»Quelle der Spiritualität«.25 Ja das Dasein mit allen Sinnen, also auch den sexuellen Gefühlen, ist der normale, der natürliche Weg zur Gotteserfahrung!
Die Fähigkeit, Gott und die Menschen aus ganzer Seele und mit ganzem Herzen zu lieben, beruht – wie die amerikanische Theologin und Ordensfrau Sandra M. Schneiders unterstreicht – auf der Fähigkeit zur »menschlichen Intimität«. Sr. Sandra Schneiders wagt sogar die Bemerkung: Wer niemals die erotische Liebe erlebt hat, »wer nie mit den echten, wahren, menschlichen, sexuell lebendigen und lebendig machenden Gefühlen einen realen, konkreten, einzigartigen Menschen geliebt hat und von ihm geliebt worden ist, kann zwar endlos über die Schönheit und Freude göttlicher Liebe reden, wird jedoch auf jemanden, der Agonie und Ekstase der Liebe in der Realität erlebt hat, nicht sehr überzeugend wirken«.26
Viele erfahrene Seelsorgerinnen und Seelsorger werden hier zustimmen: Wer sich nie einem anderen Menschen in personaler Liebe geöffnet hat und wer nie ein positives, ein beglückendes, ein unvergessliches sexuelles Erlebnis (oder eine tiefe Erfahrung von seelischer Intimität und zärtlicher Körpernähe) hatte, kann natürlich trotzdem ein sehr guter Mensch sein. Aber als Verkünder der göttlichen Liebe, als ›mystagogischer‹ Wegbegleiter, als Zeuge für die Geheimnisse Gottes wird er den Großteil der Menschen nicht erreichen.
Auch wenn wir das sexuelle Leben verdrängen oder sublimieren, wirklich ausblenden und ›wegstecken‹ lässt sich die Sexualität niemals. Sie würde sich auf Umwegen zurückmelden, vielleicht in problematischen Formen, in unreifer Manier. In schlimmeren Fällen könnte die unterdrückte, die nicht ins Leben integrierte Sexualität auch zu infantilen, zu krankhaften, zu sozial nicht verträglichen Verhaltensweisen mutieren. Was aber andererseits noch lange nicht heißen soll, dass es geglückte Formen der ›sublimierten‹ Sexualität überhaupt nicht geben könne. Zweifellos gibt es kulturelle Hochleistungen, vorbildliches soziales Engagement, echte Hingabe und spirituelle Glaubwürdigkeit in Verbindung mit einem zölibatären Charisma (das nicht zu verwechseln ist mit dem umstrittenen Zölibats-Gesetz in der heutigen katholischen Kirche).27
Immer aber bleibt die Sexualität eine wichtige Kraft von elementarer Bedeutung. Da auch in den folgenden Buchkapiteln das Thema ›Sexualität‹ zumindest indirekt präsent ist, sei schon im vorhinein klargestellt: Ob ich verheiratet bin oder nicht, ob ich in einer Paarbeziehung lebe oder nicht, in jedem Fall erlebe ich mich als sexuelles, nach leiblicher Nähe und intimer Berührung verlangendes Wesen. Und ob ich es mir eingestehe oder nicht, immer ist die Sexualität eine spirituelle Herausforderung, eine machtvolle Wirklichkeit, die verantwortlich gestaltet sein will – nicht bloß im ›Gehorsam‹ gegenüber den kirchlichen Institutionen, sondern in freier Entscheidung aufgrund des personalen Gewissens.
8. Zu den Maßstäben und Werten
Ganz auf der Linie des reformwilligen – von vielen kirchlichen Amtsträgern inzwischen vergessenen oder im restaurativen Sinne ›uminterpretierten‹ – Zweiten Vatikanischen Konzils28 bekräftigt die katholische Theologin Lydia Bendel-Maidl die Mündigkeit der individuellen Person. Aufgrund seines Gewissens nämlich und aufgrund seiner unmittelbaren Beziehung zu Gott hat jeder Einzelne »teil an einer letzten Verbindlichkeit und Würde«, die von der Kirche unbedingt »zu achten ist (…), selbst im Fall des Irrtums«.29
Das eigene Gewissen also ist die höchste Instanz, der Maßstab meines Verhaltens. Allerdings ist das Gewissen nicht bloß ein vages Gefühl. Vielmehr bedarf das Gewissen der ›Schulung‹, der stetigen Justierung mit Herz und Verstand. Anders gesagt: Die subjektive Gewissensbildung muss sich an bestimmten, überprüfbaren, Kriterien orientieren.
Sinnvoll und absolut angebracht ist somit die Frage: Welche Voraussetzungen müssen in einer guten, in einer ethisch verantworteten Partnerbeziehung erfüllt sein? Ein mit mir befreundeter Jesuitentheologe und Priesterseelsorger gab mir vor Jahrzehnten die folgenden Beurteilungshilfen: Eine intime Beziehung ist gut, wenn sie auf wechselseitiger Liebe beruht, wenn sie für beide Partner eine Glücksquelle ist, wenn sie keinem anderen schadet und wenn die Gottesbeziehung darunter nicht leidet, sondern eher gestärkt wird.
