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Kirche


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wie ich bin. Hier muss ich mich nicht mehr erklären. Diese Leistung erbringen Milieus und Submilieus dadurch, dass sie eine Identität herstellen, die sich gerade durch Abgrenzung gegen andere Milieus ergibt. Milieus leben von der Abgrenzung von anderen Menschen, die ein spezifisch anderes Milieu bilden. In der Regel leben sie – von Ausnahmen abgesehen – auch von der Abwertung der anderen. Sie sind durch Distinktionsschranken voneinander getrennt. Was so harmlos klingt, bedeutet in der Praxis:

      (1) Unsere Gesellschaft verliert zunehmend ihren Zusammenhalt und ihre Einheit, weil sie sich in Lebenswelten aufspaltet, die kaum noch Kontakt haben.

      (2) Es gibt ein Unverständnis für die, die so ganz anders sind. Die akademisch so harmlos klingenden Distinktionsgrenzen sind emotional hoch aufgeladen. Die Milieus sind größtenteils durch wechselseitige Ekelschranken voneinander getrennt. Der aus der Kulturanthropologie stammende Begriff der Ekelschranken bezeichnet unwillkürliche, sehr starke und kaum zu kontrollierende Reaktionen, die reflexiv und kognitiv kaum aufgefangen werden können. Auch dem verwahrlosten Prekären gehört das Evangelium! Jawohl! Was aber, wenn er stark riecht und – für meine Begriffe – ungepflegt daherkommt? Muss er da nicht mal erst unter die Dusche, damit ich mit ihm kommunizieren, ihn ertragen kann? Auch dem Konservativ-Etablierten gehört das Evangelium! Aber diese Angeberei, dieser Protz, dieses Zeigen, was man hat und was man ist, das stößt mich ab. Das passt nicht in die Gemeinde Jesu – nota bene: meine Gemeinde Jesu. Wir dürfen sicher sein, dass unsere, auch unausgesprochenen Botschaften ankommen und „richtig“ verstanden werden.

      (3) Das Milieu, das ich lebe und das meine Gemeinde bestimmt, liebe ich, weil es mein Milieu ist. Es passt zu mir und ich passe zu ihm. Ich möchte es nicht ändern lassen. Hier greift der soziologisch oft beschriebene Selbstrekrutierungsmechanismus sozialer Gruppen. Diese sind nicht einfach offen, auch wenn sie das noch so sehr als ihr Selbstverständnis und ihren Anspruch proklamieren. Sie ergänzen sich zuverlässig nur um solche Leute, die zur Prägung passen, und sie schrecken ebenso zuverlässig alle ab, die nicht passen. Da kann das Selbstverständnis noch so missionarisch, evangelistisch, einladend, offen sein.

      Milieugrenzen überschreitender Gemeindebau wird nicht funktionieren, wenn wir diese elementaren Sachverhalte nicht ernst nehmen und übergehen. In der Konsequenz bedeuten sie etwa:

      (1) Die Möglichkeiten, mit einem Veranstaltungsformat alle zu erreichen, sind begrenzt. Wer alle erreichen will, muss alternative, ergänzende Formate von Kirche im Milieu wollen, fördern und umsetzen.

      (2) Auch die konservativ-traditionelle Gemeinde hat das Recht auf ihr Profil. Wird dies verwässert, etwa durch zu große Milieuspreizung, beheimatet sie nicht mehr.

      (3) Die eigenen, persönlichen Möglichkeiten, andere mit dem Evangelium zu erreichen und dafür Milieuschranken zu überwinden, sind ebenfalls sehr begrenzt. Die mehrheitlich postmateriell geprägte Pfarrerschaft, die traditionell oder hin und wieder auch sozial-ökologisch geprägte Kerngemeinde muss aber vor dieser Aufgabe nicht verzweifeln. Auch wenn wir um unsere persönlichen Grenzen wissen, einem hedonistischen Jugendlichen Freund zu sein oder mit einem „Prekären“ unterwegs zu sein, können wir für das Ganze denken und planen. Wir können nach Menschen suchen, die können, was wir nicht können; die als Brückenpersonen in Milieus fungieren können, etwa weil sie die entsprechende Prägung mitbringen. Auch wenn eine Gemeinde kaum über ihre Milieugrenzen hinauskommt, kann sie Initiativen fördern, die über die sog. Kerngemeinde hinauszielen und spezielle, kirchenferne, nota bene: kirchengemeindeferne Milieus fokussieren.

