchenverständnis sogar teilweise begrüßenswert erscheinen, kann diese „Verzweiflungstat“ doch nicht losgelöst von der fortgesetzten Verletzung des Briefgeheimnisses betrachtet werden. Fest steht, dass das Ministerium für Staatssicherheit den Brief des Prälaten geöffnet und damit das Briefgeheimnis ursprünglich verletzt hat. Unabhängig von der moralischen Qualifizierung des „Jäger-Briefes“ und seines Inhaltes stellt die nicht authorisierte Weitergabe durch Willi Verstege ebenfalls eine Verletzung des Briefgeheimnisses dar. Die persönliche Integrität Willi Versteges lässt eine Interpretation, nach der er der Kirche insgesamt, oder den Personen Heinz Jäger oder Johannes Braun habe Schaden zufügen wollen, in keiner Weise zu.432 Die Veröffentlichungen waren dem authentisch bezeugten Bemühen geschuldet, dem kirchlichen Leben nach dem Evangelium dienen zu wollen. Dass Verstege für seine Ziele dennoch Wege beschritt, die für sich genommen inakzeptabel sind, bleibt eine abschließend nicht aufzulösende Ambivalenz.

      Bislang undokumentiert sind die weiteren Entwicklungen sowie verschiedene Reaktionen auf den „Jäger-Brief“ und seine Veröffentlichung. Anfang 1970 hat Heinz Jäger einen zweiten Brief an den Paderborner Kardinal geschrieben. Diesmal fokussierten sich die Angriffe allerdings auf den Berliner Kardinal.433 Lorenz Kardinal Jaeger zeigte sich vom