mehr als nur ein «objektives» Registrieren und Verarbeiten dessen, was um uns herum geschieht. Es ist ein Vorgang im Menschen, bei dem manche der angebotenen Daten und Fakten ausgeblendet werden und anderes hinzugefügt wird, was wir schon von früher her in uns gespeichert haben.
Damit ist angedeutet, dass sich jeder Mensch seine eigene «Realität» konstruiert, sich sein eigenes Bild vom «realen» Geschehen schafft. Man nennt diesen Vorgang «selektive Wahrnehmung»: Wir können ein Geschehen in uns und um uns herum immer nur durch unsere Filter hindurch wahrnehmen, die ähnlich wie beim Fotografieren Bildteile ausblenden, erweitern, verkleinern und farblich verändern.
Selektive Wahrnehmung ist einerseits wichtig und notwendig für den Menschen. Angesichts der Unzahl an Informationen um uns herum und angesichts der Komplexität der Umwelt ist Auswahl notwendig, um handlungsfähig zu bleiben. Selektive Wahrnehmung reduziert die Komplexität und gibt uns ein Gefühl von Sicherheit, «richtig» zu handeln. Ohne die Fähigkeit zur selektiven Wahrnehmung würden wir in Informationen ertrinken.
Andererseits bedeutet die Tatsache der selektiven Wahrnehmung, dass sich jeder der begrenzten Gültigkeit seines Bildes von der Realität bewusst sein muss. Niemand sieht die Wirklichkeit objektiv. Er muss sich mit den Bildern anderer auseinandersetzen, wenn er mit diesen zu einem gemeinsamen Handeln kommen will. Er muss sich bewusst sein, dass die andere Sichtweise in der Regel auch Wahrheiten beinhaltet. Ohne Bereitschaft zu diesem Sich-infrage-stellen-Lassen und ohne Toleranz führt selektive Wahrnehmung zum Dogmatismus und zur Borniertheit.
Der Mensch kommt zu seinem Bild von der Realität, indem er Information aufnimmt, auswählt und interpretiert. Auf diese drei Aspekte wollen wir im Folgenden etwas näher eingehen. Dabei meinen wir mit Informationen alles, was der Mensch verbal oder nonverbal über seine Sinnesorgane empfangen kann.
Wahrnehmung ist, wie gesagt, mehr als nur das quasi fotografische Registrieren. Das ist nur der erste Teil davon, wobei wir schon bei dieser Analogie im Auge behalten sollten, dass auch ein Kamerafilm nur das deutlich aufzeichnen kann, was u. a. in den Grenzen des Bildausschnittes, der Qualität des Objektivs, der Verschlusszeit der Kamera, der Körnung und Empfindlichkeit des Films und in der ruhigen Hand des Bedieners liegt.
Die Analogie zur menschlichen Aufnahmefähigkeit liegt auf der Hand: Der Qualität des Objektivs könnten Beobachtungsfähigkeit, körperliche und geistige Fähigkeiten entsprechen. Die Lichtwellen repräsentieren die Sprache, in der uns eine Information angeboten wird und deren Vokabeln und Symbole wir kennen müssen. Die ruhige Hand des Kameramannes symbolisiert die Bedeutung der eigenen Ruhe und psychischen Befindlichkeit für unsere Fähigkeit, Information aufzunehmen. Was übersehen wir nicht alles in hektischen oder bedrohlichen Situationen?
Unsere bewusste Wahrnehmung bezieht jedoch selbst bei optimalen Aufnahmebedingungen nur einen Bruchteil der angebotenen Informationen mit ein. «Zum einen Ohr rein, zum anderen raus» ist die volkstümliche Umschreibung dafür. Innere Filter verursachen, dass die meisten von außen angebotenen Informationen die Stufe der bewussten Wahrnehmung nicht erreichen.
Diese WahrnehmungsfiIter bestehen zum einen in den konkreten körperlichen und geistigen (Un-)Fähigkeiten, wie sie uns angeboren oder angelernt wurden. Wir können nur bestimmte Frequenzen sehen oder hören. Wir können uns nur in bestimmten Sprachen verständigen. Wir können nur eine bestimmte Zahl von Informationen pro Zeiteinheit aufnehmen. Wir nehmen Dinge rascher wahr, die im Schwerpunkt unserer Aktivitäten liegen. Hier sehen wir mit dem geschulten Blick und besonders wacher Aufmerksamkeit Dinge, die anderen entgehen.
Eine andere Gruppe von wirksamen Filtern bilden unsere Werte, Normen, Sitten, die wir im Laufe unseres Lebens gelernt und akzeptiert haben. Man hat gelernt, was «einen angeht» und wo man seine Nase reinsteckt und wo nicht. Man hat seine Regeln für gut und schlecht, richtig und falsch: Vieles davon ist so verinnerlicht, dass wir kaum mehr bemerken, wie stark es unsere Wahrnehmung beeinflusst.