       III Wunder werden sofort erledigt, Unmögliches dauert etwas länger

      Wie sollen wir das alles schaffen? Zum Schluss noch ein paar Gesichtspunkte, die uns beim Projekt milieuübergreifender Kommunikation des Evangelium eine Hilfe sein können. Ich greife dabei zurück auf Erfahrungen aus der Mission.

       a) Wir dürfen würdigen, was da ist

      Wir müssen nicht alles machen, weil der lebendige Gott schon am Werk ist. Das ist eine der zentralen, immer wiederkehrenden Erfahrungen in der Missionsgeschichte. Wir überlegen, wie wir mit unzulänglichen Bordmitteln ein mentales Eiland gewinnen können. Und dann dürfen wir entdecken: Da sind Menschen schon bereit gemacht; da sind einschlägig Qualifizierte schon vorbereitet. Da gibt es schon Initiativen und Impulse. Sie warten nur darauf, dass ich sie entdecke, wahrnehme, würdige, wertschätze und leitend fördere. Was vielleicht abseitig erschien, am Rand der Gemeinde stand, ein G’schmäckle hatte, im Licht der Milieuperspektive bekommt es Glanz und Bedeutung.

       b) Wir dürfen die Gaben und Begabungen anderer entdecken und nutzen

      Wir müssen und wir sollen nicht alles selber machen. Christen und Kirchen dürfen die Chancen und Entlastungen entdecken, die sich zeigen, wenn der Blick nicht nur bis zur Grenze des Kirchturms, den Grenzen der Kirchengemeinde reicht, sondern sich weitet in die Region. Wie können wir einander entlasten,

      – wenn nicht mehr jede Kirchengemeinde meint, das Komplettprogramm, nun auch noch für zehn Milieus, anbieten zu müssen;

      – wenn an die Stelle der Konkurrenz die Kooperation tritt;

      – wenn auf regionaler, überörtlicher Ebene Milieuschwerpunkte und -prägungen identifiziert werden;

      – wenn die Arbeit in bestimmten Lebenswelten gezielt zwischen Kirchen und Gemeinden abgesprochen und gabenorientiert delegiert wird;

      – wenn Kirchengemeinden und Mitarbeiter sich auf das konzentrieren, was sie wirklich gut können, und sich über die freuen, die neben ihnen noch ganz andere Dinge können;

      – wenn auch ökumenisch verabredet wird, welche Gemeinde welche Lebenswelt speziell fokussiert,

      – wenn nicht mehr alle im selben Karpfenteich der bürgerlichen Mitte fischen und sich – o biologisches Wunder – hinterher sheep stealing vorhalten!

       c) Wir dürfen staunen, wenn wir sehen, wie das Reich Gottes in postmodernen Kontexten Gestalt gewinnt und wirksam wird

      Unsere Gesellschaft ist nur zu einem kleinen Teil bewusst unchristlich und kirchenkritisch eingestellt. Sehr viele Menschen suchen heute, innerhalb wie außerhalb der Kirchen. Und wie oft wenden sie sich frustriert ab, weil sie bei Christen auf eine Gestalt von Glaube und Gemeinde treffen, die nicht zu ihrer Lebenswelt passt, die ihnen den switch zu einer aus ihrer Sicht völlig unnatürlichen Lebensweise zumutet. Gott – ja, aber doch nicht dieser erstarrte, anachronistische, unbewegliche traditionsorientierte oder bürgerliche Glaube. Wie wird christlicher Glaube neu glänzen, welche enorme Dynamik wird er neu entfalten, wenn es – vor allem den Jüngeren unter uns – gelingt, das Evangelium in postmodernen Lebenswelten zu kontextualisieren und anschlussfähig zu machen! Und wie wird uns das ermutigen, wenn wir entdecken werden: Das Reich Gottes ist nicht zum demografisch bedingten Untergang verurteilt. Es ist nicht nur die Sache eines immer älter werdenden, schrumpfenden, kulturell immer mehr an Bedeutung verlierenden Segmentes. Es erobert die Pop-Kultur und die U-Kultur, es wird lebensrelevant im Milieu der Performer und der Expeditiven; es ist der heiße Tipp für adaptiv-pragmatische Eltern, und es gibt einen christlichen Hedonismus, der sich in puncto cooler Lebensstil von nichts und niemandem überbieten lässt.

      Und dann werden wir dabeistehen und nur staunen über das, was der lebendige Gott tut – wenn wir ihn nur lassen.

      Literaturhinweise zur Weiterarbeit:

      – Heinzpeter Hempelmann: Gott im Milieu. Wie Sinusstudien der Kirche helfen können, Menschen zu erreichen, 2. erweiterte Aufl. Gießen 2013.

      – Ders.: Das Kriterium der Milieusensibilität in Prozessen postmoderner Glaubenskommunikation. Religionsphilosophische, ekklesiologische und institutionelle Gesichtspunkte, in: Matthias Sellmann / Gabriele Wolanski (Hg.): Milieusensible Pastoral. Praxiserfahrungen aus kirchlichen Organisationen, Würzburg 2013, 13–52.

      – Ders.: Milieusensibles Marketing für Kurse zum Glauben. Zur Bedeutung der SINUS-Milieuforschung für missionarische Bildungsangebote, in: Handbuch Erwachsen glauben. Missionarische