schaffst du das eigentlich, dich jeden Morgen dieser Welt zu stellen? Wie schaffst genau du es, „ausdrücklich gegenüber dem Geheimnis zu sein“, wie Rahner das nennt? Welche Wege hast du gefunden, mit dir selber klar- und durchzukommen? Man kann die Frage in Erinnerung an den kölnischen Karneval auch anders stellen: Jeder Jeck is anders – aber was für ein Jeck bist du? Und wieso? Kurz: Welcher Glaube bestimmt dein Leben?
3) Eine so formatierte Rede vom ‚Glauben‘ ist innerkirchlich ziemlich verdorben. Und weil wir in unserem Kongresszusammenhang ja über Kirchenformen der Zukunft nachdenken, muss das zur Sprache kommen. Ich meine: Wir sind als Kirchenleute in der Gefahr, diesen Existenzakt des Glaubens zu kleinformatig anzusetzen. Wir haben den Glauben verkirchlicht. Wir haben aus ihm zunächst eine religiöse, dann eine religiös-moralische und dann sogar eine religiös-moralisch-konfessionelle Veranstaltung gemacht. Der Begriff der ‚Verkirchlichung‘ stammt von dem bekannten Soziologen Franz-Xaver Kaufmann. Er analysiert schon in den späten 1970er Jahren, dass der Katholizismus der bürgerlichen Gesellschaften Europas im Zuge der funktionalen Differenzierung eine Zentralisierung und Bürokratisierung des Glaubens vollzieht, deren Umfang kirchengeschichtlich als erst- und einmalig gelten kann. Die damals geäußerte These lautet: „Wir können abkürzend sagen, dass das Christentum (…) sich in dem Sinne verkirchlicht, dass das Christliche zunehmend nur noch mit dem explizit Religiösen und das Religiöse mit den etablierten Kirchen und religiösen Gemeinschaften identifiziert wird, diese selbst jedoch zunehmend den Charakter religiöser Organisationen annehmen, deren Eigendynamik mit den Möglichkeiten individuellen Glaubens nur noch sporadisch zur Deckung zu bringen ist.“4 Das operative Instrumentarium dieser Verkirchlichung ist von Franz-Xaver Kaufmann und Karl Gabriel oft benannt und tiefgehend analysiert worden: Ultramontanismus als ideologische Matrix; Sakralisierung der Kirchenstrukturen, v. a. des Priestertums; Gleichschaltung von Hoch- und Volksreligion; papstzentrierte Frömmigkeit; romzentrierte weltkirchliche Bürokratisierung; Spezialisierung des kirchlichen Personals auf liturgische und seelsorgliche Funktionen; verfestigter Ständedualismus aus Klerikern und Laien; katechetisch verengte Bildungsoffensiven; Zuspitzung des konfessionellen Konflikts usw. Die kirchenhistorische Analyse kann zwar zeigen, dass diese Strategie der konfessionellen Milieubildung für den deutschen Katholizismus im bismarckschen Kulturkampf und in der Minoritätsposition des Deutschen Kaiserreiches überlebensrettend war. Trotzdem wurden hier Pfadabhängigkeiten und Sozialisationsroutinen verfestigt, die unzureichend sind für eine wirksame kulturelle Präsenz in offenen, pluralen und weltanschaulich neutralen Gesellschaften.
Was bedeutet ‚Verkirchlichung des Christseins‘? Kürzer und in populärer Anschaulichkeit gefasst: Wir denken doch tatsächlich, wir könnten die Intensität von Glauben gleichsetzen mit der Intensität von sonntäglichen Gottesdienstbesuchen. Wir denken, in der Bibel zu lesen und davon eindrücklich zu reden, wäre bereits ein Glaubenszeugnis. Wir denken, dass man jemanden zum Glauben bringen müsse, wenn er offensichtlich einem bestimmten Wertekodex nicht folgt. Die sogenannte Glaubenskrise der Deutschen lesen wir an der Tatsache ab, dass die Zeitungen schlecht über uns schreiben. Ja, es geht sogar so weit, dass wir scheinbar persönlich beleidigt sind und neurotisch werden, wenn man um uns herum nicht glaubt. Karl Rahner schreibt schon 1962: Die Kirche spielt zu oft „die Rolle einer kleinbürgerlich nörgelnden Gouvernante (…), [die, MS] mit engem Herzen (…) das Leben mit dem Beichtspiegel zu reglementieren versucht, der recht ist für das berühmte Lieschen Müller in der wohltemperierten Kleinstadt des 19. Jahrhunderts.“5 Wenn man erst über Kirche und erst dann über das Christsein spricht; wenn nicht Christsein zur Kirche, sondern Kirchlichkeit zum Christsein führen soll; wenn Christsein auf einen bestimmten rituellen, ethischen und kulturellen Habitus verengt wird, dann ist man in der Verkirchlichungsfalle.
