Hermann Wohlgschaft

Für immer und ewig?


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      In der praktischen Seelsorge findet sich in Konfliktfällen zwar meist eine vernünftige Lösung, ein gangbarer Weg. Aber es bleibt ein Zwiespalt, ein Unbehagen, ein schaler Geschmack. Wenn Theorie und Praxis zu weit auseinanderklaffen, liegt ja der Vorwurf der Doppelmoral und der fehlenden Glaubwürdigkeit auf der Hand.

      Das von Walter Kardinal Kasper vermutete bzw. befürchtete »vertikale Schisma«,17 d. h. die Kluft zwischen feudal-hierarchischen Strukturen der Kirche und dem modernen Lebensgefühl in den Industrienationen Europas und Amerikas, die Differenz auch zwischen ›amtskirchlicher‹ Lehre und dem tatsächlichen Verhalten des Gottesvolks scheint immer größer zu werden. Gerade was die Bereiche Ehe, Familie und Sexualität betrifft, weicht das Glaubens- und Moralbewusstsein der meisten – auch der kirchlich engagierten – Katholiken sehr deutlich ab von manchen Rundschreiben der Päpste oder anderen Lehrdokumenten der römischen Glaubensbehörden. Allein schon diese Tatsache ist theologisch relevant und sollte uns zu denken geben.

      Das Thema ›Kirche und Sexualität‹ ist überhaupt ein sehr heikles Kapitel. Wie die russisch-orthodoxe Journalistin Anna Galperina – mit Bezug auf die christlichen Ostkirchen – bemerkt,18 ist die Distanz vieler Jugendlicher und Erwachsener zum kirchlichen Leben wesentlich mitbedingt durch das Unverständnis vieler Kleriker und vieler Kirchenführer im Blick auf Liebe und Sexualität. Anna Galperina warnt vor einer despektierlichen Sichtweise, die die menschliche Sexualität von Haus aus verdächtigt, sie kurzschlüssig auf Sünde und Unzucht reduziert. Eine kirchliche Sexuallehre, in der die Perspektive des Verbotenen und Beargwöhnten vorherrscht, fördert – so die russische Journalistin – die Entfremdung zwischen der Kirche und den Menschen.

      Für die katholische Kirche trifft Galperinas Kritik gewiss nicht weniger zu. In ihrem Bestseller ›Eunuchen für das Himmelreich‹ (1988)19 hat die katholische Theologin Uta Ranke-Heinemann aus bibelexegetischer, aus kirchenhistorischer und ethischer Sicht die römisch-katholische Sexualmoral, zum Beispiel das Kondomverbot, sehr scharf attackiert – im Ton leider oft zu polemisch und überspitzt, in der Sache aber weitgehend zu Recht.

      Ohne hinreichende Begründungen und ohne das Gewissen des einzelnen Christen genügend ernst zu nehmen, wird in der katholischen Kirche eine sehr enge Sexualmoral offiziell noch immer vertreten. Es kann aber nicht genügen, wenn die kirchliche Obrigkeit eine rigide Morallehre nur immerfort wiederholt und autoritär verordnet. Das unermüdliche Einschärfen von fragwürdigen und längst überholten Lehrmeinungen (etwa im Blick auf die Empfängnisverhütung) könnte außerdem die Autorität untergraben, die die Kirche in ethisch wesentlich wichtigeren Bereichen, z. B. in der Soziallehre oder in der Friedenspolitik, so dringend brauchen würde.

      Nur nebenbei gesagt: Dass der kirchliche Einfluss in Politik und Gesellschaft immer geringer wird, liegt zum Teil an der Kirche selbst. »Ein schwerwiegendes Problem insbesondere der katholischen Kirche ist«, so der katholische Publizist Johannes Röser, »dass sie in der Art, wie sie sich in Ämtern, Strukturen, Kult, Frömmigkeit und dogmatischen wie moralischen Aussagen präsentiert, von sehr vielen Menschen nur noch als exotisch wahrgenommen wird.«20

      Nicht der einzige, aber ein wesentlicher Grund für den Autoritätsverlust der katholischen Kirche in unserer heutigen – zunehmend aufgeklärten, auf plausible Argumente setzenden – Gesellschaft ist zweifellos die Sexuallehre. Noch weitaus gravierender jedoch als der kirchliche Autoritätsverlust ist das katastrophale (aber hoffentlich rückläufige) Phänomen: Es gab und es gibt noch immer Frauen und Männer, die durch eine verengte, ja skrupulöse Sexualerziehung erheblich geschädigt wurden! Sie verstehen zum Beispiel die Onanie als Todsünde und leben in ständiger Angst vor der Hölle. Oder sie betrachten allein schon die sexuelle Phantasie als Teufelswerk und kommen sich als schwere, von Gott in alle Ewigkeit verdammte Sünder vor.

