Jahr zu Jahr stabiler» (Bessoth & WeibeI 2000, S. 74).
Selbstverständlich hat Schülerfeedback auch seine Grenzen: Schülerinnen und Schüler können die fachliche und didaktische Kompetenz kaum beurteilen. Es ist zudem oft unklar, welchen Maßstab die Schülerinnen und Schüler anwenden (z. B. den Vergleich mit dem Unterricht anderer Lehrpersonen). Möglich ist auch, dass die Rückmeldungen durch negative oder positive Aufwertungen der Lehrperson verzerrt sind (vgl. Helmke 2009, S. 282 f.).
Reflektieren
Reflektieren
Für Weiterentwicklungen im Sinne einer Professionalisierung im Lehrberuf ist es unabdingbar, dass die Lehrerinnen und Lehrer ihr eigenes Handeln immer wieder kritisch hinterfragen und in Verbindung mit neuen Erkenntnissen differenziert reflektieren.
Wir sehen nicht, was wir nicht sehen, und was wir nicht sehen, existiert nicht
Diese Erkenntnis in der Randspalte, die Humberto Maturana und Francisco Varela gegen Ende ihres Buches «Der Baum der Erkenntnis» formuliert haben, hat für den Lehrberuf eine besondere Bedeutung. Auch die weiterführende Erkenntnis von Maturana und Varela, «Tradition ist nicht nur eine Weise zu sehen und zu handeln, sondern auch eine Weise zu verbergen», ist für eine Auseinandersetzung mit pädagogischem Handeln höchst bedeutsam: Tradition steht für die gewohnten subjektiven Alltagstheorien, die einerseits pädagogisches Sehen ermöglichen und andererseits verunmöglichen. «Eine Tradition basiert auf all jenen Verhaltensweisen, die in der Geschichte eines sozialen Systems selbstverständlich, regelmäßig und annehmbar geworden sind. Und da die Erzeugung dieser Verhaltensweisen keiner Reflexion bedarf, fallen sie uns erst auf, wenn sie versagen. An diesem Punkt setzt dann die Reflexion ein» (Maturana & Varela 1987, S. 260 f.).
«reflection-in-action» und «reflection-on-action»
In seinen beiden Büchern «The Reflective Practitioner» (1983) und «Educating the Reflective Practitioner» (1987) unterscheidet Donald A. Schön zwei Formen der Reflexion: «reflection-on-action» und «reflection-in-action». Reflection-on-action meint die Fähigkeit, das Handeln im Nachhinein zu reflektieren; reflection-in-action die Fähigkeit, unvorhergesehene Situationen während des Handelns neu zu interpretieren, das heißt, ein «reframing» (Neurahmen) einer Situation während der Aktion zu leisten (siehe Texte 3 zu diesem Kapitel).
Reflexionskompetenz ist ohne Zweifel eine zentrale Kompetenz von Lehrerinnen und Lehrern. Die Kultivierung der Reflexionskompetenz ist im Lehrberuf von entscheidender Bedeutung. Reflexionskompetenz ist hinsichtlich der Persönlichkeitsentwicklung nötig, um sich selbst distanziert und kritisch beobachten zu können, eigene Kräfte und Kompetenzen realistisch einzuschätzen und konstruktive Formen der Bewältigung von Belastungen zu finden. In Bezug auf die berufliche Tätigkeit ermöglicht Reflexionskompetenz Verbindungsleistungen zwischen theoretischem Wissen und praktischer Erfahrung: Durch Reflexion kann Theoriewissen eine handlungsbestimmende Kraft entfalten (vgl. Gudjons 2007, S. 9 f.).
Hoher Stellenwert biografischer Reflexionen
Wie im ersten Kapitel hervorgehoben, haben biografische Reflexionen für angehende Lehrerinnen und Lehrer einen sehr hohen Stellenwert. Studien zu beruflichen und berufsbiografischen Entwicklungen zeigen, wie stark das Lehrerhandeln in biografisch aufgeschichteten Deutungsbeständen wurzelt. Um Lehrpersonen nicht einer unwägbaren Praxis auszuliefern, braucht es Reflexivität als Bewusstheit des eigenen Tuns. Reflexionskompetenz im Allgemeinen (und biografische Reflexion im Speziellen) bilden eine Schlüsselkompetenz von Professionalität (vgl. Combe & Kolbe 2004, S. 835). Dass Unterricht durch ein außerordentlich hohes Maß an Komplexität charakterisiert ist, ist eine unbestreitbare Tatsache. Stichworte wie Multidimensionalität, Gleichzeitigkeit, Unmittelbarkeit oder Unvorhersehbarkeit weisen auf diese Komplexität hin. Lehrerhandeln ist immer durch ein beachtliches Maß an Ungewissheit, Undurchschaubarkeit und Unsteuerbarkeit geprägt. Unaufhebbare Antinomien gehören zum Berufsalltag: Als Lehrpersonen muss man oft das eine tun, ohne das andere zu lassen. So ist beispielsweise im pädagogischen Handeln Nähe ebenso wichtig wie Distanz. Und es können unerklärliche Situationen und Reaktionen entstehen, wenn Lehrpersonen Nähe erzwingen, wo Heranwachsende Distanz wünschen. Um solche und ähnliche komplexe Prozesse besser verstehen zu können, braucht es Reflexionskompetenz.
