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Kirche


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(AMD) Berlin, 2. Aufl. Gütersloh 2013, 26–86.

      – Vgl. Sie auch die Texte zum Thema Milieu, die Sie auf meiner Homepage heinzpeter-hempelmann.de finden.

       Matthias Krieg

       Lebenswelten – terra incognita im eigenen Land

      Historiker wissen es: Eine Epoche zu verstehen und zu beschreiben, gelingt erst aus dem Abstand der zweiten nachgewachsenen Generation. Fotografen wissen es: Eine Struktur wahrzunehmen und festzuhalten, bedarf des sensiblen Austarierens von Distanz und Nähe, Licht und Schatten. Psychologen wissen es: Eigenes Verhalten und Entscheiden in der Tiefe zu verstehen, gelingt nur auf dem Umweg über den Spiegel. – Wie also kann ich Lebenswelten verstehen, die zu meiner eigenen Gegenwart gehören, die ich in meiner Biografie berühre und deren eine ich stets auch teile?

       kleiner, ärmer, älter

      Im Herbst 2010 erschien in Zürich das Buch Die Zukunft der Reformierten von Jörg Stolz und Edmée Ballif. Es basiert auf einer Umfeldanalyse, die der Schweizerische Evangelische Kirchenbund beim Observatoire des religions en Suisse in Lausanne in Auftrag gegeben hatte. Die Studie stellt gesellschaftliche Megatrends dar und gibt einen Überblick über kirchliche Reaktionen auf sie. Die erste Reaktion auf das Buch war die übliche: schon wieder eine Kirchenstudie? Die zweite war eine ärgerliche, hatten doch die Journalisten aus der ersten Aussage im summary gleich eine headline und einen negativen claim gemacht: kleiner, älter, ärmer. Das sei die Zukunft der Reformierten. – Eine Anleitung zur Abwicklung war nicht bestellt worden. Auch wollte niemand die ekklesiogene Depression nähren, nur noch die Dekadenz veredeln zu können.

      Ich vermute, dass nur wenige Journalisten weitergelesen haben. Nach dem summary der Einleitung geht es erst richtig zur Sache. Ich fürchte, dass auch nur wenige Kirchenverantwortliche weitergelesen haben. Wo das Buch zur Sache gekommen ist, werden auch viele ermutigende Unternehmungen aufgelistet. Für alle Teile der Kirche aber gilt die Beobachtung des Observatoire, dass kaum eine Kirchgemeinde weiß, welche Schritte ihre Nachbargemeinde macht, kaum eine Landeskirche, welche Zukunftsprojekte ihre Nachbarin plant, kaum ein nationaler Kirchenbund, was die Schwestern und Brüder im Nachbarland unternehmen. Gastfreundlich wollen alle sein, nachbarschaftlich denkt fast niemand. Eigene Provinz statt alle Welt (Mk 16,15).

       näher, vielfältiger, profilierter

      Im Herbst 2011 wurde den beiden Zürcher Auftraggeberinnen, der reformierten Landeskirche des Kantons und dem reformierten Gemeindeverband der Stadt, urbi et orbi also, die bestellte Sinusstudie vorgestellt. Das Sinus-Institut hatte sie unter Leitung von Silke Borgstedt in Zürich erarbeitet. An der vorgängigen Pressekonferenz ergriff ich die Gelegenheit, einen positiven claim zu formulieren, der von einer großen Tageszeitung auch in die headline gestellt wurde. näher statt kleiner, vielfältiger statt älter, profilierter statt ärmer. Keine Kampfansage an die Realität, die ist, wie sie ist, war gemeint, sondern eine Kampfansage an die Mutlosigkeit und Verzagtheit derer, die sich nur von derjenigen Realität beeindrucken lassen, die sie bisher sehen.

