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Kirche


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der Religion, die erkennbar wird in der Sehnsucht des Individuums nach Sinn. Sie äußert sich konkret als Sehnsucht nach Orientierung in der Kredibilitätskrise, nach Verortung in der Mobilitätskrise, nach Beziehung in der Medialitätskrise, nach Annahme in der Autonomiekrise. Die tägliche Sehnsucht nach Sinn ist das religiöse Kapital der Postmoderne: Wem kann ich glauben, wenn so vieles unglaubwürdig wird? Wo bin ich zu Hause, wenn mich unsere schöne Mobilität heimatlos macht? Wer bleibt mir treu, wenn die vielen Kontakte und Freunde sich ebenso rasch wegklicken wie einloggen? Wer nimmt mich an, wie ich bin, wenn ich überall zuerst wer sein muss? Vermutlich gleichen sich die postsäkulare und die präkonstantinische Zeit der Kirche genau an diesem Punkt: im religiösen Potenzial, das so groß ist wie selten in institutionellen Zeiten.

      Die Fresh Expressions sind unterwegs mit diesem Potenzial. Sie sammeln quasi die Gemeindefernen, aber Kirchennahen, jene also, die sich zwar für die institutionelle parish kaum interessieren, wohl aber für die präinstitutionelle Bibel. Entsprechend versteht sich die community einer Fresh Expression nicht als congregation, sondern nennt sich church. Entsprechend sollten wir von Kirchenbildung statt von Gemeindeaufbau reden. Entsprechend ist jeder Name einer Fresh Expression ein brand, wie ihn der Wettbewerb im Dschungel der Postmoderne gewohnt ist, aber kein Ortsname, wie klassische Territorialität ihn kennt. This is our church! heißt denn auch der selbst gedrehte Film, den uns die Fresh Expression mit dem brand Sorted in Bradford stolz vorgeführt hatte: gepiercte und tätowierte Jugendliche aus der Lebenswelt der Pleasure Seekers, bei uns die Eskapisten oder Hedonisten. Was den Modelabels True Religion oder All Saints recht ist, ist den Kirchenlabels Moot oder Sanctus1 billig: Es gilt, das Potenzial religiöser Sehnsucht zu nutzen. Keine Frage, dass es der Kirche um den nonprofit, der biblisch Reich Gottes heißt, geht!

       Region und Cluster

      Im Herbst 2013 hat die Zürcher Kirchenleitung das Projekt KirchGemeindePlus lanciert (www.kirchgemeindeplus.ch). Bis 2019 soll die Gemeindelandschaft neu aufgestellt sein, neu mit allen Lebenswelten im Blick. Dabei sind die Region als der soziokulturelle Gestaltungsraum und der Cluster als der postmodern-adäquate Darstellungsmodus von entscheidender Bedeutung. Öffnung in die mittlere Reichweite führt in doppeltem Sinn zu kirchlicher Raumplanung: als lebensweltliche Nutzung bestehender Bauten und als missionale Erschließung bestehender Lebensräume.

      Ein Cluster ergibt sich aus menschlicher Vitalität, nicht aus administrativer Ordnung. Hier hat die institutionelle Kirche Lernbedarf! Die Biodiversität des Regenwalds zeigt, was ein Cluster ist. Architektur und Stadtentwicklung haben bereits gelernt und das institutionell geleitete spatial planning am Reißbrett durch Beteiligung und Beziehung von Bewohnern zum cultural-spatial planning weiterentwickelt. Die landesweit Verantwortlichen anglikanischer Fresh Expressions formulieren aus ihrer Erfahrung die dringliche Empfehlung Create! Don’t clone! Warum?

      Das Beispiel des Regenwalds kann als Parabel verstanden werden: Von den drei Lebensbedingungen Wasser, Nahrung und Licht sind zwei überreichlich gegeben, eine aber sehr mager. Die Böden sind nämlich kaolinhaltig und extrem nährstoffarm. So stehen Pflanzen und Tiere in einem Überlebenswettbewerb. Er führte über Jahrmillionen zu einer Überfülle des Verschiedenen auf kleinster gemeinsamer Fläche, denn jede species musste ihren eigenen Trick finden, unter den gegebenen Bedingungen eine Nische zu füllen. Gleiche Anforderungen führten zu unterschiedlichen Lösungen. Gemeinsam sind die Bedingungen und die Sicherung der knappen Nährstoffe: Sie besteht in einer Matte aus Pilzen, die das Absinken der Nährstoffe aus verwestem Leben verhindert und eine dünne Humusschicht ermöglicht. Das networking der Pilze sichert die gemeinsame Nährstoffgrundlage. Das Leben aber, das darauf gedeiht, ist höchst divers. Alle aber sind Beteiligte und Bezogene.