Diese vier Kriterien, die stets neu zu überdenken sind, nehme ich als Seelsorger und geistlicher Begleiter sehr ernst. Ich habe sie mir verinnerlicht und um einen weiteren Punkt noch ergänzt: Eine Paarbeziehung – oder auch eine Seelenfreundschaft30 – finde ich besonders gut, wenn die Hoffnung auf das ewige Leben, wenn die Vorfreude auf den Himmel durch die liebevolle Beziehung der Partner noch vergrößert und neu beflügelt wird.
An dieser Stelle scheint mir eine Zwischenbemerkung erforderlich: Sofern die genannten Kriterien für eine gute Partnerbeziehung erfüllt sind, dürfen auch gleichgeschlechtliche Beziehungen nicht diskriminiert werden. Man kann solche Beziehungen nicht rundherum verurteilen und als ›Todsünde‹ betrachten. Denn die zuständigen Natur- und Humanwissenschaften belegen ja zweifelsfrei: Es gibt unterschiedliche sexuelle Prägungen.
Jeder Mann und jede Frau muss – wie Wunibald Müller betont – seine/ihre Prägung entdecken und zu dieser Prägung auch stehen.31 Besonders die katholische Kirche wird mit gleichgeschlechtlich geprägten Menschen in Zukunft anders umgehen müssen als bisher: vor allem dann, wenn es sich um Paare handelt, die wechselseitig Verantwortung übernehmen und folglich in einer durchaus eheähnlichen Beziehung leben.
Zurück zur Gewissensbildung: Ob jedes der oben genannten Bewertungskriterien in einer (gleich- oder gegengeschlechtlichen) Paarbeziehung erfüllt ist, wird nicht immer leicht zu beurteilen sein. Es kann da auch Irrtümer und Selbsttäuschungen geben. Sensibilität, selbstkritische Feinfühligkeit, gewissenhaftes Nachdenken sind also angesagt. Aber diese Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit sollten nicht umschlagen in übertriebene, in krank machende Ängstlichkeit.
Schließlich dürfen wir nicht vergessen: Zur Realität des Lebens und jeder Partnerbeziehung gehört auch die Möglichkeit des Versagens und des Schuldigwerdens. Aber auch in diesen Fällen wird es – bei gutem Willen aller Beteiligten – gangbare Wege geben, Wege zu einem neuen Beginn. Denn bei Gott ist Barmherzigkeit und reiche Erlösung (vgl. Ps 130,7)! Freilich sollten auch wir barmherzig sein. Paarbeziehungen – und überhaupt Beziehungen jeglicher Art – können nur gelingen, wenn wir bereit sind, einander von Herzen zu vergeben und immer wieder einen neuen Anfang zu wagen.
9. Zur eschatologischen Perspektive
So viel dürfte nun klar sein: Es geht mir in meinen Ausführungen nicht primär um die Kirchenkritik und schon gar nicht um einen ›Ausverkauf der Werte‹. Die Kirche ist ja keine politische Partei, die eine Wahl gewinnen will und deshalb ihre Angebote an aktuellen Umfragewerten orientiert. Vielmehr hat die Kirche von Christus her eine Sendung, einen Auftrag für das Heil der Welt – unabhängig von wechselnden Meinungen und wechselnden Mehrheiten unter den Menschen.
Ich bin ein katholischer und zugleich ein ökumenisch denkender Christ, dem die christlichen Kirchen in der Welt von heute sehr wichtig sind. Dabei geht es mir nicht um eine Anbiederung ans allgemeine Bewusstsein, nicht ums ›Moderne‹ um des Modernen willen, nicht um die wohlfeile Anpassung an den (üblicherweise negativ gewerteten) ›Zeitgeist‹. Nein, es geht um den befreienden Geist der Botschaft Jesu, um die Vertiefung und Verlebendigung des kirchlichen Eheverständnisses bzw. um eine realistischere, d. h. menschlichere Einstellung der kirchlichen Institutionen zur – ehelichen oder nichtehelichen – Partnerliebe.
Es geht mir, gerade im Blick auf ›heikle‹ Themen und ›heiße Eisen‹, ganz und gar nicht um Polemik, sondern um die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Geistesströmungen, um das Anschauen von offenen Fragen, um anthropologische Einsichten und theologische Argumente. Es geht mir vor allem um die Liebe, die größer ist als alles andere und die, wenn sie echt ist und in Gott ihren Ursprung hat, niemals aufhören wird (vgl. 1 Kor 13,1–8).
Und um es nochmals ganz klar zu sagen: Wenn im Folgenden sehr viel, ja deutlich überwiegend von der Liebe zwischen Mann und Frau die Rede ist (einfach auch deshalb, weil die Mehrzahl der Menschen