Werte, Normen und Sitten sind im Menschen stark emotional geerdet. Sie sprechen Gefühle an und damit eine dritte und gewichtige Gruppe von Wahrnehmungsfiltern: Gefühle wie Angst und Freude, Sympathie und Antipathie, Mut und Verzweiflung, Liebe oder Hass bilden eine wirksame Brille mit einer eigenen Optik und Farbgebung (von Rosarot bis Tiefschwarz …).
Wenn man jemanden mag, dann sieht man sein Tun in einem positiven Licht oder findet jedenfalls rascher Gründe dafür, warum das alles nicht so tragisch sei. Freude über einen Auftrag lässt einen leicht Probleme ungünstiger Vertragsbedingungen «übersehen». Angst kann wach machen oder starr. Häufig führt sie zur Verdrängung, zum Wegschieben oder Verniedlichen der angstauslösenden Information.
Das, was diese Wahrnehmungshürden übersprungen hat, wird weiter verändert: Es wird interpretiert. «Ich weiß nicht, was soll es bedeuten …»: Je nach Bedeutung, die ich einer Information gebe, wird meine Handlung anders aussehen.
Zunächst versuchen wir, Informationen in die uns vertrauten Muster (Erfahrungen, Wertvorstellungen, Regeln und Theorien) einzuordnen. Es wird gewissermaßen nachgeschaut, ob die Information in ein bekanntes Raster passt. Häufig wird sie so ergänzt oder so beschnitten, dass sie «passend» wird. Selbst Bruchstücke einer Beschreibung werden rasch zu einem Ganzen aufgebaut. Jemand mit schwarzen Haaren und Schnurrbart ist – natürlich ein Südländer. Wie schnell ist jemand aufgrund der ersten Eindrücke eingeordnet und wird dann relativ lange darin festgehalten, auch wenn er sich in der Zwischenzeit geändert hat. Erst wenn offensichtlich die Information von außen nicht mehr mit diesen Mustern der Erfahrung in Übereinstimmung zu bringen ist, beginnt ein – mitunter langer – Lernprozess, um neue Erklärungen und neue Handlungsmuster zu entwickeln.
Unser Vorrat an Mustern hilft uns, Informationen schnell inhaltliche und gefühlsbezogene Bedeutung und Priorität zu geben. Die Muster helfen uns, rasch zu erkennen, worum es sich handeln könnte, lang bevor wir alle Informationen haben. Das ist eine Überlebenschance (rasches, entschlossenes Handeln) und eine Gefahr (Fehlreaktion, unangemessene Fortschreibung überholter Erfahrungen) zugleich.
Die inneren Muster verbinden zudem Information mit Empfindungen: Etwas wird als schön, gefährlich, gut, hässlich etc. empfunden. Diese Empfindungen haben viel mit unserer Lebensgeschichte zu tun. Sie verbinden die aktuelle Information mit unseren früheren Erfahrungen, Vorstellungen und Urteilen und verändern sie damit. Es erinnert uns (vielleicht sogar unbewusst) jemand an eine Person, die wir von früher her kennen, und schon übertragen wir ähnliche Gefühle und Einschätzungen auf die neue Person.
Schließlich werden den Informationen Prioritäten verliehen: Etwas wird als wichtig oder unwichtig, sinnvoll oder unsinnig eingeordnet. Auch hier werden Werte und Normen eine wichtige Rolle spielen. Prioritäten sind jedoch auch stark von unseren eigenen Interessen und Bedürfnissen geprägt, die wir in Bezug auf eine Situation haben.
In diesem Sinne ist jeder eingebunden in Gemeinschaften, in Rollen, in Beziehungsgeflechte, aus denen heraus ein gewisser Druck in Richtung gleichgerichteter Wahrnehmung entsteht: Man nimmt wahr, was man wahrnehmen soll und gewohnt ist, wahrzunehmen.
Die hier skizzierten Faktoren und Zusammenhänge, die auf die individuelle «Konstruktion von Realität» einwirken, erinnern uns zunächst daran, dass hinter der Wahrnehmung immer komplizierte psychologische Vorgänge stehen. Ihre Veränderung ist heikel und übersteigt rasch einmal die Fachkompetenz des Laien. Die Tatsache, dass wir immer nur selektiv wahrnehmen, hat eine wichtige Schutzfunktion für den Einzelnen. Er lässt dadurch auch Dinge zugedeckt, die ihn zu sehr ängstigen oder mit denen er nicht recht fertig wird.
Wahrnehmung ist immer ein Prozess, an dem die eigene Person mit ihrer Lebensgeschichte beteiligt ist. In diesem Sinne reagiert der Mensch nicht auf «die Realität», sondern auf sein Bild davon. Dieses Bild ist der entscheidende Anstoß für unsere Reaktionen. Auf dieses Bild hin handeln wir, treten in Kontakt, urteilen und entscheiden. Wir reagieren auf Menschen so, wie wir sie sehen, und nicht darauf, wie sie wirklich sind. ›
Auszug aus: Langmaack, B. & Braune-Krickau, M. (2000). Wie die Gruppe laufen lernt: Anregungen zum Planen und Leiten von Gruppen (7. Auflage). Weinheim: Beltz, S. 104–107 © Psychologie-Verlags Union, Verlagsgruppe Beltz, Weinheim.