Und hier liegt meiner Meinung nach einer der wesentlichen Gründe dafür, dass unsere Zeitgenossen uns Kirchenleute gerade nicht als Tänzer im Regen erleben, sondern als Verkäufer von Regenschirmen. Wir stehen unter dem sicheren Schirm und nennen das ‚Gemeinde‘. Gemeinde wird damit der Ort, an dem man nicht nass wird; man ist ‚drinnen‘ und schaut nach ‚draußen‘, und man wundert sich, warum die Regenläufer da draußen nicht unter den sicheren Schirm kommen: Es ist doch so viel trockener hier!6
Ja, es ist trocken bei uns. Mitunter staubtrocken. So sagen es jedenfalls die Milieustudien zu Kirche und Religiosität, die uns in vorher nicht möglicher Weise die Außenblicke auf uns aufbereiten und plausibel machen.7 Nur ein Zitat aus dem Forschungsprozess, das ich herausgreifen möchte. In einem Interview sagte uns jemand: „Ich erlebe euch als einen Hafen, dem die Ankerkette am Pier lieber ist als die Segel meines Bootes.“ Ich erlebe euch als Kerzenschein, nicht so als Taschenlampe.
II) Glauben und Evangelium
Erlauben wir uns, uns dem ‚Glauben‘ fundamentaler zu nähern. Hierzu zwei Gedankengänge, die plausibel machen können, warum der Ferrari unserer Glaubenszeugnisse nicht auf vollen 16 Zylindern läuft, sondern vielleicht auf dreien.
1. Das Evangelium ist kein Besitz der Kirchen, sondern die große These Gottes an die Welt.
2. Jesus hat primär keinen Glauben gebracht, sondern den schon vorhandenen genutzt.
Der Gedankengang will betonen: Der Glaube, von dem Jesus gesprochen hat, schafft keine Heimat. Mindestens begründet er keinen Anspruch darauf. Wer sich beheimaten will, soll eine Familie gründen, sich ein Haus bauen, einem Sportverein beitreten oder segeln lernen. All das ist wichtig, unverzichtbar und oft sehr großherzig. Aber all das hat eher wenig mit Kirche zu tun.
1) Das Evangelium ist kein Besitz der Kirchen: Der französische Jesuit Christoph Theobald hat jüngst darstellen können, dass man das griechische Wort euaggelion nicht nur übersetzen kann mit: ‚die gute Botschaft‘. Sondern auch mit: die Botschaft vom Guten.8 Man kann sich ja mit Recht fragen: Was ist denn überhaupt das, was mich da froh machen soll, wenn ich das Evangelium höre? Was sollen denn diese uralten Geschichten mit mir heute zu tun haben? Die Antwort lautet: Mit dem Evangelium steht eine Person im historischen Raum, die eine eigentlich spektakuläre These vertreten hat: Es gibt das Gute. Gemeint ist Jesus von Nazareth, und der meint mit ‚das Gute‘ ‚den Guten‘, nämlich seinen himmlischen Vater. Aber dies ist in einem ganz bestimmten Sinn zweitrangig. Fundamental behaupten Christen: Man kann in dieser Welt Gutes erleben. Ja: Man kann selber Ursprung und Grund von Gutem werden. Man kann sich ausdrücklich seinem Geheimnis stellen, weil es eine Kraft des Guten gibt, die wirkt.
Wie spektakulär so eine Behauptung ist, muss nicht lange illustriert werden. Für den, der nicht ausweicht, bringt jeder Tag bedrückend viele Gegenargumente zur Behauptung des Guten. Das ist vielleicht die neue Qualität der medialen Möglichkeiten, die wir heute haben. Auch früher gab es viel Schlechtes, Mieses und Erschreckendes – aber heute könnte man es sich pausenlos ansehen. Wir erleben uns viel öfter als Leute, die wegsehen und die sich dabei zusehen, wie sie wegsehen. Wir könnten sonst unser bisschen Psychohygiene gar nicht aufrechterhalten. Viele wissen von sich, wie dünn die Maske des Netten und Ruhigen wird, wenn es um diese psychohygienische Selbsterhaltung geht.
Wichtig ist nun: Das Evangelium behauptet nicht, dass die Welt irgendwie gut ist. Auch nicht, dass man in dieser Welt irgendwie zu Gott kommen muss, wenn man nur genug an sich arbeitet oder ausreichend nachdenkt. Unsere moderne Theologie hat diesen Kelch tief ausgetrunken und sagt uns: In dieser Welt spricht nichts dafür, dass es Gott geben muss. Wenn man so will, ist diese Welt ein Haufen Krümel ohne Vliespapier. Ein Stern im All, dessen Bewohner maßlos überschätzt werden. Asche von gestern, Asche von morgen. Christliche Theologien, so schreibt es der Kölner Theologe Hans-Joachim Höhn, sind keine Weltentstehungs- oder Welterklärungstheorien. Es gibt hier nichts zu erklären. Es sind Weltakzeptanztheorien. Sie bieten Argumente, das Mögliche für mindestens genauso wirksam zu halten wie das Faktische. Das scheint nicht viel zu sein. Aber es ändert alles. Es ist der Unterschied zwischen Zynismus, Skeptizismus, Fatalismus, Resignation – die alle als Lebenshaltungen hochverständlich sind – und dem Glauben, dass es Gutes geben kann.9
2) Jesus hat primär keinen Glauben gebracht, sondern den schon vorhandenen genutzt.