      Der katholische Theologe und Psychotherapeut Wunibald Müller, der sich in zahlreichen Publikationen intensiv mit dem Themenfeld ›Kirche und Sexualität‹ auseinandersetzt, bringt seine vielfältigen Eindrücke von Gesprächskreisen und einschlägigen Vorträgen auf den kritischen Punkt:

      Es ist oft erschreckend, dabei zu erfahren, wie tief verletzt sich Menschen fühlen von dem, was ihnen durch ihre Kirche oder ihre Vertreter anscheinend im Namen Gottes über Sexualität und den persönlichen Umgang mit ihrer Sexualität gesagt worden ist. Nicht wenige (…) klagen über negativ geprägte Erfahrungen ihrer Kindheit, die (…) es ihnen nahezu unmöglich machen, ein normales und freies Verhältnis zu ihrer Sexualität zu entfalten. (…) Diese Menschen haben den Eindruck, dass ihnen die Kirche eine Wunde zugefügt hat, indem sie ihnen ein Bild von Sexualität vermittelte, das Sexualität als etwas Schmutziges, Unkeusches darstellte. Das führte dazu, dass sie, wenn sie ihre Sexualität überhaupt leben, diese nicht wirklich genießen können.21

      Nicht nur in der römisch-katholischen Kirche und nicht nur in der ostkirchlichen Orthodoxie, auch in den reformatorischen Kirchen können wir noch heute auf sehr negative Einstellungen zur Sexualität treffen. Dies hat natürlich geschichtliche Hintergründe, die weit zurückreichen.

      Nicht grundsätzlich anders als im traditionellen Katholizismus sah auch Martin Luther im Ehestand einen doppelten Sinn: Kinder zu zeugen und in Keuschheit, d. h. frei von Unzucht, zu leben. Diese Auffassung der Ehe ist nun zwar – so der dänische Lutheraner Knud Løgstrup – »nicht so zu verstehen«, dass nicht »auch herzliche Hingabe und gegenseitige Rücksichtnahme« für Luther bedeutsam waren.22 Aber die einseitig funktionale, an der Zeugung von Nachkommenschaft und an der Zähmung des Geschlechtstriebs orientierte Deutung von Ehe und Partnerliebe bleibt bei Martin Luther doch unverkennbar.

      Mit den asketischen Vorstellungen der frühchristlichen und mittelalterlichen Mönche hat der Wittenberger Reformator nie vollständig gebrochen. Luther, der öffentlich zugab, dass er »weder Holz noch Stein« sei,23 baute zur Sexualität eine ambivalente Beziehung auf. Einerseits sah er im Sexualtrieb eine in der Schöpfungsordnung begründete, also gottgewollte Energie. Andererseits aber erklärte er die sinnliche Lust als solche für sündhaft! Diesen Widerspruch glaubte er dadurch zu lösen, dass er zwischen Fortpflanzungstrieb (instinctus procreandi) und sexueller Lust (libido) unterschied. Aber diese theoretisch zwar richtige Unterscheidung bringt wenig. Sie führt eher zu kuriosen Konstrukten, aber wohl kaum zu einer positiven Wertung der sinnlich-erotischen Liebe und der spielerischen, zweckfreien Zärtlichkeit.

      Fatalerweise bezeichnete Luther die Ehe als »Spital der Siechen«!24 Womit er wohl sagen wollte, dass Gott mit der Sündhaftigkeit des Geschlechtstriebes insofern Erbarmen und Nachsicht übe, als ja die Ehe vor der noch größeren Sünde der Unzucht und der Hurerei bewahren werde – sofern nur die Geschlechtslust gemäßigt und einigermaßen beherrscht wird.

      Die Abwertung von Sexualität und erotischer Leidenschaft wurde in der evangelischen Christenheit nur partiell überwunden Gewiss nicht im gesamten Protestantismus, aber in sehr konservativen und evangelikalen Zirkeln, zum Teil auch in pietistischen Kreisen, ganz besonders auch in manchen evangelischen Freikirchen wird die gelebte Sexualität – in domestizierter und lustloser Form – allein in der Ehe zugelassen. Jeder »Sex vor der Ehe« und jede Intimbeziehung nicht verheirateter Paare werden verteufelt.

      Viele Menschen, innerhalb wie außerhalb der Kirchen, haben zur Sexualität ein gestörtes Verhältnis. Negativ besetzten Vorstellungen von Sexualität ist aber strikt entgegenzuhalten: Die Geschlechtlichkeit des Menschen ist zwar im Höchstmaße anspruchsvoll, sie ist ein hoch sensibler Bereich und sie kann auch zur Falle werden. Das sexuelle Leben ist immer schon gefährdet und anfällig für den Missbrauch. Die sexuelle Intimität kann aber auch bestens gelingen und zum Segen für beide Partner werden. Grundsätzlich ist die Geschlechtlichkeit eine höchst wertvolle Gabe Gottes. Sie ist eine der wichtigsten Energiequellen, sie gehört wesentlich zur Schöpfung und sie gehört essentiell zum Menschen in seinem Mann- oder Frausein.

      Auch durch das geistliche