      Gemeinsam ist das tragende Netzwerk, die Cluster aber sind verschieden. Jedes Biotop ein Cluster, jedes Stadtquartier ein Cluster, jede Region ein Cluster! Aber keiner gleicht dem anderen. Jeder Cluster ein Unikat! Entscheidend dafür ist die Vitalität. So wird auch das Projekt KirchGemeindePlus nur dann Erfolg haben, wenn die Regionen, die sich bilden, als Cluster und nicht als Plantagen verwaltet werden: Vitale territoriale Kirchgemeinden wird es weiterhin geben, Pfarrunionen für den service public der Kasualien, Zweckverbände für nicht alltägliche und besonders aufwendige Anforderungen, neue Vergemeinschaftungen in diversen Fresh Expressions, einzelne profilierte lieux d’église mit großer Leuchtkraft, spezifisch lebensweltliche Standorte für Jugendliche, Familien, Alte, virtuelle Netzwerke mit gelegentlichen Treffs, eine Stadtakademie, eine Kulturkirche usw.

      Eine biblisch geleitete Biodiversität ist unsere Aufgabe. Der Schöpfer jedenfalls mag keine Monokultur, sonst hätte die Passagierliste der Arche anders ausgesehen. Die Vielgestaltigkeit der Glaubenden geht der Definiertheit des Geglaubten voraus, sonst könnte die Bibel um viele Seiten dünner sein.

      Kirche! So heißt die Aufgabe, nicht das Problem.

      1 Lebenswelten. Modelle kirchlicher Zukunft. Orientierungshilfe, hg. v. Roland Diethelm, Matthias Krieg und Thomas Schlag, Zürich 2012 und Lebenswelten. Modelle kirchlicher Zukunft. Sinusstudie, Zürich 2012.

       Matthias Sellmann

      Glauben, oder: Vom Unterschied zwischen Teebeuteln und Piranhas1

      I) Glauben – und die Schwierigkeiten seiner Thematisierung in der Verkirchlichungsfalle

      Als Autor oder als Redner kann man sich nur freuen, wenn man um Gedanken zum Grundvollzug des Glaubens gebeten wird. Vielleicht ist die Auskunft darüber, was der andere glaubt, sogar die wichtigste und für mich weiterführendste Information, die er (oder sie) mir geben kann. Und das aus drei Gründen.

      1. Glauben ist das, ohne das es gar keine Freude gibt.

      2. Glauben ist das ökumenischste Thema, das es geben kann.

      3. Eine bestimmte Rede vom ‚Glauben‘ ist innerkirchlich ziemlich verdorben.

      1) Glauben ist das, ohne das es gar keine Freude gibt. Wer über das Substantiv ‚Glauben‘ oder über das Verb ‚glauben‘ spricht, spricht aus theologischer, aber auch aus soziologischer Perspektive über die erstaunliche Kraft, sich zu Leuten, Dingen und Situationen in unserem Leben gestaltend zu verhalten. Glaube ist der kreative Möglichkeitssinn, der tatsächlich in uns möglich ist. Ich sehe eine Person – und plötzlich halte ich es für möglich, dass zwischen ihr und mir etwas entstehen kann: eine Debatte, ein Streit, ein Tausch, ein Flirt, ein Tanz, ein Diebstahl. Ich sehe eine Situation – und plötzlich halte ich es für möglich, dass ich ihr nicht ausgeliefert bin, sondern dass ich sie auf mich und mich auf sie beziehen kann. Ja: Ich sehe einen Teebeutel – und plötzlich halte ich es für möglich, dass dieser Teebeutel mehr sein kann und mehr sein will als ein paar Krümel in Vliespapier. Ich sehe mein Spiegelbild – und plötzlich halte ich es für möglich, dass dieses Spiegelbild mir zuzwinkert und mich auffordert: Alter, sei dein eigener Piranha: Greif dir diesen Tag und lass ihn nicht mehr los!

      2) Glauben ist damit das ökumenischste Thema, das es geben kann. Man merkt schon: Ich will hier über den Akt des Glaubens an sich nachdenken, und erst sehr viel später über die religiöse Artikulation des Glaubens, und noch viel später über die konfessionelle,