      Die einzige statistikähnliche Aussage der Sinusstudie bestätigte nämlich die statistikbasierte Aussage der Umfeldanalyse: Wie die deutschen Katholiken sind auch die Zürcher Reformierten nur bei zweieinhalb von zehn angenommenen Lebenswelten in der Fläche präsent, während sie bei siebeneinhalb von zehn nur Stützpunkte haben, und zwar desto kleinere, je jünger die Lebenswelten werden. – Anders gesagt: Bleibt kirchliches Agieren, wie es ist, so wird Kirche tatsächlich unaufhaltsam kleiner, ärmer und älter, denn die beiden konservativ-traditionellen Lebenswelten, die sie erreicht, sind in der Regel über fünfzig, wenn nicht bereits über sechzig Jahre alt und vertreten ein vormodernes Kirchenbild des 19. Jahrhunderts. Wendet sich kirchliches Agieren aber auch den wenig erreichten und weitgehend unerreichten Lebenswelten zu, was nur geht, wenn sie näher, vielfältiger und profilierter denkt und handelt, so wird ein turnaround denkbar. Dieses Wort wird zwar vor allem in der Wirtschaft verwendet, gewiss, es hat aber eine biblische Urgroßmutter: metánoia, was fromm die Umkehr und beschreibend eine Kehrtwende ist.

       Lebenswelten im Doppelpack

      Im Herbst 2012 erschien unser Arbeitsbuch. Die Zwillingsbände bieten einerseits die unberührte Sinusstudie, die Insidern elektronisch seit einem Jahr bereits zugänglich war, und andererseits die Orientierungshilfe, die wir in Jahresfrist durch Mitarbeit vieler zusammenstellen konnten. Der Doppelpack hat sich gelohnt: In der Regel erscheint eine Studie für sich und wird von wenigen Sachverständigen wirklich gelesen, während Auslegungen und Anwendungen der Studie einige Jahre später auf den Markt kommen und von Praxisleuten gelesen werden, denen die Studie aber fremd geblieben war oder bereits wieder Schnee von gestern ist. Wir wollten beide Teile zusammen in die Gemeinden geben: die Beschreibungen der zehn Zürcher Lebenswelten und die Hilfestellungen, die von soziologischen Beschreibungen zu gemeindlichen Unternehmungen führen. Die Sehhilfe möge zu Einsichten führen und Aussichten eröffnen. Zuversicht statt Nachsehen!

      Zur Vernissage des Doppelpacks beschloss die Kirchenleitung, allen 179 Zürcher Kirchgemeinden ein Gratisexemplar zu geben. Im Gegenzug sollte jede Gemeindeleitung eine(n) Lebensweltverantwortliche(n) benennen. Seit der Publikation reisen Roland Diethelm und ich, die beiden Projektleiter, mit dem Milieuteppich durchs Land, eingeladen von Kirchenleitungen oder Gemeindeleitungen, Pfarrkapiteln oder Diakonatskapiteln. Das Interesse wächst, der Mix aus Beschreibung und Hilfestellung motiviert. Explorative Reisen, Kurse zur Milieusensibilität und eine Intervision für Lebensweltverantwortliche sind ausgeschrieben.

       Bekanntes und Unbekanntes

      Eine eigene Sinusstudie lohnt sich nur, wenn spezifische Fragestellungen über das hinausführen, was das Sinus-Institut nach über dreißig Jahren eigener Forschung und externen Aufträgen ohnehin schon bestens weiß. Das Institut ist aus der Politikforschung und Sozialforschung der Universität Heidelberg herausgewachsen. Es lebt von Aufträgen aus dem Profit- und Non-profit-Bereich. Ausgewertet werden sämtliche öffentlich zugängliche Daten. Jeder Auftrag, zumal von politischen, publizistischen oder kirchlichen Institutionen, generiert neues Wissen, das stets untereinander verknüpft wird. Die Datenmenge muss inzwischen gigantisch sein. Die Möglichkeit, bis in Wohnquartiere hinein die Anteile der Lebenswelten zu wissen, verblüfft.

      Zürich stellte vier spezifische Anforderungen: Die erste fragt, wo eine Lebenswelt Sinn bezieht, setzt also einen weiten Religionsbegriff voraus, der nicht erst den manifesten output einer Religion, den Heiligen Kosmos, als Religion versteht, sondern bereits den anthropologischen input, das individuelle Transzendieren aus Sehnsucht nach Sinnerfüllung. Die zweite Anforderung fragt, wo eine Lebenswelt sich regelmäßig verortet, dies mithilfe der Trias aus Eigenort-Idiotopie, Sehnsuchtsort-Heterotopie und Unort-Utopie, wo sie sich also oft, selten bzw. nie aufhält, dies auch im Blick auf real aufsuchbare Zürcher Kirchen. Die dritte Anforderung