Über pädagogisches Handeln klug nachdenken, um klug handeln zu können
Reflexion meint die Rekonstruktion von Erfahrung. Reflexion ist eine Form von Lernen aus Erfahrung. Sie bedeutet konstruktive Verarbeitung von Erfahrungen. Vorbereitung auf Reflexion ist Vorbereitung auf optimale Auswertung der konkreten Erfahrungen, die man als Lehrerin oder Lehrer macht. Die Professionalität der pädagogischen Berufe zeigt sich nicht an der Form ihres Wissens, sondern im Umgang mit ihrem Wissen – und dieser Umgang ist reflexiv. Walter Herzog, emeritierter Professor für Pädagogische Psychologie in Bern, sieht die Aufgabe einer posttechnokratischen Lehrerbildung nicht im Einschleifen von Fertigkeiten und Gewohnheiten oder in der Indoktrination stereotyper Verhaltensweisen, sondern in der Hilfe, über pädagogisches Handeln klug nachzudenken und klug handeln zu können (Herzog 1995; vgl. hierzu auch die Materialien zu diesem Kapitel unter http://mehr.hep-verlag.ch/didaktisch-handeln-und-denken und den Anhang).
Literatur
Bandura, A. (1976). Lernen am Modell: Ansätze zu einer sozial-kognitiven Lerntheorie. Stuttgart: Klett.
Bessoth, R. & Weibel, W. (2000). Unterrichtsqualität an Schweizer Schulen. Zug: Klett und Balmer.
Combe, A. & Kolbe, F.-U. (2004). Lehrerprofessionalität: Wissen, Können, Handeln. In W. Helsper & J. Böhme (Hrsg.), Handbuch der Schulforschung (S. 833–851). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Felten, R. von (2011). Lehrerinnen und Lehrer zwischen Routine und Reflexion. In H. Berner & R. lsler (Hrsg.), Lehrer-Identität – Lehrer-Rolle – Lehrer-Handeln. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
Ditton, H. (2002). Lehrkräfte und Unterricht aus Schülersicht. Ergebnisse einer Untersuchung im Fach Mathematik. Zeitschrift für Pädagogik, 48 (2), S. 262–286.
Gudjons, H. (2007). Beruf: Lehrerin: Wandlungen – Widerspüche – Wunschbilder. Pädagogik, 59 (9), S. 6–10.
Helmke, A. (2009). Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität. Seelze: Kallmeyer.
Herzog, W. (1995). Reflexive Praktika in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung. Beiträge zur Lehrerbildung, 13 (3), S. 253–273.
Langmaack, B. & Braune-Krickau, M. (2010). Wie die Gruppe laufen lernt. Anregungen zum Planen und Leiten von Gruppen (8., vollst. überarb. Auflage). Weinheim: Beltz.
Luft, J. (1989). Einführung in die Gruppendynamik. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag.
Maturana, H. R. & Varela, F. J. (1987). Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Bern: Scherz.
Schön, D. A. (1983). The Reflective Practitioner. How Professionals Think in Action. New York. Basic Books.
Schön, D. A. (1987). Educating the Reflective Practitioner. San Francisco: Jossey-Bass.
Schulz von Thun, F. (2001). Miteinander reden. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Texte
1 «Glauben wir, was wir sehen, oder sehen wir, was wir glauben?»
1 «Glauben wir, was wir sehen, oder sehen wir, was wir glauben?»
Im folgenden Text wird der für die Unterrichtsbeobachtung wichtige Prozess der selektiven Wahrnehmung beschrieben, und es wird dargelegt, wie jeder Mensch seine Realität konstruiert.
‹ Wenn zwei Parteien z. B. in einem